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Als Hali Kasim das Ende des Luftschachts erreichte, war er mit einer dicken Schicht Staub bedeckt, seine Schultern und Knie schmerzten nahezu unerträglich. Er nahm sich vor, in Zukunft mehr Zeit im Fitnesszentrum der Oregon zu verbringen. Schließlich hatte er gesehen, wie mühelos Eddie durch den Schacht geklettert war. Dabei war der ehemalige CIA-Agent fast zehn Jahre älter als er.

Der Boden war mit Gipstrümmern und getrockneten Schichten von Taubenmist übersät. Lev Goldman ließ sich den letzten Meter hinunter. Schweiß hatte Rinnen in die Schmutzschicht auf seinem Gesicht gegraben – und der Staub, der seinen Bart bedeckte, ließ ihn zwanzig Jahre älter aussehen.

»Sind Sie okay?«, fragte Hali keuchend und stützte sich mit den Händen auf seine Knie.

»Vielleicht hätte ich mir einen besseren Fluchtweg ausdenken sollen«, gab der Israeli zu und hatte Mühe, in der stauberfüllten Luft nicht zu husten. »Kommen Sie. Hier entlang.«

Er führte Kasim zur Rückseite des Gebäudes und zu einer Stelle, wo die Wandbretter dicht über dem Boden durchgesägt worden waren. Gemeinsam versetzten sie den Brettern heftige Fußtritte. Anfangs erzeugten sie mit ihren Bemühungen aber lediglich Risse im Gipsverputz. Doch dann brachen einige Stücke weg. Mit den Händen entfernte Goldman weitere Gipsbrocken, bis die Öffnung groß genug war, um hindurchzukriechen.

Sie gelangten in eine Tiefgarage. Sie war so gut wie leer. Nur wenige Automobile, die vorwiegend von den Ehefrauen gefahren wurden, die im Haus wohnten, standen auf den ihnen zugewiesenen Parkplätzen. Wären ältere Modelle darunter gewesen, hätte Hali in Erwägung gezogen, eins von ihnen kurzzuschließen, aber sie waren alle noch ziemlich neu und wahrscheinlich mit Alarmanlagen oder Wegfahrsperren ausgerüstet.

»Warten Sie an der Ausfahrt, und bleiben Sie in Deckung«, sagte er. »Unser Wagen steht gleich um die Ecke.«

So gut es ging klopfte sich Hali den Staub ab, während er die Rampe in den grellen Sonnenschein hinauftrabte. Auf der Straße herrschte das nackte Chaos. Die Schüsse aus dem Hubschrauber hatten die Passanten gezwungen, Schutz zu suchen. Orangen aus dem Gemüseladen lagen auf dem Bürgersteig, weil jemand in seiner Hast die Auslage des Ladens zum Einsturz gebracht hatte. Die Stühle, auf denen die alten Backgammonspieler gesessen hatten, waren umgekippt. Die ersten Polizeiwagen trafen soeben ein.

Hali brauchte keine besonderen schauspielerischen Fähigkeiten, um einen verängstigten Libyer überzeugend darzustellen. Er erreichte ihren Mietwagen und öffnete die Tür. Sirenengeheul brachte die Luft zum Schwingen und überdeckte das dumpfe Flappen der Rotorblätter.

Der Motor des Fiats sprang schon beim ersten Startversuch an. Halis Hände waren derart verschwitzt, dass sie vom Lenkrad abrutschten, und er touchierte die hintere Stoßstange des vor ihm geparkten Fahrzeugs, dessen Diebstahlalarm in den Chor der schrillen Polizeisirenen einstimmte.

Der Erste der Polizeibeamten, bekleidet mit einem schwarzen Kampfanzug, schwang sich gerade aus einem Mannschaftswagen. Innerhalb von Sekunden hätten sie den Block umstellt. Doch niemand schien sich für etwas anderes zu interessieren als für den Eingang des Hauses. Eddies Ablenkungsmanöver hatte offenbar seinen Zweck erfüllt. Sie glaubten, den Mann in die Enge getrieben zu haben, und verzichteten auf die vorschriftsmäßige Vorgehensweise.

