19

Sein niedliches Gesicht war eine Mischung aus Konzentration und Freude. Der Mund bildete ein winziges O, und die Augen waren trotz des starken Chlorgehalts weit geöffnet. Wassertropfen klebten wie Diamantsplitter an seinen erstaunlich langen Wimpern. Sein Körper wackelte im Rhythmus mit seinem Beinschlag, und die aufblasbaren Ringe um seine Arme stießen bei jeder unbeholfenen Schwimmbewegung gegen sein Kinn.

Alana hatte das Gefühl, ihr Herz werde jeden Moment explodieren, während sie im hüfttiefen Wasser des Swimmingpools ihrer Wohnanlage stand und Josh wild paddelte, um sie zu erreichen. Schritt für Schritt ging sie langsam rückwärts. Er kannte das Spiel und würde sich bitter beklagen, wenn er müde wurde, ehe er sie erreicht hätte, oder er würde vor Stolz strahlen, wenn er es bis in die sichere Zuflucht ihrer ausgebreiteten Arme schaffte.

Ihr Rücken stieß gegen die Betonseitenwand des Schwimmbeckens. Josh war nur ein paar Schritte weit entfernt, und sein Mund verzog sich zu einem siegessicheren Grinsen. Er wusste, dass er gleich am Ziel wäre. Und dann verschwanden seine Schwimmflügel plötzlich, und sein Gesicht versank im Wasser. Alana wollte sich von der Beckenwand abstoßen, aber es schien, als klebten ihre Haut und ihr Badeanzug am Beton und den Fliesen fest.

Spuckend kam Josh hoch. In seinen weit aufgerissenen Augen flackerte die nackte Panik, während ein erstes würgendes Husten seinen kleinen Körper durchschüttelte. Wasser und Speichel bildeten Bläschen auf seinen Lippen. Er brachte ein verzweifeltes »Mammi!« hervor, ehe sein Kopf abermals untertauchte.

Alana streckte die Arme aus und hatte dabei das Gefühl, als würden sie gleich aus den Gelenken herausspringen, doch sie konnte ihn nicht erreichen. Konnte sich nicht bewegen. Überall in der Nähe des Pools waren Menschen. Sie fläzten sich in Sesseln oder saßen am Beckenrand und tauchten die Füße ins kalte Wasser. Sie versuchte, sich bei ihnen bemerkbar zu machen, doch kein Laut drang über ihre Lippen. Sie bemerkten nichts von ihrer Not.

Josh’ Strampeln wurde matter. Sein langes Haar breitete sich um seinen Kopf aus und wiegte sich auf den Wellen wie ein Wassertier. Seine kleinen Hände waren zu Fäusten geballt, als kämpfe er darum durchzuhalten. Doch es gab nichts, was Alana hätte tun können. Das Filtersystem des Schwimmbeckens sog ihn von ihr weg. Ihre Arme schmerzten von der Anstrengung, ihn zu erreichen, und in ihrem Kopf dröhnte ein furchtbarer Schmerz – sie wusste, es war die Strafe dafür, dass sie eine schlechte Mutter war.

Ihr Baby war dem Tod geweiht.

Und auch sie starb.

Sie hätte sich einem solchen Schicksal widerspruchslos gebeugt, aber die Wirklichkeit war noch viel grausamer.

Dann tauchte sie aus ihrem Albtraum auf.

Der Schmerz in ihrem Kopf rührte daher, dass einer der Wächter sie geschlagen und sie für einen kurzen Moment das Bewusstsein verloren hatte. Ihre Arme schmerzten, weil sie von ihrem Arbeitsplatz weggezerrt worden war, wo sie kurz vorher noch eine dünne Brühe in die Teller der anderen Gefangenen geschöpft hatte. Ihr Rücken war taub vor Schmerz, weil der Boden mit grobem Schotter bedeckt war und der Mann, der sie hinter sich her schleifte, es offenbar eilig hatte.

Ein anderer Wächter rief dem Mann, der sie geschlagen hatte, etwas zu. Er hielt mitten im Schritt inne und ließ sie einfach fallen. Sie achtete nicht auf den heftigen arabischen Wortwechsel, sondern lag ganz still und hoffte gegen alle Vernunft, dass man sie vergaß.

