22
In einem Land, das eigentlich hundertprozentig ethnisch homogen war, hätte Eddie Seng von Anfang an im Nachteil sein müssen, als der Chef ihm und Kasim den Auftrag gab, ihren Hafenlotsen zu beschatten. Er hatte sich jedoch nicht beklagt. Ebenso wie Juan auch spürte er, dass an Assad einiges verdächtig war und ihn etwas umgab, das ihm die Nackenhaare aufstellte.
Einen Verdacht zu haben und ihn zu beweisen waren jedoch zwei verschiedene Dinge. Und die Tatsache ließ sich nicht von der Hand weisen, dass jeder von Eddies Vorfahren seit einigen hundert Generationen Chinese war und fast alle Menschen, die die Straßen von Tripolis bevölkerten, im Vorderen Orient geboren worden waren.
Aber ganz so schlimm war es nicht. Schließlich gibt es auf dem Planeten nicht eine einzige größere Stadt, in deren Mauern sich keine Enklave chinesischer Einwanderer zusammengefunden hat. Und an jenem ersten Abend, während Hali Tariq Assad verfolgte, ausgerüstet mit einer handbeschriebenen Karte, aus der hervorging, dass er stumm war, um zu verbergen, dass er kein Arabisch sprach, hatte sich Eddie auf die Suche nach der Chinatown von Tripolis begeben.
Was er fand, löste einen gelinden Schock bei ihm aus, obgleich es nach reiflicher Überlegung eigentlich gar nicht dazu hätte kommen müssen. Unterstützt durch Petrodollars erlebte Libyen – und vor allem Tripolis – gerade einen Bauboom. Einige Projekte wurden durch Bauunternehmen aus Hongkong und Schanghai ausgeführt. Abgesehen von den Arbeitern, die ins Land geholt wurden, gab es auch ein umfangreiches Versorgungssystem aus Restaurants, Bars, Läden und Bordellen, die die Bedürfnisse einer chinesischen Klientel befriedigten, die fast gar nicht von Eddies heimatlicher Chinatown in New York zu unterscheiden war.
Und ebenso wie in New York gab es hier sowohl gesetzestreue als auch gesetzesfeindliche Gesellschaftsschichten. Schon nach wenigen Minuten seines Rundgangs fand er bekannte Bandensymbole, die mit Farbspray auf einigen Ladenfassaden verewigt worden waren. Und ein paar Minuten später fand er dann auch das Zeichen, das er gesucht hatte. Es war ziemlich klein, nur ein paar Zentimeter groß, und prangte in roter Farbe auf einer ansonsten völlig unauffälligen grauen Metalltür. Diese Tür erlaubte den Zugang zu einem festungsähnlichen Lagerhaus, dessen erster Stock eine lange Fensterreihe aufwies.
Eddie klopfte einen Rhythmus, den er von zu Hause kannte. Niemand reagierte darauf, daher klopfte er abermals, diesmal aber genau so, wie ein gewöhnlicher Besucher es tun würde. Aus dem gedämpften Echo, das seine Knöchel auslösten, entnahm er, dass die Tür aus solidem Stahl bestand.
Sie öffnete sich nach ein paar Sekunden mit einem leisen Knarren, und ein Junge von etwa zehn Jahren schob den Kopf durch den Türspalt. Sicherlich warteten unsichtbar im Hintergrund drei oder vier bewaffnete Männer. Der Junge sagte kein Wort.
Auch Eddie schwieg.
Er zog das Hemd aus der Hose, drehte sich um und entblößte seinen Rücken bis hinauf zu den Schulterblättern.
Der Junge atmete zischend ein, und Eddie spürte plötzlich weitere Blicke auf sich. Er ließ das Hemd langsam sinken und schaute wieder auf die Tür. Er betrachtete es als gutes Zeichen, dass die beiden Bandenmitglieder, die ihn jetzt musterten, ihre Pistolen gesenkt hatten.