Hali lenkte den Fiat um die Ecke, verlangsamte die Fahrt, bremste jedoch nicht für Lev Goldman, der sich auf den Beifahrersitz warf, und fädelte sich dann in den Verkehr in der nächsten Seitenstraße ein.

Jeder Block, den sie hinter sich ließen, vergrößerte den Bereich um ein Mehrfaches, den die Polizei absuchen musste, um sie zu finden. Nach sechs Ampeln fühlte sich Goldman sicher genug, um sich aufzurichten und einen Blick über das Armaturenbrett zu werfen.

»Halten Sie da drüben an der Tankstelle«, befahl er.

»Ist es so dringend?«

»Nicht deswegen. Wir müssen die Plätze tauschen. Es ist offensichtlich, dass Sie sich hier nicht auskennen und nicht wie ein Einheimischer fahren. Hier hält sich niemand an die Verkehrsregeln.«

Hali lenkte den Wagen auf das Tankstellengrundstück und schob den Schalthebel in Park-Position. Lev blieb für einen Augenblick still sitzen, weil er erwartete, dass Hali ausstieg, damit er auf den Fahrersitz rutschen konnte. Stattdessen aber musste er aussteigen, und Kasim turnte auf den Beifahrersitz.

Lev lachte bitter, während er den Gang einlegte. »In einer Situation wie dieser schreibt das Mossad-Lehrbuch vor, dass der Fahrer das Fahrzeug verlassen soll.«

Kasim musterte ihn skeptisch von der Seite. »Tatsächlich? Es nach Ihrer Methode zu tun bedeutet, dass für einige Sekunden niemand am Lenkrad sitzt. Sie sollten mit Ihren Ausbildern mal ein ernstes Wort reden.«

»Unwichtig.« Lev grinste, diesmal sichtlich amüsiert. »Wir haben es ja geschafft.«

Während sie das Viertel, in dem seine Geliebte wohnte, verließen, fragte Lev: »Entschuldigen Sie, aber wie lautete noch Ihr Name?«

»Kasim. Hali Kasim.«

»Das ist ein arabischer Name. Woher kommen Sie?«

»Aus Washington, D. C.«

»Nein. Ich meine Ihre Familie. Von wo stammt sie?«

Sie nahmen, wie Hali vermutete, eine Abkürzung durch eine Gasse zwischen zwei hohen, aber unauffälligen Gebäuden. »Mein Großvater ist aus dem Libanon ausgewandert, als er noch ein Kind war.«

»Sind Sie Muslim oder Christ?«

»Welchen Unterschied macht das?«

»Wenn Sie ein Christ wären, würde mir dies nicht so viel ausmachen.«

Die Detonation war nur ein knapper scharfer Knall in der engen Fahrgastzelle des Fiats. Ein Nebel feiner Blutstropfen legte sich auf das Fenster der Beifahrerseite, als die Kugel aus Halis Brustkorb austrat. Goldman feuerte seine schallgedämpfte Pistole ein zweites Mal ab, diesmal im selben Moment, als der Wagen durch ein Schlagloch rollte. Die Kugel ging völlig daneben und traf das Seitenfenster, das zu einer Kaskade winziger Glassplitter zertrümmert wurde.

Hali war von dem Angriff derart überrascht worden, dass er nichts unternommen hatte, um den zweiten Schuss zu verhindern. Seine Brust fühlte sich an, als sei ein glühendes Eisen von einer Seite zur anderen hindurchgestoßen worden. Dann spürte er eine heiße Nässe, die hinter dem Hosenbund in seinen Schoß sickerte.

Er griff nach der Pistole, als sie vom Rückstoß hochzuckte, und zwang Goldman so, das Lenkrad loszulassen und einen unbeholfenen Boxhieb auszuführen, der die Eintrittswunde traf. Hali schrie vor unbeschreiblichem Schmerz auf, und der heiße Lauf der Pistole rutschte ihm aus der Hand.

