5. Kapitel

Emilia glaubte zu ersticken und sich übergeben zu müssen, als sie Annelies Worten lauschte. Übermächtig wurde der Drang, mit den Fäusten gegen den Deckel und die Wände der Truhe zu schlagen, nicht nur, bis sie sich aus dem bedrückenden Gefängnis befreit, sondern bis sie es kurz und klein gehauen hatte. Das Herz dröhnte, und dieses Dröhnen stieg ihr in den Kopf, bis er sich anfühlte, als würde er sich unnatürlich aufblähen, ja schier zerplatzen. Sie presste ihre Fingernägel so fest in die Daumenballen, dass sie bluteten, und dass die warme Flüssigkeit nicht nur über ihre Hände lief, sondern auch auf das Kleid tropfte, ihr schönes Hochzeitskleid mit den edlen Spitzen, war ihr gleichgültig. Es zählte nichts, nichts zählte mehr, außer Annelies Worten. Sie konnten nicht wahr sein, unmöglich konnten sie das! Sie musste sie falsch verstanden haben, weil in der Enge der Truhe ihre Sinne verrücktspielten! Ja, der Mangel an Luft gaukelte ihr all das nur vor!

Wieder überkam sie der Drang, wild um sich zu schlagen, doch je länger Annelie redete, desto kraftloser fühlte sie sich, und als die Frauen ihr Gespräch beendet und ihre Schritte sich entfernt hatten, blieb sie starr in der Truhe hocken. Annelies Worte schienen von den Wänden des kleinen Gefängnisses zu hallen, raunender, geheimnisvoller, als sie sie vorhin ausgesprochen hatte.

»Du hast recht«, hatte Annelie gesagt. »Cornelius ist in Wahrheit Manuels Vater. Aber er und Emilia sind trotzdem keine Geschwister. Emilia ist nicht Cornelius’ Tochter. Er hat Greta damals nur geheiratet, um ihren Ruf zu wahren.«

Barbara schien bereits einiges davon vermutet zu haben – jetzt war ihr aber doch ein überraschter Aufschrei entfahren. »Aber … aber wer …?«

Sie hatte die Frage nicht zu Ende bringen können.

»Wer wohl?«, hatte Annelie knapp zurückgefragt, voller Mitleid, aber auch voller … Ekel.

»Viktor«, hatte Barbara festgestellt, tonlos nun, doch in Emilias Erinnerung wurde dieser Name zum Schrei.

Sie ballte ihre Hände nicht länger zu Fäusten, sondern hielt sich die Ohren zu, als könnte sie auf diese Weise das Gespräch ungeschehen machen. Durch die abrupte Bewegung verrutschte der Deckel der Truhe; frische, kühle Luft traf ihr heißes Gesicht, aber sie merkte dieses Labsal kaum. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht aufzuschreien, schmeckte Blut. Sie presste ihre Augen zusammen, doch sie sah keine Finsternis, nur grelle Blitze. Alles begann sich zu drehen, schnell, immer schneller.

O mein Gott … Cornelius Suckow ist nicht mein Vater, sondern … sondern … sondern …

Es musste ein Traum sein, ein böser Traum. So wie sie heute Nacht von Greta geträumt hatte, dann aber erwacht und die Welt wieder in Ordnung gewesen war.

Doch inmitten ihres Entsetzens wartete ein nüchterner Gedanke: Jetzt verstand sie. Jetzt verstand sie alles.

Sie verstand, warum Gretas Augen flatterten, wenn sie von Viktor sprach, ihrem Bruder. Sie verstand, warum Cornelius ihr zwar stets ein guter Vater gewesen war, aber in den letzten Jahren immer häufiger und immer länger vor Greta geflohen war. Sie verstand auch den Streit zwischen Elisa und Greta, kurz bevor Greta das Haus angezündet hatte. Cornelius hätte sie, Greta, nie geliebt, hatte Elisa zu Greta gesagt. Nur aus Mitleid wäre er bei ihr geblieben.

Noch fester biss sie sich auf die Lippen, noch mehr Blut floss über ihr Kinn.