»Wer bist du?«, fragte einer.
»Ein Freund«, entgegnete Eddie.
»Wer hat dir die Tätowierung verpasst?«, fragte der andere.
Eddie musterte ihn mit einem Ausdruck der Verachtung, während er erwiderte: »Niemand hat sie mir verpasst. Ich habe sie mir verdient.«
Auf seinem Rücken befand sich eine kunstvolle – wenn auch mittlerweile verblasste – Tätowierung von einem Drachen, der gegen einen Greif kämpfte. Es war ein altes Bandensymbol der Green Dragon Tong aus den 1930ern, als sie mit einer rivalisierenden Bande um die Kontrolle des Hafens von Schanghai gekämpft hatten. Nur führende Mitglieder der Tong oder besonders tapfere Fußsoldaten durften es auf ihrer Haut tragen. Angesichts des weltweiten Einflusses der chinesischen Unterwelt hatte Eddie genau gewusst, dass ihm dieses Zeichen hier den freien Zugang ermöglichen würde.
Er hoffte nur, dass sie es nicht allzu genau überprüften, denn Kevin Nixon hatte die Zeichnung nur wenige Stunden vorher an Bord der Oregon aus einem Katalog von Banden-und Gefängnistätowierungen kopiert.
»Was führt dich her?«, fragte der erste Gangster.
»Hier im Hafen arbeitet jemand, der den Leuten, die ich vertrete, eine große Geldsumme schuldet. Ich will ein paar von euch auf ihn ansetzen, damit ihr ihn im Auge behaltet, bis es Zeit ist zu kassieren.«
»Hast du Geld?«
Eddie hielt es nicht für nötig, darauf zu antworten. Niemand, der bei klarem Verstand war, würde eine solche Forderung stellen, ohne dafür bezahlen zu können. »Für vier oder fünf Tage. Acht oder zehn Leute. Zehntausend Dollar.«
»Zu schwierig, sie umzutauschen. Mach Euros daraus. Zehntausend.«
Beim augenblicklichen Kurs waren das fast fünfzig Prozent mehr. Eddie nickte trotzdem.
Und so hatte er plötzlich genug Männer, um Tariq Assad rund um die Uhr überwachen zu lassen, während er und Hali in einer billigen Absteige ausharrten, die von der Tong unterhalten wurde. Die Bande meldete mittels nicht registrierter Mobiltelefone alle sechs Stunden die neuesten Aktivitäten Assads, so dass sie sich nach ein paar Tagen ein ziemlich genaues Bild von Assads Gewohnheiten machen konnten.
Gewöhnlich arbeitete Assad acht Stunden während der Nachtschicht im Hafen, wobei er sich schon mal zwei Stunden freinahm, wenn keine Schiffe erwartet wurden. In diesen Nächten suchte er ein Apartment nicht weit vom Hafen auf, wo er eine Geliebte untergebracht hatte. Sie war zwar nicht gerade die schönste von denen, die er besuchte, doch war sie am bequemsten zu erreichen.
Nach der Arbeit kehrte er zu seiner Familie zurück, schlief rund sechs Stunden und traf sich danach mit seinen Kollegen zu einer Tasse Kaffee, ehe er andere Apartments in Tripolis besuchte. Eddie bat seine Agenten, eine Namensliste der Frauen zusammenzustellen, und als Eric Stone die Namen mit Hilfe des Computers auf der Oregon überprüfte, stellte sich heraus, dass Assad mit den Frauen von Regierungsangestellten der mittleren Ebene schlief. Sogar jene Frau in Hafennähe war die Schwester eines Vizedirektors des Energieministeriums.
Wenn man bedachte, dass Assad nicht gerade zu den attraktivsten männlichen Erscheinungen gehörte, waren seine libidinösen Eroberungen wirklich beeindruckend.