Anstatt sich auf einen Kampf einzulassen, den er unmöglich gewinnen konnte, benutzte er seinen Ellbogen, um die Türverriegelung zu öffnen, und ließ sich aus dem Wagen fallen. Ihr Tempo betrug etwa fünfundzwanzig Meilen pro Stunde – er landete auf seinem Gesäß, daher geriet er nicht ins Rollen, sondern rutschte über das Pflaster und büßte einiges an Haut ein.

Die Bremslichter des Fiats leuchteten augenblicklich auf, aber als der Wagen zum Stehen gekommen war, hatte Hali seine Pistole bereits aus dem Knöchelhalfter gezogen. Er feuerte, sobald er Goldmans Kopf aus dem Wagen auftauchen sah. Die Kugel ging daneben, daher feuerte Hali abermals und zielte diesmal auf den Wagen. Glas splitterte. Der Rückstoß der Pistole kam ihm vor, als hätte er einen Tritt erhalten, aber er schoss weiter. Drei weitere Kugeln trafen den Wagen, während andere Projektile Putzbrocken aus der Häuserwand dahinter sprengten. Der Mann, den Hali für einen israelischen Agenten gehalten hatte, entschied, dass es das Risiko nicht lohnte, ihn zu töten.

»Wären Sie an der Tankstelle ausgestiegen, wäre ich einfach davongefahren«, rief er noch. Die Tür des Fiats schlug zu, und der Wagen entfernte sich mit quietschenden Reifen.

Hali fiel nach hinten auf den Rücken, während sich seine Brust hob und senkte und das Blut aus Eintritts-und Austrittswunde herauspumpte. Er riss sein Hemd hoch, um sich den Schaden anzusehen. Winzige Blutbläschen zerplatzten im Einschussloch auf der rechten Seite. Auch ohne Doc Huxleys Diagnose wusste er, dass seine Lunge getroffen worden war und dass er sehr bald ein toter Mann sein würde, wenn er nicht schnellstens das nächste Krankenhaus erreichte.

Die Gasse, in der man ihn ausgetrickst und liegen gelassen hatte, war lang, er konnte an beiden Enden keinen Verkehr erkennen. Es war eine perfekte Falle, dachte er und biss die Zähne zusammen, als eine neue Schmerzwoge in ihm aufbrandete, während er sich auf die Füße kämpfte. Wer Goldman auch immer sein mochte, er hatte ihn grandios an der Nase herumgeführt.

Hali schaffte nicht mehr als zwei Schritte, ehe er an der Hauswand zusammenbrach und zwischen zerbrochenen Flaschen, dornigem Unkraut und stinkendem Abfall zu Boden sank.

Sein letzter Gedanke, während er in einem schwarzen Nichts versank, war Erleichterung, dass Eddie es höchstwahrscheinlich schaffen würde, unbeschadet zu entkommen. Nichts konnte den drahtigen Ex-Agenten aufhalten.

 

Eddie Seng konnte nur hoffen, dass Hali und Goldman in Sicherheit waren, denn er steckte in ernsten Schwierigkeiten. Der Polizeihubschrauber kam dröhnend über ihm in Sicht, also jagte er zwei Kugeln in seinen Rumpf, ehe sich die Maschine außer Schussweite brachte. Der Scharfschütze verfügte dank seiner Waffe über eine weitaus größere Reichweite und feuerte ohne Pause drauflos. Kugeln schlugen hinter Eddie in die Mauer ein und zwangen ihn, seine Flucht fortzusetzen. Der Scharfschütze stellte sich jedoch darauf ein und dirigierte Eddie, indem er knapp einen Zentimeter von dessen rechter Fußspitze entfernt eine Kugel ins Dach jagte.