Das Bild von ihrem ertrinkenden Sohn, das ihre Fantasie wachgerufen hatte, um ihre augenblickliche Lage noch unerträglicher zu machen, quälte sie wie ein dumpfer Schmerz in ihrer Brust. Josh war mittlerweile elf Jahre alt und nicht mehr der Fünfjährige, den sie in ihrem Albtraum gesehen hatte. Und er war ein hervorragender Schwimmer.

Das Wortgefecht zwischen den Männern wurde hitziger, bis sich ein dritter Mann einmischte. Sie wusste, dass er einer der Anführer in dem Arbeitslager war: Ein ruhiges Wort aus seinem Mund beendete die Diskussion abrupt. Der Mann, der Alana geschlagen hatte, versetzte ihr nun einen leichten Tritt gegen die Rippen, zog sie auf die Füße hoch und gab ihr ein Zeichen, ihren Platz an dem langen Tisch einzunehmen, der als Essensausgabe für die Gefangenen diente. Das Servicepersonal war ausnahmslos weiblich, während es vorwiegend Männer waren, die wegen ihrer Essensrationen anstanden, Männer, die sichtlich unter der Hitze litten. Ihre Kleider hingen in Fetzen an ihren ausgemergelten Gestalten herab, und ihre Wangen glichen dunklen Löchern.

Alana war noch keine Woche hier und wusste bereits, dass die meisten dieser armen Seelen schon seit Monaten an diesem Ort weilten. Sie sahen nicht viel besser aus als die Gefangenen, die während des Zweiten Weltkriegs aus den Konzentrationslagern der Nazis befreit worden waren.

Als sie wieder ihren Platz hinter dem langen Tisch einnahm, murmelte die Frau neben ihr etwas auf Arabisch. »Tut mir leid, ich verstehe Sie nicht.« Die Frau, die früher einmal wohlbeleibt gewesen war, wie man an den schlaffen Fleischlappen an ihrem Hals erkennen konnte, deutete erst auf Alanas Augen und dann auf den Tisch. Sieh nicht die Wächter an, versuchte sie ihr klarzumachen. Jedenfalls verstand Alana es so. Oder sie meinte, sie solle immer nur auf ihre Arbeit achten. So oder so nahm sich Alana den Rat zu Herzen – und als der nächste Gefangene vor ihr stand, hob sie den Blick gerade so weit, dass sie den Teller sah, den er in seiner zitternden Hand hielt.

Nachdem sie ihr Essen und eine Tasse mit Wasser, das heiß genug war, um sich daran die Zunge zu verbrühen, erhalten hatten, nahmen die Gefangenen ihre Mahlzeit auf dem Erdboden sitzend ein. Einige hatten das Glück, sich mit dem Rücken an eins der alten Gebäude lehnen zu können. Die Gebäude waren zwei oder drei Stockwerke hoch und hatten verrostete Wellblechdächer. Die Wände bestanden aus brüchigem Sperrholz, das die Sonne ausgedörrt hatte. Auf der anderen Seite der Bauten verliefen Bahngleise, auf denen ein paar Waggons und zwei Lokomotiven standen. Eine davon war nicht viel größer als ein Lastwagen. Im Gegensatz zu den Gebäuden und den Waggons schienen die Lokomotiven deutlich jüngeren Datums zu sein, auch wenn sie mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Ein Stück das Bahngleis hinunter, das in einer halben Meile Entfernung eine Kurve beschrieb und zwischen den Bergen verschwand, war ein mächtiges verrostetes Stahlgebilde mit alten Förderbändern und Schüttrutschen zu erkennen, deren Stützen teilweise weggebrochen waren.

Sie hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass sie sich auf dem Gelände eines alten Steinkohlebergwerks befand und dass die Gefangenen gerade im Begriff waren, es wieder in Betrieb zu nehmen. Gruppenweise verließen die kräftigsten Gefangenen morgens das Lager, um am Bahngleis im Norden zu arbeiten, während andere in der riesigen offenen Grube auf dem Grund des Tals schufteten. Nur wenig schweres Gerät wurde eingesetzt, lediglich ein Kran auf einem Tiefladewaggon und zwei Planierraupen. Alle anderen Arbeiten wurden unter den wachsamen Blicken – und schnellen Fäusten – der Wächter von Hand ausgeführt.