Eddie und Hali kamen zu dem Schluss, dass Assad nicht mehr sein mochte als ein mäßig korrupter Hafenlotse mit hyperaktiver Libido und erstaunlich vielen Bekanntschaften. Dies galt jedoch nur bis zu Max Hanleys Mitteilung, die wie eine Bombe einschlug. Danach gewannen Assads vielfältige Abstecher in die Schlafzimmer libyscher Regierungsbeamten eine ganz neue und bedrohlichere Bedeutung.
Juan hörte aufmerksam zu, während Eric ihm per Telefon den Verlauf des alten Bahngleises durch die Berge zur Küste in etwa zwanzig Meilen Entfernung beschrieb. Die Satellitenbilder lieferten keinerlei Anhaltspunkte über das Gefälle der Strecke, doch laut Juans Ortungschips befand er sich in etwa tausend Fuß Höhe über Meereshöhe, als er im Terroristencamp aus dem Hubschrauber gestiegen war.
Nach eingehender Betrachtung der ersten Grundzüge eines Plans, der – noch während Eric redete – in seinem Kopf bereits Gestalt annahm, entschied Cabrillo, dass es eine Höllenfahrt werden würde.
Erschwert wurde das Unternehmen noch zusätzlich durch den engen Zeitrahmen, denn ihm fiel keine plausible Begründung ein, mit der Overholt die Libyer hätte bitten können, ihren Angriff noch etwas hinauszuzögern, ohne seine Absichten zu verraten.
Hinzu kam, dass er während der vorangegangenen achtundvierzig Stunden nicht mehr als sechs Stunden geschlafen hatte, und nach der Verfassung seiner drei Gefährten zu schließen ging es ihnen nicht viel besser.
»Was ist los?«, fragte Linc, dessen chirurgische Handschuhe mit Blut bedeckt waren, während er die letzte Naht fertigstellte. Er hatte die Wunde in Juans Bein mit drei Reihen Catgut geschlossen, wobei er sich von der tiefsten Stelle des Wundkanals nach oben zur Außenhaut so emporgearbeitet hatte, dass sich die Wunde unter keinen Umständen wieder öffnen konnte. Da die örtliche Betäubung den Schmerz auf einem halbwegs erträglichen Level hielt, vertraute Juan darauf, dass sein Körper ihn nicht im Stich lassen würde.
»Was meinst du?«
»Du hast gerade gekichert«, erwiderte Linc, streifte die Handschuhe ab und stopfte sie in einen roten Behälter für biologisch gefährliche Abfälle.
»Habe ich das? Ich dachte nur daran, dass wir im Augenblick derart in der Klemme stecken, dass ich gar nicht weiß, ob das, was ich vorhabe, überhaupt funktionieren kann.«
»Doch nicht etwa schon wieder einer deiner berüchtigten C-Pläne?«, stöhnte Linda. Sie stand außerhalb des Pig und schaute über Lincs massige Schulter.
»Deshalb habe ich gelacht. Reiner Galgenhumor. Wir sind in Wahrheit aber längst über C hinaus und bereits bei Plan D, E oder F.«
Für Cabrillo ergaben sich zwei Optionen, aber keine richtige Wahl. Er war im Begriff, sie alle wie auf einem Schießstand aufzureihen, wobei das Pig die Rolle einer Lockente spielen würde.
Linc fixierte mit Heftpflaster eine Mullkompresse auf Juans Beinwunde und sagte: »Falls Doc Huxley etwas an meiner Arbeit auszusetzen hat, bestell ihr doch, sie soll sich deshalb gefälligst an deine HMO wenden.«
Juan zog sich seine Hose wieder an. Sie war an einem Dutzend Stellen zerrissen und derart mit Sand verkrustet, dass sie knisterte, als er sie sich über die Hüften zog. Doch im Pig gab es keine Ersatzkleidung. Er machte ein paar Kniebeugen, als er aus dem Pig auf den Erdboden sprang. Die Wunde spannte, aber die Naht hielt immerhin, und die örtliche Betäubung wirkte.