Eddie kam sich so ungeschützt vor wie ein Schauspieler auf einer leeren Bühne. Ohne irgendeine Deckung wäre es nur eine Frage der Zeit, bevor die Kugeln ihr Ziel finden mussten. Vor ihm endete das Dach mit einer niedrigen dekorativen Mauerbrüstung, und dahinter erhob sich die skelettartige Rahmenkonstruktion des im Bau befindlichen Hochhauses. Selbst ein olympiareifer Weitspringer würde das Gebäude von hier aus um fünfzehn Meter verfehlen. Der Ausleger des Krans, den er und Hali gesehen hatten, war zwar näher, aber es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können, wenn er es schaffen sollte.

Er schwang durch den Himmel, und Eddie konnte erkennen, dass sein Kabel hochstieg und aufgewickelt wurde. Aber er hatte keine Ahnung, was soeben zu einem der oberen Stockwerke des Gebäudes hochgehievt wurde.

Zu diesem Zeitpunkt war es allerdings auch gleichgültig.

Seine Laufgeschwindigkeit steigernd, steuerte er auf den Horizont zu und rannte ohne von seinem Kurs abzuweichen schnurstracks geradeaus. Der Scharfschütze über ihm zielte und entfachte einen wahren Kugelregen, der dicht hinter Eddies Füßen einschlug und ihn vor sich her jagte. Kurz bevor er die Brüstung erreichte, sah er, dass der Kran eine Palette Rigipsplatten am Haken hatte. Er änderte seine Geschwindigkeit ein wenig, trat mit einem Fuß auf die Brüstung, machte einen Satz ins Leere und sprang durch eine heiße Wolke explodierenden Mauerwerks.

Er flog hinaus und abwärts und vollführte einen Absturz von dreizehn, vierzehn Metern, so dass sich sein Magen auf Grund der enormen Beschleunigung fast umdrehte. Die Palette Rigipsplatten befand sich vier Meter unter ihm und stieg ihm noch entgegen, während er sprang, so dass, als er darauf landete, sein Fuß wegen des wuchtigen Aufpralls umknickte und er beinahe auf der anderen Seite heruntergerutscht wäre.

Ehe er eins der Kabel zu fassen bekam, brachte sein Körper die Kranlast aus dem Gleichgewicht. Sie bekam Schlagseite, und er musste mit seinem angeschlagenen Bein einen sicheren Stand suchen. Gipsplatten gerieten ins Rutschen, als der Neigungswinkel steiler wurde. Er streckte sich nach dem Kabel, während die gesamten zwei Tonnen Gipsplatten ins Leere rutschten. Der Plattenstapel löste sich auf, und die Platten fächerten sich auseinander, als hätte ein Riese ein Kartenspiel in die Luft geschleudert.

Eddies Finger klammerten sich um das Kabel, und sein Körper zuckte wie unter Krämpfen, weil es wegen des plötzliche Fehlens der Last hin und her tanzte. Er schaffte es, seinen Griff lange genug zu lösen und ein Bein um das Kabel zu schlingen.

Glücklicherweise schaltete der Kranführer rasend schnell. Er hatte die Last von seiner Kabine aus beobachtet, hatte die Gestalt vom benachbarten Gebäude abspringen sehen und sofort erkannt, weshalb die Gipsplatten abgestürzt waren. Anstatt sich die Zeit zu nehmen, die strampelnde Gestalt langsam auf den Erdboden hinabzulassen, stoppte er die Kabeltrommel und ließ den Ausleger weiter in Richtung des Rohbaus schwingen.

Der wuchtige Haken am Ende des Kabels war schwer genug, um Eddie durch die offene Seite des Gebäudes zu tragen. Also ließ er los und rollte auf einen Betonfußboden. Die Arbeiter, die seinen akrobatischen Auftritt beobachtet hatten, befanden sich mehrere Stockwerke über ihm. Sie würden einige Zeit brauchen, um die Leitern innerhalb eines Schachts hinunterzusteigen, der später das Treppenhaus aufnehmen sollte.