Sie wusste nicht, was schlimmer war: Dass ihr Vater, ihr geliebter Vater nicht ihr Vater war. Oder dass Greta mit dem eigenen Bruder …

Jetzt erst fiel ihr wieder ein, was Annelie noch zu Barbara gesagt hatte, und wieder traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag.

»Mein Gott!«, hatte Barbara gerufen. »Wenn ich geahnt hätte …«

»Du darfst es niemandem sagen!«, war Annelie ihr ins Wort gefallen. »Keiner darf es je erfahren! Viktor … Viktor hat Greta damals Gewalt angetan. Du weißt doch, er war nicht ganz richtig im Kopf. Er hat sie geliebt, und zugleich hat er sie gehasst. Hinterher hat er sich vor lauter Scham erhängt.«

»Mein Gott!«, hatte Barbara abermals ausgerufen.

»Cornelius hat damals ein großes Opfer erbracht, als er sich Gretas und ihres ungeborenen Kindes annahm. Er wollte ihr die Schande ersparen – und dem Kind eine Zukunft bieten. Barbara, versprich mir, du musst dieses Geheimnis für dich behalten! Emilia und Manuel könnten nicht glücklich werden, wenn die Wahrheit offenbar würde! Nur deswegen leben Elisa und Cornelius nicht hier – damit nie auch nur der Verdacht entsteht, Manuel könnte sein Sohn sein.«

»Aber … aber machst du dir keine Sorgen? Ich meine, das alles bedeutet, dass Emilia aus Inzest hervorgegangen ist. Sie … sie könnte krank sein. Oder genauso verrückt wie Viktor. Auch Greta war nicht ganz normal.«

»Greta haben die Umstände zu dem gemacht, was sie ist«, hatte Annelie erklärt. »Und Emilia ist ein starkes, junges, gesundes Mädchen. Ich kenne sie von klein auf – man … man merkt es ihr nicht an.«

»Aber wenn sie mit Manuel Kinder bekommt? Denkst du nicht, dass …?«

»Das liegt in Gottes Hand.«

Nach einem langen Schweigen hatte Barbara versprochen: »Ich werde nichts sagen. Ganz gewiss werde ich nichts sagen.«

Emilia wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seitdem die Frauen das Zimmer verlassen hatten, ob nur wenige Minuten oder gar Stunden. Immer noch öffnete sie die Truhe nicht ganz, schlug mit dem Kopf stattdessen gegen den Deckel, bis ihr der Schädel brummte und der eine Schmerz den anderen betäubte.

Als sie sich schließlich doch erhob, schien der Körper nicht ihr zu gehören. Alle Glieder fühlten sich taub an, begannen dann, als Blut hineinfloss, zu kribbeln, als würde Ungeziefer darüber laufen. Sie achtete nicht darauf, sondern stürzte die Treppe hinunter und lief ins Freie. Dass sie Barbara und Annelie in die Arme laufen oder ein anderer sie in dem Hochzeitskleid sehen könnte, kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie setzte nur Fuß vor Fuß, schneller, immer schneller, ohne zu wissen, wohin es sie eigentlich trieb. Sie kam erst wieder zu sich, als sie im Wald war – stehen bleiben konnte sie jedoch auch dann nicht. Der Saum des Kleides blieb an einer Wurzel hängen, aber sie lief weiter und achtete nicht darauf, dass der feine Stoff zerriss. Äste schienen nach ihr zu greifen, ihr Haar und die Spitzen des Kleides verhedderten sich darin, doch sie ließ sich nicht aufhalten. Ihr Gesicht, eben noch glühend heiß, wurde im Schatten der Bäume kalt, der Schweiß trocknete, auch das Blut, das ihr über das Kinn getropft war. Sie hatte nicht einmal versucht, es fortzuwischen, tat es auch jetzt nicht. Sie rannte, rannte und rannte, zunächst durch einen der Buchenwälder, zwischen denen vereinzelt Myrten, Lorbeer- und Lebensbäume wuchsen, später an den riesigen Araukarien vorbei, die sämtliches Licht abschnitten. Einmal lief sie in eine Schlingpflanze mit roten Blüten. Wie eine Schlange schien sich jene um ihren Leib zu winden – zu Fall brachte sie sie jedoch nicht. Sie riss sich los, sah, dass das Kleid nun grün und braun befleckt war, doch es war ihr gleich.