Noch war die Sonne über den fernen Bergen nicht aufgegangen, so dass nur die Sterne kalt und unverrückbar über ihm am Himmel standen. Cabrillo betrachtete sie einen Moment lang und fragte sich – und das nicht zum ersten Mal –, ob er sie wohl jemals wiedersehen würde.
»Aufsitzen!«, rief er. »Wenn die Oregon eintrifft, dürfte die Show zum größten Teil vorbei sein. Und wir haben noch verdammt viel harte Arbeit vor uns.«
»Nur so aus Neugier, Juan«, sagte Linc beiläufig, »wer sind diese Leute eigentlich, die wir retten wollen? Politische Gefangene, gewöhnliche Kriminelle oder was?«
»Ich glaube, dass sie vielleicht der Schlüssel zu dieser ganzen Affäre sind.«
Linc nickte knapp. »In Ordnung.«
»Wenn du mich fragst«, fügte Mark hinzu, »ich habe ein ungutes Gefühl wegen …«
Cabrillo brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.
Laut Juans Uhr verstrichen achtundvierzig Minuten, ehe er entschied, dass sie bereit seien. Mehr schlecht als recht. Er hatte die Wachen im Umgang mit den Gefangenen ausreichend lange beobachten können und wusste, dass sie in geringer Anzahl keine ernsthafte Bedrohung darstellten. Aber es gab insgesamt an die vierzig von ihnen, und wenn sein Timing nicht stimmte, würden die zweihundert oder mehr Leute, die er vom Trainingslager wegzulocken hoffte, die Mine erreicht haben, ehe sie ihre Flucht erfolgreich in Szene gesetzt hätten.
Während ihrer Anfahrt zur Mine hatten sie Linc zurückgelassen, so dass er sich eine höher gelegene Position oberhalb des Eisenbahndepots hinter den alten Verwaltungsgebäuden suchen konnte. Mit einem Kaliber-.50-Barrett-Präzisionsgewehr konnte der Ex-SEAL Ziele in einer Entfernung von über einer Meile treffen. Seine Reichweite mit dem kleineren REC7-Sturmgewehr betrug immer noch eindrucksvolle siebenhundert Yards, und bei dem, was Juan geplant hatte, müsste Linc auf deutlich kürzere Entfernung treffen. Das Pig befand sich außer Sicht der Kohlegrube auf dem höchsten Punkt eines schmalen Weges, über den am Tag zuvor die Wüstenpatrouille mit der Leiche des Flüchtlings zurückgekehrt war.
Das Morgengrauen war nicht mehr als ein heller Schimmer in der Ferne, so dass die Dunkelheit die Senken und Gräben ringsum ausfüllte und die Kühle des fernen Meeres in der Luft lag.
Juan wünschte sich, er könnte Alana und ihren neuen Gefährten, Fodl, aus den Kampfhandlungen heraushalten. Doch er konnte es nicht riskieren, sie in der Wüste zurückzulassen, da er und sein Team möglicherweise nicht dorthin zurückkehren könnten. Er hatte ihnen seinen Plan skizziert und ihnen klargemacht, welche Gefahren damit verbunden waren. Doch beide waren bereit zu tun, was immer von ihnen verlangt wurde.
»Damit Sie zu all den anderen abenteuerlustigen Archäologen da draußen passen, schenke ich Ihnen einen Hut«, meinte er lächelnd zu Alana, als sie ihm versicherte, dass sie auf jeden Fall dabeibliebe.
»Auch eine Peitsche?«, fragte sie grinsend.
»Klar doch«, versicherte er ihr und erwiderte ihr Grinsen.
»Verbindungscheck«, meldete sich Linc über ihr taktisches Funknetz.