Um sein verstauchtes Fußgelenk zu schonen, humpelte Eddie zum Rand des Gebäudes, wo man eine Bauschuttrutsche aufgestellt hatte. Er blickte über die Geschosskante. Die Rutsche bestand aus einer dicken Stahlröhre von etwa sechzig Zentimetern Durchmesser, die dicht über einem großen grünen Baumüllcontainer endete, der auf einem Tieflader stand. Er schwang sich hinein, stemmte seinen heilen Fuß gegen die Innenwand und stützte sich nach hinten mit den Händen ab. Sein Abstieg erfolgte mit mäßiger Geschwindigkeit und kontrolliert. Seine einzige Sorge war, dass jetzt jemand in den Stockwerken über ihm etwas in die Röhre warf.

Er landete einigermaßen sanft auf Betonbrocken und Armierungseisen, die von einem misslungenen Betonguss stammten. Sekunden später hatte er sich über den Rand des Containers geschwungen und überquerte mit langen Schritten das Baustellengelände. Sämtliche Zeugen glaubten, dass er sich noch im dritten Stock befand, daher schenkte ihm niemand die geringste Beachtung. Noch wichtiger war, dass der Scharfschütze im Hubschrauber das Gebäude beobachtete und sich nicht für die einsame Gestalt auf dem Baustellengelände interessierte.

Neben einem Pumpwagen, der Beton durch Stahlröhren zu den oberen Stockwerken hinaufdrücken sollte, stand ein Betonmischer, dessen hintere Schüttvorrichtung ausgefahren war, so dass Zement in den Pumpentrichter fließen konnte. Eddie sprang auf die vordere Stoßstange, stieg auf den Kotflügel der Fahrerseite und hielt sich an der Stützstrebe des großen Außenspiegels fest, bevor der Fahrer etwas von Eddies Anwesenheit bemerkte. Eddie schwang sich durch das offene Seitenfenster, erwischte den Mann mit seinem gesunden Fuß am Kinn und ließ sich in den Fahrersitz fallen, während der Mann zur Seite kippte.

Der gesamte Truck vibrierte von der Rotation der mächtigen Zementtrommel hinter dem Führerhaus. Eddie beförderte den bewusstlosen Mann mit einem Fußtritt in den Fußraum vor dem Beifahrersitz, legte den ersten Gang ein und fuhr an. Er konnte die Rufe der überraschten Arbeiter nicht hören, doch sah er sie in den Außenspiegeln hinter dem Zementmischer herrennen.

Er lenkte den Lastwagen auf der Schotterstraße über den Bauplatz. Hinter ihm floss weiterhin nasser Zement aus der Schüttvorrichtung, als wäre der Mixer ein mechanisches Monster, das unter akutem Durchfall litt. Der Hubschrauber musste die Bodenstreitkräfte alarmiert haben, dass sich der gesuchte Mann auf die Baustelle gerettet hatte, denn ein halbes Dutzend Polizisten rannten auf das Maschendrahttor zu, als Eddie hindurchrauschte und Männer wie Bowlingkegel aus dem Weg schleuderte.

Als er am Lenkrad kurbelte, schwang die Stahlschütte wie ein Baseballschläger herum, erwischte zwei weitere Männer und zertrümmerte die Windschutzscheibe einer geparkten Limousine. Ein Polizeiwagen raste mit heulender Sirene hinter ihm her. Als er sich auf gleicher Höhe befand, machte Eddie eine Vollbremsung und riss das Lenkrad herum. Der Zementmixer schob sich auf die Motorhaube des Streifenwagens. Das Gewicht des Trucks und seiner Betonladung ließ die Vorderreifen des Polizeifahrzeugs platzen und den Kühler bersten. Die Hinterräder des Trucks schleuderten gegen den Streifenwagen, so dass er beide Fahrspuren der schmalen Fahrstraße blockierte.

Dieses Manöver warf die Schütte zur anderen Seite herum, worauf sie die Scheiben eines weiteren Autos zerschmetterte. Sie schwenkte wie ein stählerner Schweif hin und her, krachte gegen andere Fahrzeuge und hielt die verfolgenden Polizisten auf Distanz.