Schließlich erreichte sie eine Lichtung, die von wilden Quittenbäumen gesäumt war. Vögel sangen ein hohes, melodisches Lied, das Moos war weich, die Büsche saftig grün, die kleinen Blüten, die darauf wucherten, rot und blau und gelb.

Ja, die Welt war bunt und lebendig, das Leben, das sich den Winter über in der Tiefe des Erdreichs verkrochen hatte, brach allerorten hervor. Doch sie selbst fühlte sich wie tot. Sie war sich sicher – ihre Augen waren so leer und starr wie die von Rita, als sie sie damals gefunden hatte.

Endlich blieb sie stehen und blickte keuchend an sich herab. Ihre Füße waren nicht blutig wie die von Rita, aber ihr Kleid so zerrissen und schmutzig wie deren Gewänder.

Ihr Hochzeitskleid. Sie hatte ihr Hochzeitskleid ruiniert. Trotzdem fühlte sie kein Bedauern darüber – nur Befriedigung, dass auch sie etwas zerstören konnte, nachdem ihr Leben zerstört worden war.

Und das war es, ohne Zweifel. In ihrem Mund schmeckte es gallig ob all der bitteren Wahrheiten, vor denen sie nicht hatte davonlaufen können.

Sie war nicht Cornelius Suckows Tochter.

Sie war das Kind zweier Geschwister.

Ein ungewolltes Kind. Nicht nur aus Inzest, sondern obendrein aus Vergewaltigung hervorgegangen. Ihr wahrer Vater, nein, ihr Onkel, hatte sich gleich danach erhängt.

Als wäre es nicht schlimm genug, mit diesen Gedanken fertig zu werden, hörte sie wieder und wieder Barbaras Stimme, wie sie fragte: »Aber wenn sie mit Manuel Kinder bekommt? Denkst du nicht, dass …?«

Dass sie verrückt sind. Dass sie krank sind. Dass sie missgebildet sind.

Schwindel überwältigte Emilia. Sie lehnte sich an einen Baumstamm und umklammerte ihn mit beiden Händen, so fest, dass die Rinde ihre Handfläche aufriss. Der Schwindel ließ ein wenig nach, doch nun übermannte sie Übelkeit. Sie musste würgen, und gleichzeitig schrie und weinte sie. Nur mehr mit einer Hand hielt sie sich am Baumstamm fest, als sie sich übergab, bis nur mehr gelblicher, bitterer Schleim kam, der ihr Kleid noch mehr befleckte. Schließlich sank sie neben dem Baum nieder, lehnte ihren Kopf daran, spürte, wie etwas auf ihren Kopf rieselte, vielleicht Rinde, vielleicht Harz, vielleicht Blätter.

Sie regte sich nicht, hockte über Stunden da. Ihre Tränen versiegten, der bittere Geschmack in ihrem Mund verging. Sie fror.

Später, sie wusste nicht, wie viel später, wurde sie von Rita gefunden.

Sie musste sie längere Zeit gesucht haben, denn als sie auf sie zugestürzt kam, wirkte sie erschöpft und ihr Gesicht angsterfüllt. Doch der Blick ihrer schwarzen, immer irgendwie traurigen Augen glänzte und war lebendig. Ganz im Gegensatz zu ihrem. Nun war sie, Emilia, die Tote – nicht Rita.

»Das schöne Kleid!«, schrie Rita entsetzt. »Was hast du nur mit deinem schönen Kleid gemacht?«

Emilia sah sie an und zugleich durch sie hindurch. »Ich brauche es nicht mehr«, murmelte sie und erkannte die eigene Stimme nicht. Sie klang wie die einer alten Frau, einer uralten Frau, abgekämpft, enttäuscht, resigniert. Die Stimme einer Frau, die sich nichts mehr vom Leben erwartet, nichts mehr erwarten darf. »Ich kann ihn nicht mehr heiraten«, fügte sie hinzu.