»Ich höre dich laut und deutlich, großer Mann.«
»Ich befinde mich oben auf der alten Ladeanlage«, meldete der Scharfschütze. »Die Wachen fangen gerade an, die Sträflinge zum Frühstück zu wecken. Der Zeitpunkt ist günstig. Jetzt oder nie.«
»Roger«, erwiderte Juan und schluckte krampfhaft. Sein Hals war plötzlich so trocken wie heißer Wüstensand. Er blickte zu Mark Murphy auf dem Fahrersitz hinüber. Der Erfolg oder Misserfolg von Juans Plan hing vor allem von dem Geschick ab, mit dem Murphy die Waffensysteme des Pig bediente. »Bereit?«
Mark nickte.
»Tally-ho!«, rief Juan.
Mark aktivierte die auf dem Dach des Pig installierten Mörser. Sie waren mit Lincs Hilfe unter Verwendung eines Laser-Zielsuchsystems bereits justiert worden – und feuerten nun gleichzeitig. Die automatische Ladevorrichtung hatte die vier Rohre bereits wieder gefüllt, ehe die erste Salve auch nur hundert Meter von ihrer hohen, parabelförmigen Schussbahn zurückgelegt hatte.
Die zweite Salve wurde mit einem seltsam hohlen Geräusch auf die Reise geschickt. Mark rief: »Los!«
Juan hatte den Motor des Pig bereits auf Touren gebracht, so dass, als er den Gang einlegte, alle vier Räder den Boden aufwühlten. Sie schossen über einen Erdwall hinweg, und das Lager kam in Sicht. Wie von ihm geplant, hatte niemand im Lager das Mörserfeuer gehört. Zerlumpte Gefangene bildeten lange Warteschlangen, um sich ihr mageres Frühstück abzuholen, während Wächter sie aus reinem Vergnügen drangsalierten. Er sah, wie ein Wächter mit seinem Schlagstock ausholte und ihn seinem Opfer so brutal in die Nieren schmetterte, dass sich der Gefangene wie ein aufs Äußerste gespannter Bogen krümmte und in den Staub sank.
Die Mörsergranaten erreichten den höchsten Punkt ihrer Flugbahn und begannen ihren Sturzflug zur Erde. Jede war mit gut einem Kilo hochexplosiven Sprengstoffs gefüllt. Mark hatte die Zeit während ihrer Fahrt zum Lager genutzt, um die meisten Stahlsplitter aus jedem Geschoss zu entfernen und so die Gefahr zu verringern, den Gefangenen schwere Verletzungen zuzufügen.
Linc brachte das Fadenkreuz seines REC7 mit dem Wächter zur Deckung, der den Gefangenen niedergeschlagen hatte, atmete halb aus und drückte ab. »Wir haben roten Nebel«, meldete er, als der Kopf des Wächters explodierte.
Dann schaltete er zwei weitere Wächter aus, ehe sich unter der Wachmannschaft eine erste Unruhe ausbreitete. Der Hauptmann der Wachen kam aus seinem Zelt. Sein Oberkörper war nackt, und er hatte die Beine seiner Uniformhose in seine Kampfstiefel gestopft. Linc bemerkte die Funkantenne, die aus einem Loch im Zeltdach herausragte, und suchte sich ein neues Ziel.
Vier Mörsergranaten schlugen gleichzeitig ein. Der Weg, der zur Sohle des Steinkohletagebaus führte, löste sich in einer Fontäne aus Geröll und qualmendem Feuer auf. Einen kurzen Moment später explodierten weitere Geschosse noch näher am Lager.
Wächter wie Gefangene wichen zurück und wandten sich in Richtung der großen Holzbauten, während Linc damit fortfuhr, die Reihen der Terroristen Schuss für Schuss – und Treffer für Treffer – zu lichten. Dabei nahm er vorwiegend diejenigen aufs Korn, die bewaffnet waren.
Cabrillo lenkte das Pig wie ein Rallyefahrer beim Endspurt zur Ziellinie zum Lager hinunter. Neben ihm bemühte sich Murph, das Fadenkreuz der Bordraketen auf einem der Terroristentrucks zu fixieren. Er hörte das Signal der Zielauffassung und feuerte.