Eddie konnte beobachten, wie sie innehielten, um auf den Truck zu schießen. Doch die Kugeln wurden von der riesigen rotierenden Mischtrommel abgelenkt, und er vergrößerte mit jeder Sekunde den Abstand weiter. Aber nicht sie waren das Problem, sondern der Hubschrauber, der über der Szene kreiste. Eddie konnte nicht fliehen, solange jede seiner Aktionen beobachtet und seine Position per Funk weitergemeldet wurde.

Die Straße begradigte und verbreiterte sich, während er das Viertel verließ. In größerer Entfernung tauchten drei weitere Polizeiwagen mit blinkendem Blaulicht auf, sie näherten sich mit siebzig Meilen pro Stunde. In ihrer Begleitung befand sich eine Art Panzerwagen. Eddie vermutete, dass dieser mit einem schweren Maschinengewehr bewaffnet war.

Er trat aufs Gaspedal und schaltete in kurzen Abständen hoch, um sein Tempo so schnell wie möglich zu steigern. Bei einem Abstand von hundert Metern zwischen ihm und den Streifenwagen trat Eddie auf die Bremse und drehte am Lenkrad. Die vordere Stoßstange erwischte die hintere Ecke eines großen Lieferwagens, was ausreichte, um den Zementmixer aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er legte sich auf die Außenräder, während er seitwärtsrutschte und dann auf die Seite kippte.

Eddie klammerte sich ans Lenkrad, um nicht auf die Beifahrertür zu stürzen, und bedeckte sein Gesicht mit dem Ellbogen, um sich vor den herumfliegenden Glassplittern der Windschutzscheibe zu schützen. Der reguläre Fahrer des Trucks lag eingezwängt im Fußraum, so dass ihm nicht viel passieren konnte, als die Glastrümmer auf ihn herabregneten.

Der Aufprall der Mischtrommel auf dem Untergrund war heftig genug, um die Bolzen zu zerbrechen, die sie auf der Ladefläche fixierten, und auch, um die Antriebskette zu zerbrechen, die für ihre ständige Rotation sorgte. Ihre Masseträgheit erledigte den Rest.

Elf Tonnen Stahl und Beton rollten schließlich die Straße hinunter und schlingerten leicht, als der Zement in dem großen Behälter hin und her schwappte. Die Fahrer zweier Polizeiwagen waren so vernünftig, den Weg freizumachen und auf den Bürgersteig auszuweichen. Dabei rammte der eine einen Telefonmast, während sich der andere mit den Vorderrädern in eine Mauer bohrte. Das gepanzerte Fahrzeug und der andere Streifenwagen waren näher herangekommen und hatten keine Chance. Der Zementbehälter wälzte sich auf die Frontpartie des Panzerwagens und riss seinen kleinen Geschützturm aus der Verankerung. Der Schütze wäre glatt halbiert worden, wenn er nicht noch im letzten Moment auf Tauchstation gegangen wäre.

Die Trommel krachte auf die Straße zurück und zermalmte den Asphalt, ehe sie den Polizeiwagen streifte und seine Heckpartie bis zu den Rücksitzen zerquetschte. Der Zementbehälter rollte bis zur Hauswand, wo er liegen blieb, während der Zement wie Zahnpasta aus seiner Öffnung quoll.

Eddie schnappte sich ein Arbeitshemd, das an einem Haken an der Rückwand des Führerhauses gehangen hatte, und kletterte durch die zerschmetterte Windschutzscheibe. Hinter dem Truck war er vom Hubschrauber aus nicht zu sehen und nahm sich Zeit, um sich die Schminke aus dem Gesicht zu wischen und sein Jeanshemd gegen das Arbeitshemd auszutauschen. Die Schmerzen in seinem Fußgelenk waren inzwischen erträglicher geworden, darum konnte er sie so weit aus seinem Bewusstsein verdrängen, dass er sich nicht durch ein Humpeln verriet, als er die Deckung des Zementmixers verließ. Er ging nur ein paar Schritte und blieb dann stehen, um mit den anderen Leuten, die aus den Läden und den Wohnhäusern auf die Straße geeilt waren, das Geschehen neugierig zu beobachten. Zu diesem Zeitpunkt war er nichts anderes als ein sensationslüsterner Gaffer von vielen.