Rita kniete sich neben sie, ergriff ihre Hände und drückte sie. »Wovon redest du?«

»Es geht nicht«, sagte Emilia mit erstickter Stimme. »Es geht einfach nicht mehr. Manuel hat etwas Besseres als mich verdient. Ich muss fort.«

Das Rufen der Vögel wurde schriller. Im Unterholz raschelte es. Wahrscheinlich war es ein Tier, das floh.

Rita öffnete den Mund, schien etwas fragen zu wollen, versiegelte dann jedoch ihre Lippen. Sie wusste zwar nicht, was geschehen war, aber eines stand wohl ganz deutlich in Emilias Zügen zu lesen: dass ihre ganze Welt binnen weniger Stunden zusammengestürzt war wie ein morsches Haus. Und dass man aus dem nutzlosen Bretterhaufen nie wieder ein neues errichten konnte.

Wer wusste besser, wie sich das anfühlte, als Rita?

Das Mapuche-Mädchen beugte sich vor, umarmte Emilia, schüchtern zuerst, dann fester. Rita bedrängte sie nicht, ihr mehr zu sagen, stellte nur schlicht fest: »Wenn du fortgehst, gehe ich auch. Ich werde dich begleiten … überallhin.«

Es war kein echter Trost, aber dass sie in dieser schwarzen Stunde, der schwärzesten ihres Lebens, nicht allein war, schenkte Emilia zumindest einen Funken Wärme.


Als Manuel heimkehrte, hatte Emilia das zerrissene, verdreckte Kleid längst abgelegt. Sie hatte sich ihre Haare gekämmt und geflochten und ihr Gesicht gewaschen. Das Kleid hatte sie wieder in die Truhe gelegt, und sie hoffte, dass Annelie es nicht finden würde – nicht, bevor sie ihren Plan umgesetzt hatte.

Emilia erwartete Manuel vor dem Haus und verstellte ihm den Weg über die Schwelle. Zunächst bemerkte er es gar nicht, weil er so damit beschäftigt war, über den heutigen Tag zu reden. Er war von Osorno zurückgekommen, einem größeren Ort einige Stunden von ihrer Siedlung entfernt, wo er frische Butter verkauft hatte, und wie immer waren ihm auf dem Rückweg viele Ideen eingefallen, wie er den Handel mit Milchprodukten und Fleisch verbessern und noch mehr Geld verdienen könnte.

Emilia war erleichtert, dass er so viel redete und ihm deshalb entging, wie blass sie war, wie angespannt und zittrig. Einzig, dass sie ihm fortwährend den Weg ins Haus versperrte, irritierte ihn dann doch.

»Gibt es einen Grund, warum du hier draußen auf mich gewartet hast?«, fragte er verwirrt.

»Können wir in den Wald gehen?«, gab sie nur zurück.

»Was ist denn passiert?«

Sein Blick wurde wacher. Bis jetzt war es ihr gelungen, an ihm vorbeizusehen, nun blickte sie ihm in die Augen und hatte das Gefühl, die Liebe nicht ertragen zu können, die sie für ihn empfand. Manchmal hatte es sie gekränkt, dass er ständig über seine Geschäfte sprach und damit den Anschein gab, dass es wichtiger war, reich als mit ihr glücklich zu werden. Doch in diesem Augenblick dachte sie nicht daran, dachte nur, dass Manuel ihr immer alles gewesen war – der Spielkamerad von Kindesbeinen an, der Vertraute, mit dem sie über seine gleichaltrigen Cousinen lästern konnte, der Verbündete gegen die strenge Großmutter. Er war der Mann, der sie als Erster geküsst hatte – einst in einer Lichtung im Wald –, und der Mann, mit dem sie das bislang größte Abenteuer ihres Lebens bestanden hatte: die Reise nach Valparaíso. Er war ihr Beschützer und gleichzeitig ein kleines, freches Kind, das sie oft einer strengen Mutter gleich maßregeln musste. Wie sollte sie auch nur einen Tag ohne ihn leben?