Die Rakete hob mit einem lauten Brüllen ab, flog auf einer bizarren Bahn durch die Luft und traf das Führerhaus des Trucks. Sie sprengte das Chassis in der Mitte auseinander, so dass der Wagen einknickte und seine beiden Enden hochstiegen – so wie bei einem Schiff, das von einem Torpedo getroffen worden war.
Die Explosion trieb die verängstigten Gefangenen noch näher zum Gebäude, während die Wächter zu ihren Zelten rannten, wo viele von ihnen ihre Maschinenpistolen liegen gelassen hatten.
Das Pig war noch etwa hundert Meter vom Lager entfernt, als die mittlerweile bewaffneten Terroristen aus den Zelten auftauchten, ihre Kalaschnikows zückten und lange Feuerstöße in alle Richtungen jagten. Oben in der Kuppel des Pig hatte Linda sie im Visier ihres M60-Maschinengewehrs. Die Waffe bockte in ihren Armen und traf ihre Schulter wie der stählerne Kopf eines Vorschlaghammers. Doch sie verlor ihr Ziel keine Sekunde aus dem Visier.
Die Erde im Umkreis der umherrennenden Schützen schien geradezu zu schwanken, als mitten zwischen ihnen weitere Granaten explodierten. Männer stürzten zu Boden, von grässlichen Wunden gezeichnet. Einige wurden sogar von ihren eigenen Kameraden getroffen, die auf diese neue Bedrohung reagiert und das Feuer blindlings eröffnet hatten.
»Er hat genug Zeit gehabt«, rief Juan und übertönte das laute Dröhnen des Motors. »Weg mit dem Kommandozelt.«
Cabrillo verfolgte mit seinem Plan zwei Ziele. Das erste war, so viele Gefangene wie möglich zu retten, da er nicht sicher war, ob sich das libysche Militär die Zeit nahm, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Er konnte zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht einmal sagen, wie es diese beiden Begriffe wohl definierte. Das zweite Ziel bestand darin, so viele Terroristen wie möglich vor dem Hauptangriff aus dem Ausbildungslager herauszulocken. Falls Fiona Katamora tatsächlich dort festgehalten wurde, war jeder Schütze, der in die Schießerei an der Grube verwickelt war, ein Schütze weniger, der versuchen könnte, sie zu töten, ehe sie gerettet wurde.
Deshalb hatte Linc den ausdrücklichen Auftrag erhalten, den Kommandanten der Grubengarnison vorerst zu verschonen, damit er per Funk mit dem Ausbildungslager Verbindung aufnehmen konnte. Sie brauchten ihn, damit er Alarm schlug. Aber jetzt, da es geschehen war …
Mark jagte die Rakete genau im richtigen Winkel durch den Vordereingang des Kommandozeltes, so dass sie auf dem Erdboden aufschlug, ehe sie auf der Rückseite wieder herausflog. Die Zeltleinwand verwandelte sich in eine Feuersäule, und das militärische Gerät, das draußen aufgestapelt war, wurde von der Explosion zerstört. Wie Schießbaumwolle fing das Zelt Feuer und verbrannte zu Asche, die wie schmutziger Schnee zu Boden rieselte.
Sie waren jetzt weit ins Lager vorgedrungen. Über Juan und Murph bediente Linda weiter des M60, schaltete gruppenweise Wächter aus und benutzte die Leuchtspurgeschosse, um die Gefangenen in Trab zu halten und zu dem Betriebsplatz zu drängen, wo die Eisenbahnwaggons und die Lokomotiven der Terroristen standen.
Cabrillo konnte feststellen, dass der Widerstandswille der Wachen durch den wilden und heftigen Angriff gebrochen worden war. Viele von ihnen rannten hinunter ins Bergwerk oder über den Felswall und in die Wüste hinein. Fünfzig oder mehr Gefangene drückten sich an die Außenwand des Bürogebäudes der alten Mine. Ein Wächter tauchte plötzlich hinter einer Planierraupe auf. Er hatte freies Schussfeld auf die wehrlosen Männer und Frauen – und ein RPG-7-Abschussrohr auf der Schulter.