Ein Flüstern lief durch die Reihen der Gefangenen, die gerade ihre kärgliche Mahlzeit verzehrten. Ihre Blicke wandten sich nach Osten zum Rand des Tals. Von dort näherte sich ein Fahrzeug, dessen Reifen auf der schmalen Fahrstraße dichte Staubwolken aufwirbelten.

Der Wagen glich dem, der die beiden Amerikaner eingesammelt hatte. Es war ein Wüstenfahrzeug mit hohen wulstigen Reifen und einem Maschinengewehr auf dem Dach. Während sich der Truck näherte, konnte Alana erkennen, dass ein Bündel auf seine Motorhaube geschnallt war. Dieses Bündel entpuppte sich als der Körper eines Mannes. Seine Kleider waren verschwunden, und seine einstmals dunkle Haut war rot verbrannt und schälte sich in breiten Streifen. Sie konnte erkennen, dass sich bereits irgendwelche Tiere an den Körper herangemacht haben mussten, denn in seinen Armen und seiner Brust klafften tiefe Wunden. Sein Gesicht war nur noch eine blutige Masse.

Die Patrouille war losgeschickt worden, um einen entflohenen Gefangenen zu verfolgen.

Der Lastwagen stoppte nicht weit von den großen Tischen entfernt, und die Beifahrertür wurde aufgestoßen. Der Mann, der ausstieg, unterhielt sich kurz mit dem Hauptmann der Wache. Dieser wandte sich danach mit einer Ansage an die Gefangenen. Alana brauchte die Sprache nicht zu beherrschen, um seine Erklärung zu begreifen, dass dies mit jedem geschähe, der zu fliehen versuchte. Danach zückte er ein Messer, durchschnitt die Stricke, die den Toten auf der Kühlerhaube fixierten, und entfernte sich. Der Leichnam landete mit einem dumpfen Laut auf dem Erdboden – und die Fliegen, die die Schüsseln mit dem Essen für die Gefangenen umschwärmt hatten, fanden plötzlich eine weitaus interessantere Beute.

Alana hatte nicht genug Essen im Magen, um sich übergeben zu können. Stattdessen beugte sie sich vor, stützte die Hände auf die Knie und würgte, bis sich ihr Magen zu einem harten Klumpen verkrampft hatte. Als sie sich wieder aufrichtete, betrachtete sie ein Wächter, den sie noch nicht kannte, mit offensichtlichem Interesse.

Eine halbe Stunde später, nach Beendigung der Mahlzeit, reinigten Alana und die anderen Frauen die Blechschüsseln, indem sie das Metall mit Händen voll Sand blank scheuerten. Nicht dass die Gefangenen, die in dem Bergwerk und am Bahngleis arbeiteten, auf ihren Tellern viel zurückgelassen hätten. Eines der wesentlichen Druckmittel, die die Wächter einsetzten, um die Kontrolle über die Gefangenen zu behalten, bestand darin, darauf zu achten, dass sie sich stets in einem Zustand kurz vor dem Verhungern befanden.

Sie kniete auf der Erde und schleuderte eine Handvoll Sand in einer Schüssel herum, als sich ein Schatten über sie beugte. Sie blickte auf. Die anderen Frauen starrten zu Boden, während sie ihre Arbeit fortsetzten. Alana wurde plötzlich auf die Füße gehievt und heftig herumgedreht. Es war der Wächter, der sie vorher geschlagen hatte. Er war ihr nahe genug, dass sie den Tabak in seinem Atem riechen und auch erkennen konnte, dass er nicht viel älter als zwanzig Jahre alt war. In seinen Augen lag ein seltsam lebloser Ausdruck. Er betrachtete sie nicht als menschliches Wesen. Aus seinem Blick konnte sie noch nicht einmal herauslesen, dass er sie für ein lebendiges Objekt hielt.

Die anderen Wächter, die das Dutzend Frauen beaufsichtigten, sahen bewusst zur Seite. Eine Vereinbarung war getroffen, ein Handel abgeschlossen worden. Solange er wollte, gehörte Alana Shepard diesem Mann.