»Also, was ist passiert?«

Kurz lag es ihr auf der Zunge, ihm alles zu erzählen, und die Entscheidung, wie sie mit dem schrecklichen Wissen um ihre Herkunft weiterleben sollten, ihm zu überlassen. Doch stattdessen packte sie ihn am Arm und zog ihn mit sich Richtung Wald. Er folgte ihr ungewohnt schweigend. Dass sie so bestimmt, so fordernd vor ihm herschritt, ließ all seine Fragen verstummen. Ein zweites Mal an diesem Tag übertrat sie die Rodungsgrenze. Zielstrebig führte sie Manuel zu jener Lichtung, wo sie schon früher so viel Zeit verbracht hatten, wo sie sich zum ersten Mal geküsst hatten und wo er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle.

Erst dort blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. Sie wagte kein weiteres Mal, ihm in die Augen zu sehen, sondern schloss hastig die ihren, neigte sich vor und küsste ihn auf den Mund. Nie hatte sie es so gierig, so verlangend getan.

Die ersten Küsse, die sie getauscht hatten, waren immer etwas unsicher gewesen und hatten sie verlegen gemacht. Lange hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, nicht abschütteln können, und das Erregende an diesen Küssen lag vor allem am Nervenkitzel, nicht an der Lust an seiner Nähe. Später war es selbstverständlicher geworden, Manuel zu küssen; der Geschmack seiner Lippen, seiner Zunge war ihr vertraut geworden, der feste Griff, mit dem er sie an sich drückte, während sie durch sein Haar fuhr, in dem immer irgendein Zweiglein hing, sein muskulöser Körper, wenn er sich an ihren presste. Doch nie hatte sie ihn so voller Sehnsucht geküsst wie heute Abend, nie hatte sie das Gefühl gehabt, sie müsse sich an seinen Leib förmlich festkrallen und dürfte ihn nie wieder loslassen. Sie vergaß beinahe zu atmen.

Nach einer Weile löste er sich mit einem Ausdruck der Verwirrung. »Hast du mich so sehr vermisst?«, fragte er halb spöttisch, halb liebevoll. »Diesmal war ich doch nur einen Tag fort.«

»Halt mich fest!«

Er runzelte seine Stirn ob ihres verzweifelten Untertons, doch dann hielt er sie, küsste sie, strich ihr über das Haar. Tränen stiegen in ihr hoch, aber sie schluckte sie mit aller Macht herunter. Morgen konnte sie weinen, morgen, wenn sie fortgehen würde, wenn das Leben, wie sie es kannte, ein für alle Mal vorbei war. Morgen würden Kummer und Schmerz sie fast wahnsinnig werden lassen, und selbst wenn sie beides überleben würde, würde sie doch nie wieder die Alte sein, die sorglose, unschuldige, fröhliche Emilia.

Aber jetzt war dieses Morgen noch nicht angebrochen. Wenigstens ein paar Stunden wollte sie dem Schicksal abringen – Stunden, in denen sie vergessen wollte, dass ihr ganzes Leben auf eine Lüge gebaut, ihr Vater nicht ihr Vater und dass sie aus Inzest und Gewalt hervorgegangen war. Stunden, in denen sie mit Manuel zusammen sein konnte. Vielleicht würde sie nie wieder in ihrem Leben einen Mann halten und küssen, vielleicht nie einen Ehemann, eine Familie haben.

Aber ihn hatte sie. Jetzt.

Kurz waren seine Küsse sanfter, zärtlicher geworden, jetzt presste sie wieder seinen Mund auf seinen, als wolle sie all sein Leben aus ihm heraussaugen.

»Was … was ist denn heute mit dir los, Emilia?«, brachte er zwischen den Küssen hervor.