Murph schaltete die Kontrollen von den Raketen auf das Geschütz – und das Kaliber-.30-Maschinengewehr begann unter der Schnauze des Pig zu rattern. Der Terrorist brach zusammen, jedoch nicht ohne vorher seine raketengetriebene Granate abgeschossen zu haben. Das fünf Pfund schwere Projektil legte nach Verlassen des Rohrs kaum drei Meter zurück, ehe es völlig unerklärlicherweise mitten in der Luft explodierte.
»Verdammt, Linc«, sagte Juan geradezu ehrfürchtig. »Warst du das?«
»Alles ist nur eine Frage von Timing und Konzentration«, erwiderte Linc. Später gab er zu, dass er auf den Terroristen geschossen hatte und die Rakete rein zufällig in die Flugbahn der Gewehrkugel geraten war.
Juan lenkte das Pig um das Gebäude herum und bremste scharf, so dass der Wagen auf ein Gleis rutschte, mit dem Heck nur höchstens einen Meter von einem geschlossenen Güterwagen entfernt, auf dessen Dach ein Handrad zum Betätigen der antiken mechanischen Bremse zu sehen war. Das Gleis war gut einen Fuß schmaler als die Spurbreite des Pig. Juan suchte und fand auf dem Armaturenbrett den Schalter, mit dem sich die Bodenfreiheit des Fahrzeugs dadurch regeln ließ, dass die Breite des Radstands verändert wurde.
Er musste den Wagen vor und zurück dirigieren, da die Räder nach innen gezogen wurden, bis sie direkt auf den Gleisen standen und über ein halber Meter freier Raum zwischen dem Chassis und dem Schotterbett der Gleisanlage klaffte.
Mit einem anderen Schalter deaktivierte Juan das automatische Reifendruck-Kontrollsystem und verließ dann das Führerhaus. »Mark, Linda, an die Arbeit«, befahl er über das taktische Funknetz. »Linc, gib ihnen Feuerschutz. Fodl, zu mir.«
Er schnappte sich ein REC7-Sturmgewehr und hatte die FN-Five-seveN-Pistole in der Hand, als er leicht geduckt neben dem Pig landete. Damit feuerte er auf die Reifen auf der linken Seite. Das Gewicht des Trucks ließ sofort sämtliche Luft aus ihnen entweichen, und die Flanken der Stahlfelgen legten sich um die Gleise, wobei die schlaffen Reifen die Reibung erhöhten und für zusätzlichen Grip sorgten. Er konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Das Pig auf die Gleise zu setzen war schließlich die Grundlage seines ganzen Plans gewesen.
Er rannte zur Gebäudeecke, während sein neuer libyscher Freund, immer noch in seinem zerlumpten Gefangenendress, aus dem Pig herauskletterte. Auf der anderen Seite des Geländes konnte er zwar einige Wächter auf der Suche nach möglichen Zielen sehen, doch im Augenblick schenkte den Häftlingen niemand Beachtung.
Ein paar von ihnen, die sich an das Gebäude drückten, blickten ängstlich zu Juan hoch, als sie die Waffe in seiner Hand entdeckten. Dann tauchte Fodl neben ihm auf.