Sie versuchte, ihm ein Knie in den Unterleib zu rammen, musste ihre Absichten jedoch so deutlich angekündigt haben, dass er sich rechtzeitig wegdrehte und ihr Knie nur seinen Oberschenkel traf. Sein lüsterner Gesichtsausdruck veränderte sich noch nicht einmal, als er sie auf dieselbe Wange schlug, die bereits anzuschwellen und sich dunkel zu verfärben begann.

Alana weigerte sich zu schreien oder zusammenzubrechen. Schwankend hielt sie sich auf den Füßen, bis der stechende Schmerz nachließ und ihr Kopf sich klärte. Der Wächter drehte sie abermals herum und schob sie dann mit einer knochigen Hand, deren Finger sich in ihre Schulter gruben, von den anderen weg.

In etwa hundert Metern Entfernung stand ein alter Schuppen. Die Hälfte seines Daches fehlte, und die Seitenwände bogen sich nach innen wie der durchgesessene Rücken eines altersschwachen Pferdes. Die Tür hing nur noch an einem rostigen Scharnier. Dicht vor der Schwelle versetzte der Wächter Alana einen ausreichend heftigen Stoß, so dass sie stolperte und zu Boden stürzte. Sie wusste, was jetzt käme, hatte etwas Ähnliches bereits auf dem College erlebt und sich geschworen, so etwas nie mehr zuzulassen. Als sie sich umdrehte, um vom Boden zu ihm hochzuschauen, wischte ihr Arm über den Boden, und ihre Hand sammelte Sand und kleine Steinchen auf.

Er stürzte vor und trat gegen ihr Handgelenk. Ihre Finger öffneten sich reflexartig, und ihr Arm wurde taub und kraftlos. Ihre armseligen Waffen rieselten herab. Er sagte etwas auf Arabisch und kicherte dabei spöttisch.

Alana öffnete den Mund, um einen Schrei auszustoßen, doch plötzlich war er auf ihr. Eine Hand presste er auf ihre Nase und ihren Mund. Was er mit der anderen Hand tat, versuchte sie zu verdrängen. Sie wand sich unter seinem Gewicht, wollte ihm in die Finger beißen und das Grässliche ausblenden, das gleich geschehen würde, aber er hielt sie auf der Erde fest. Sie konnte nicht atmen. Als er sich auf sie stürzte, hatte sie instinktiv ausgeatmet – und seine Hand verhinderte, dass sie ihre Lungen wieder mit Luft füllen konnte. Benommenheit legte sich auf ihr Bewusstsein, und nach ein paar Sekunden heftigster Gegenwehr streikte ihr Körper. Ihre Bewegungen wurden langsamer, matter. Eine aufkommende Ohnmacht legte sich wie ein schwarzer Schatten auf sie.

Dann ertönte ein lautes Knacken, ähnlich einem Knistern, das entsteht, wenn ein Bündel trockener Äste zerbrochen wird, und sie konnte sich wieder freier bewegen und einatmen. Über sich sah sie den Handrücken eines Mannes und den Hinterkopf ihres Peinigers. Der Wächter wurde von ihr heruntergezogen, und Alana konnte tief Luft holen. Aber es waren nur einige keuchende Atemzüge, die kaum ausreichten, ihre Lungen zu füllen. Der erfolglose Vergewaltiger landete neben ihr, so dass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. Falls so etwas überhaupt möglich war, brachte der Tod tatsächlich so etwas wie eine Spur Leben in seine starren Augen.

Neben ihr kniete der andere Wächter, der sie bei der Essenausgabe hatte würgen sehen. Er hatte dem Mann mit bloßer Hand das Genick gebrochen.

Nun sprach er mit sanfter Stimme zu ihr, und sie brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass sie seine Worte verstand. Er sprach Englisch. »Sie sind jetzt okay«, hatte er gesagt. »Seine Leidenschaft ist abgekühlt. Für immer.«

»Wer? Wer sind Sie?« Er hatte seine Kufiya heruntergezogen. Er war älter als alle anderen Wächter, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte, und seine Haut schien von einem Leben im Freien wettergegerbt zu sein. Außerdem bemerkte sie, dass im Gegensatz zu allen anderen Leuten, denen sie in letzter Zeit begegnet war, eins seiner Augen braun war und heftig tränte, während das andere in einem strahlenden Blau funkelte.