Als die Polizei schließlich eintraf und damit begann, Zeugen zu suchen und zu befragen, wurde er nicht weiter beachtet. Sie suchten einen Libyer und keinen Asiaten, der nicht einmal Arabisch sprach. Er entfernte sich ohne Eile vom Ort des Geschehens, niemand hielt ihn auf. Fünf Minuten, nachdem er sich mit den chinesischen Beobachtern in Verbindung gesetzt hatte, schlängelte er sich in den Lieferwagen und verließ das Wohnviertel.

 

Fünf Meilen entfernt saß Tariq Assad im gemieteten Fiat und hatte sein Mobiltelefon am Ohr.

»Ich bin’s. Heute hat eine Razzia stattgefunden. Die Polizei hat mich beinahe erwischt. Versuchen Sie schnellstens herauszubekommen, weshalb ich nicht gewarnt wurde. Das hätte nie passieren dürfen. Glücklicherweise haben mir die Leute von diesem verdammten Schiff bei meiner Flucht geholfen. Ich war gerade dabei, Informationen aus ihnen herauszuholen, als die Polizei eintraf.«

Er lauschte einen Moment lang und erwiderte: »Nicht in diesem Ton! Sie haben den Hinterhalt auf der Küstenstraße vorbereitet, es waren Ihre handverlesenen Männer! Dank unseres Maulwurfs bei der Polizei haben wir eine Kopie des Untersuchungsberichts erhalten. Anstatt sich zurückzuhalten, haben Ihre angeblich so gut ausgebildeten Männer harmlose Verkehrsteilnehmer angehalten, um sie abzukassieren. Ich weiß nicht, wie diese amerikanischen Söldner es geschafft haben, sie alle zu töten, aber sie haben es getan. Dann haben sie unseren Hind in die Luft gesprengt, die meisten unserer Gefangenen befreit und einen sorgfältig ausgearbeiteten Plan vereitelt … Was? Ja, ich sagte befreit. Ihr Frachtschiff muss am Kai der Bekohlungsstation gelegen haben. Unsere Männer haben beobachtet, wie ein leerer Güterwagen im Meer versunken ist … Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist das Schiff schneller, als es aussieht, oder die Männer im Hubschrauber waren noch unfähiger als die, die den Truck hatten aufhalten sollen.

Ich muss jetzt irgendwie die Stadt verlassen«, fuhr er fort. »Noch besser: das Land. Ich kenne einen Piloten, der uns freundlich gesinnt ist. Ich werde ihn bitten, mich mit seinem Helikopter dorthin zu fliegen, wo die Männer nach Suleiman Al-Jamas Grab suchen, und mich persönlich darum kümmern. Trotz der Rückschläge scheint es mir, als hätten Sie alles wieder unter Kontrolle. Fiona Katamora sollte mittlerweile in ihrer Todeszelle sitzen, und Oberst Hassad hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass unser Märtyrertrupp unterwegs sei.

Bis alles vorüber ist, werde ich nicht mehr mit Ihnen sprechen. Darum zum Abschied nur so viel – möge Allahs Segen mit uns sein.«

Er unterbrach die Verbindung und legte das abhörsichere Telefon neben sich auf den Beifahrersitz. Seine Emotionen hatte er stets im Griff gehabt. Doch die Ereignisse des Tages versetzten ihn in rasende Wut. Er hatte nicht gelogen, als er verlauten ließ, dass sie Spione und Sympathisanten in allen Abteilungen der libyschen Regierung hatten. Er war mehrfach gewarnt worden, dass die Polizei sein Büro und seine Wohnung überwachte, daher hätte er auch über die Razzia informiert werden sollen.

Es schien, als müsste der oberste Führer, Muammar Gaddafi, nachdrücklich daran erinnert werden, dass seine Autonomie nach wie vor begrenzt war.