»Kommt mit uns«, sagte Fodl zu ihnen in einem Befehlston, der den Chef kein bisschen überraschte. »Diese Leute sind hergekommen, um uns zu helfen.«
Einige abgemagerte Häftlinge starrten ihn unsicher an. »Geht. Das ist ein Befehl.«
Wie bei einem geborstenen Damm schwollen die wenigen, die zu dem Eisenbahnwaggon stolperten, den Linda offen hielt, bald zu einer Flut an. Cabrillo stand an der Ecke und achtete auf neugierige Wächter. Wenn einer von ihnen in ihre Richtung schaute, streckte er ihn sofort nieder, während Fodl neben ihm weitere von seinen Leuten zu sich herüberwinkte. Eine kleine Gruppe von Frauen kroch unter den umgekippten Tischen der Essenausgabe hervor und rannte auf das Gebäude zu, nur um plötzlich von der Seite beschossen zu werden. Eine der Frauen brach auch zusammen, ehe Juan reagieren konnte und einen langen Feuerstoß in eine Pyramide von Kisten jagte, von wo aus die Schüsse gefallen waren.
Die anderen Frauen halfen dem verletzten Mädchen auf die Füße, stützten es und brachten es in Sicherheit.
»Allah segne Sie«, sagte einer von ihnen zu Juan, während sie um das Gebäude herumrannten und dahinter Schutz fanden.
Ein anderer Gefangener blieb bei Juan stehen. Dieser streifte den Mann mit einem flüchtigen Blick und konzentrierte sich dann wieder auf das Betriebsgelände der Steinkohlemine. Der Gefangene zupfte an Juans Ärmel, also musterte er ihn etwas genauer. Er war kein Araber wie alle anderen. Sein Haar und sein Gesicht waren deutlich heller, obgleich seine Haut von der Sonne verbrannt war.
»Sind Sie Chaffee?«, fragte Juan.
»Ja. Woher wissen Sie das?«
»Sie müssen sich für Ihre Rettung bei Alana Shepard bedanken.«
Chaffee atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank. Wir hörten gestern Abend, sie sei bei einem Fluchtversuch erschossen worden.«
»Sind Sie kräftig genug, um nötigenfalls zu kämpfen?«
Der CIA-Agent richtete sich so gut er konnte auf. »Geben Sie mir eine Pistole, und überzeugen Sie sich.«
Juan deutete auf Mark Murphy, der soeben im Begriff war, den alten Eisenbahnwaggon an den beiden Haken am Heck des Pig zu befestigen. Von Weitem betrachtet wirkte der Eisenbahnwaggon riesengroß und die Kette so dünn und zerbrechlich wie ein Silberfaden. Aber daran konnte er jetzt nichts ändern. »Melden Sie sich bei dem Mann dort drüben. Er wird sich um Sie kümmern.«
»Danke sehr.«
Cabrillo warf einen Blick auf seine Uhr. Acht Minuten waren seit dem ersten Schuss verstrichen. Ihnen blieben also weniger als zehn Minuten, bevor ein Trupp schießwütiger Fanatiker aus dem Trainingslager erscheinen würde, und höchstens eine Stunde, bis das libysche Militär aufmarschierte und auf alles schoss, was sich hier bewegte.
Der Strom der Gefangenen zum Schienenwagen riss nicht ab – und ganz gleich, wie sehr Juan sie auch zur Eile antrieb, sie schafften es einfach nicht. Sie waren von ihrem Martyrium derart geschwächt, dass noch nicht einmal die Aussicht auf Freiheit sie dazu brachte, sich schneller als nur mühsam schlurfend vorwärtszubewegen. Fast konnte er hören, wie die Zeit vertickte.
Über die Schulter beobachtete Juan, wie sie in den Waggon kletterten und sich gegenseitig dabei halfen.
Es war jedoch nicht seine Uhr, die Juan zu hören glaubte. Es war vielmehr das rhythmische Rotorflappen eines anfliegenden Hubschraubers. George Adams war immer noch mindestens zwanzig Minuten weit entfernt. Demnach musste es der Mi-8 der Terroristen sein.
Es spielte keine Rolle, dass der Waggon voll war und nur noch eine ältere Frau sich abmühte, das Gleisende zu erreichen, während die Zelte und die Bergwerksanlagen hinter ihr brannten und dichte Qualmwolken zu einem Himmel aufstiegen, der sich rosig färbte.
Die Zeit war abgelaufen.