»Du warst so oft weg in letzter Zeit.«

»Hast du dich vernachlässigt gefühlt?«

»Vielleicht ein bisschen.«

»Aber du weißt doch, dass ich dich liebe, dass ich dich immer geliebt habe. Kannst du dich noch erinnern, als …«

Sie stand still, küsste ihn nun nicht mehr, sondern legte ihren Kopf auf seine feste, warme Brust, um seinem Herzschlag zu lauschen. Sie gab sich ganz dem Zauber des »Erinnerst du dich noch?« hin, mit dem er ihre Kindheit, ihre Jugendzeit heraufbeschwor. Ewig schien diese zurückzuliegen. Bis heute hatte sie sich jung und hoffnungsvoll gefühlt, doch jetzt war ihr, als läge ihr ganzes Leben hinter ihr. Und so war es ja auch. Das Leben der Emilia Suckow war unwiderruflich zu Ende. Jetzt musste sie als Emilia Mielhahn weiterleben.

Sie erschauerte. Manuel umarmte sie. »Ist dir kalt? Sollen wir wieder zurückgehen?«

»Nein, mir ist nicht kalt. Und ich will auch nicht zurückgehen. Ich will …« Sie brach ab. »Ich will dich.«

Er begriff nicht, was sie meinte, bis sie ihn zu einem der Baumstämme drängte und sich so fest an ihn presste, dass er sich kaum rühren konnte.

»Emilia …«

Wieder stiegen Tränen in ihr hoch, wieder schluckte sie sie herunter. Mit gleicher Entschlossenheit begann sie, an seinem Hemd zu zerren, die nackte Haut darunter zu betasten. Das hatte sie noch nie getan.

»Emilia …«, sagte er wieder, heiser, rauh. »Emilia, was tust du denn?«

Sie hielt die Augen geschlossen, tastete sich blind über seinen Körper, so vertraut und zugleich fremd, weil sie diese letzte Nähe niemals eingefordert hatte. »Wir heiraten bald«, sagte sie rasch. »Warum sollen wir noch warten?«

»Eben darum – weil wir bald heiraten!«

»Ach weißt du, eigentlich ist es mir nicht so wichtig, dass wir vor allen anderen als Mann und Frau gelten. Dass wir beide zusammengehören, das habe ich immer gewusst.«

Er wollte noch etwas sagen, doch da ließ sie ihren Kopf vorschnellen, küsste sein Ohrläppchen. Er wurde glühend rot und brachte kein Wort mehr hervor.

Danach ging alles ganz schnell. Sie hatte sich fest vorgenommen, diese gestohlene Stunde ganz intensiv zu erleben, damit sie von der Erinnerung daran ihr restliches Leben zehren konnte. Feierlich sollte sich ein jeder dieser Augenblicke anfühlen, bedachtsam erobert und genossen. Doch nun schien ihr Langsamkeit fehl am Platz. Sie hatte das Gefühl, dass sie für kurze, sehr kurze Zeit an einem reichgedeckten Tisch saß, und wenn sie nicht so schnell und so viel wie möglich von den Speisen aß, würde sie sie nie wieder kosten dürfen.

Also nahm sie alles. Sie streifte ihm das Hemd über die Schultern, sah, wie sich Gänsehaut über seinen muskulösen Oberkörper ausbreitete, strich darüber.

Fragend blickte er sie an, schien immer noch nicht recht zu begreifen, was sie wollte. Sie wusste es ja selbst nicht genau, wusste nur, dass sie nicht darüber nachdenken konnte – denn dann wäre ihr auch wieder bewusst geworden, dass sie Emilia Mielhahn war, nicht Emilia Suckow. Ihr Geist war so lahm, dass auch Scheu und Skrupel und Unbeholfenheit keine Macht über sie gewannen. Kaum war sein Oberkörper entblößt, zog sie an ihrer Bluse, öffnete sie, legte seine Hände auf ihre nun nackte Brust.

In seinem Blick leuchtete etwas auf, was alle Fragen vertrieb – Lust, Begehren und gleiche Aufregung wie bei ihrem ersten Kuss, als sie sich wagemutig an eine bis dahin unüberschrittene Grenze herangetastet hatten. Ob das Blut ihm ebenso durch seine Adern raste wie ihr, das Herz ihm bis zum Hals schlug, die Kehle eng wurde? Letzteres wohl nicht, denn bei ihr war es die Traurigkeit, die es bedingte und die ihm fremd war … noch. Morgen würde er auch traurig sein, morgen, wenn sie ihn verlassen musste, wenn sie …

Sie schob den Gedanken daran mit aller Macht beiseite. Das Morgen zählte nicht, es zählte nur, sich jedes Fleckchen seiner Haut einzuprägen, den Geschmack seiner Lippen und seiner Haut. Es zählte, das fremde Gefühl auszukosten, als seine rauhen Hände erst ihre Brust berührten, dann den nackten Bauch, wie sie das empfindliche Fleckchen um ihren Nabel streichelten, schließlich, als sie ihren Rock hob, die Innenseite ihrer Schenkel entlangfuhren. Wortlos löste er sich vom Baumstamm. Wortlos sanken sie ins weiche Moos.

Sie streifte seine Hosen ab, strich über seine behaarten Beine, packte halb zärtlich neckend, halb forschend zu. Als er endlich auf ihr lag, grub sie ihre Nägel in seinen Rücken. Sein Gesicht war kurz ebenso schmerz- wie lustverzerrt. »Sollen wir wirklich …?«

Als Antwort öffnete sie ihre Beine, zog ihn auf sich hinab, fühlte sein heißes Fleisch auf ihrem und wie es langsam in ihre feuchte Höhle drang.

Sie hörte ihn aufstöhnen, blieb aber selbst stumm. Nicht einmal dieser kurze, brennende Schmerz ließ sie aufmucken, und auch als sein Stöhnen lauter wurde, er schließlich aufschrie, konnte sie nicht darauf antworten. Die Kehle war wie ausgedörrt.

Nun, da es vorüber war, wusste sie nicht genau, was sie überhaupt gefühlt hatte – vielleicht die gleiche Lust, die ihn nun erschöpft auf den Boden sinken ließ, vielleicht rein gar nichts, weil ihr Körper, ihr fremder Körper, ihr so wenig gehörte wie ihr Name. In jedem Fall war es zu wenig, viel zu wenig, um den Rest ihres Lebens davon zu zehren.

Nun endlich kroch ein Laut aus ihrer Kehle, ein Schluchzen, trocken und erstickt.

»Habe ich dir weh getan?«, rief er entsetzt. Er stützte sich mit den Händen auf und suchte ihren Blick. »Weinst du darum? Bereust du es?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich weine, weil es so schön war … mit dir.«

»Schön war?«, lachte er. »Aber es beginnt doch erst!«

»Ja«, murmelte sie, »es beginnt erst …«

Sie zog sein Gesicht zu ihrem herab und rieb ihre Haut an seinen Bartstoppeln, bis sie glühte, riss ungebärdig an seinem Haar, bis er lachend darüber klagte. Als sie sich später erhoben und ankleideten, fühlte sie Kälte, sonst nichts mehr.


Annelie von Graberg hatte meist einen leichten, unruhigen Schlaf. Für gewöhnlich erhob sie sich schon lange vor Sonnenaufgang von ihrem Bett. Am liebsten hätte sie dann sofort zu kochen begonnen, doch die Familie beschwerte sich über Essensgerüche, die zur nachtschlafenden Tageszeit nicht appetitanregend, sondern lästig wären. Ins Freie gehen mochte sie in der Finsternis allerdings auch nicht, so dass sie meistens am großen Tisch saß und auf das Morgengrauen wartete, über das eigene Leben nachsinnend und das der Menschen, die sie liebte. Nur an diesem Tag, ausgerechnet an diesem, wie sie sich später über Wochen, ja Monate klagend vorhielt, hatte sie verschlafen.

Als sie die Augen aufschlug, kitzelten Sonnenstrahlen ihr Gesicht. Ruckartig fuhr sie hoch und blickte aus dem Fenster. Über dem See lag noch Frühnebel, aber eben brachen die ersten Kinder zur Schule auf. Merkwürdig, dass sie so lange geschlafen hatte! Merkwürdig aber auch, dass Emilia sie nicht geweckt hatte! Und warum war es so still im Haus? Lu und Leo waren wieder mal in den Wäldern, aber Emilia würde doch gewiss Kaffee kochen, und das ging bei ihr niemals ohne Lärm vonstatten, vor allem nicht, seit das Mapuche-Mädchen Rita bei ihnen lebte, mit dem Emilia immer etwas zu tuscheln hatte.

Annelie zog sich die Schlafhaube vom Kopf und kleidete sich rasch an.

»Emilia? Rita?«

Keine Antwort. Ihre Zimmer waren leer. Als sie über die Treppe nach unten stieg, erwartete sie eine kalte Stube. Niemand hatte Feuer gemacht und Kaffee aufgesetzt. Stirnrunzelnd wollte sie es schon selbst tun, als sie irritiert stehen blieb. Vorhin … als sie beim Vorbeigehen kurz in das Zimmer der Mädchen gespäht hatte … da war ihr etwas aufgefallen …

Ihr Geist war lahm, doch dann fiel es ihr wieder ein. Nicht nur, dass die Betten leer waren – obendrein fehlte etwas. Auf der kleinen Kommode neben der Waschschüssel lagen für gewöhnlich ein Kamm aus Elfenbein und ein kleines Döschen Puder. Cornelius hatte Emilia einst beides von einer seiner Handelsreisen mitgebracht. Den Puder verwendete sie nie, den Kamm hingegen schon – und Annelie hätte schwören können, dass dieser Kamm vorhin nicht dort gelegen hatte. Hastig stieg sie wieder nach oben. Kein Kamm. Kein Puder. Ein Aufschrei entrang sich ihrer Kehle.

Sie ahnte Schlimmes, als sie eine der Truhen öffnete, erwartete schon, dass sie klaffende Leere erwarten würde. Doch die Truhe war nicht leer – Emilias Hochzeitskleid lag darin, völlig zerrissen und verdreckt.

»Lieber Himmel!«

Sie stürmte wieder nach unten, stolperte beinahe über eine Stufe. »Emilia! Rita!«

Als sie die Stube erreichte, stieß sie beinahe mit Manuel zusammen.

»Manuel, hast du …«

Die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Gestern Abend, als er und Emilia von einem Spaziergang im Wald zurückgekehrt waren, hatten seine Augen geleuchtet, und seine Wangen waren errötet gewesen. Er hatte noch mehr und noch schneller gesprochen als sonst. Nun aber war er leichenblass, der Blick starr und die Stirn gerunzelt.

Erst jetzt sah sie, was er in den Händen hielt.

Einen Brief.

»Weißt du, was das bedeutet?« Er schrie sie beinahe an.

Mit zitternden Händen griff Annelie nach dem Bogen Papier und überflog die Zeilen. Sie hatte Emilias Handschrift sofort erkannt, spitz und akkurat. Nur wenige Worte hatte sie geschrieben, und für Manuel mussten sie verwirrend klingen, so voller rätselhafter Andeutungen, die Emilia nicht ausführte. Doch Annelie begriff sofort.

Ihre Hand fuhr zu ihrem Herzen, das sich plötzlich hart und kalt wie ein Stein anfühlte. Das Blut sackte in ihre Beine.

»Mein Gott!«, stieß sie aus.

Wie sollte sie das nur Elisa erklären? Und Cornelius?

»Sie kann doch nicht einfach gehen!«, schrie Manuel auf, nicht länger wütend, sondern verzweifelt. Er wirkte wie ein kleines Kind, nicht länger wie ein tatkräftiger Mann. »Warum verlässt sie mich? Warum verlässt sie uns alle? Es ist doch nicht möglich …«

»Das ist … das ist eine lange Geschichte …«, stammelte Annelie hilflos. Dann zog sie ihn an sich, um es ihm zu erklären – und um ihn zu trösten.

Jenseits von Feuerland: Roman
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