»Mein Name ist Juan Cabrillo, und wenn Sie am Leben bleiben wollen, müssen wir beide schnellstens von hier verschwinden.«

»Ich verstehe gar nichts.«

Cabrillo kam auf die Füße und reichte Alana eine Hand. »Das brauchen Sie auch nicht. Sie müssen mir nur vertrauen.«

 

Nachdem er während der Nacht bei Mondlicht das Tal durchquert und die Baustelle erreicht hatte, war es höchst einfach gewesen, sich zu der Anlage Zugang zu verschaffen. Die Wächter hatten den Befehl, die Menschen nicht herauszulassen. Besondere Anweisungen für den Fall, dass jemand, der genauso gekleidet war wie sie, hineingelangen wollte, gab es jedoch nicht.

Als man Juan wegen seines plötzlichen Erscheinens befragte, während er sich mit den anderen Männern nach dem Morgengebet anstellte, um sein Frühstück abzuholen, hatte er erklärt, er sei als Strafe vom anderen Lager herübergeschickt worden, weil er die Hindernisbahn nicht geschafft habe. Der junge Mann, der ihn angesprochen hatte, hielt die Antwort offenbar für ausreichend und äußerte sich nicht einmal dazu.

Wie selbstverständlich verschmolz Cabrillo mit der Landschaft um ihn herum – er war einer von vielen Arabern in Wüstentarnkleidung, das Gesicht mit einem karierten Tuch halb verhüllt. Nur in einem Punkt musste er sich vorsehen. Während seines Absturzes über den Steilhang hatte er eine seiner braunen Kontaktlinsen verloren. Die andere hatte er so gut es ging im Mund gesäubert, aber sie war vom Sand leicht zerkratzt worden – und jedes Mal, wenn er blinzelte, hatte er nun das Gefühl, als bearbeitete er seinen Augapfel mit Schleifpapier. Das Auge tränte ständig.

Er verbrachte den Vormittag damit, sich in dem Lager umzuschauen und sich alles einzuprägen. Dabei hielt er sich ständig in der Nähe anderer Wächter auf, um keinen Verdacht zu erregen. Er erkannte schnell, dass er sich in einem Arbeitslager befand. Dem Zustand der Gefangenen nach zu urteilen musste es schon geraume Zeit existieren – oder aber die Gefangenen waren nicht gerade in bester Verfassung gewesen, als sie hier eingetroffen waren. Er neigte zur zweiten Erklärung, da es nicht so aussah, als sei hier allzu lange gearbeitet worden.

Und genau das war der entscheidende Punkt, wie er nach gut zwei Stunden erkannte. Diese Leute sollten überhaupt nichts fertigstellen. Die Löcher, die sie auf dem Talgrund gegraben hatten, erschienen planlos, kein Bergbauingenieur schien sich dafür zu interessieren. Soweit er es beurteilen konnte, war die Wiederinbetriebnahme der Anlage eine reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, um sie müde und hungrig zu halten, dankbar für die armseligen Mahlzeiten, die an sie ausgeteilt wurden. Aber wer auch immer sie hierhergeschickt hatte, wollte sie am Leben erhalten. Zumindest bis auf Weiteres.

Das brachte ihn auf Ministerin Katamora und zu dem Gedanken, dass auch sie sich zurzeit in einer Art Schwebezustand befinden musste – weder tot noch lebendig. Zumindest gab es keine entsprechende offizielle Verlautbarung.

Indem er den anderen Wächtern aufmerksam zuhörte, gewann Juan einen ziemlich genauen Eindruck von dem Ort, nicht davon, welchen Sinn er hatte – darüber äußerte sich niemand –, sondern wer ihn bevölkerte. Er hörte jeden arabischen Akzent, den er sich vorstellen konnte, vom schlimmsten Gossenslang eines marokkanischen Slums bis hin zur kultivierten Sprache eines Saudis mit Universitätsstudium. Seine Vermutung, dass dies hier Terroristen waren, die man in den hintersten Winkeln des Nahen Ostens angeworben hatte, wurde durch den babylonisch anmutenden Sprachenwirrwarr nur bestätigt.

Irgendwann im Laufe des Tages hatte er sich dem Kommandozelt so weit nähern können, um den Soldaten, den er für den Chef der Wachmannschaften hielt, entweder in ein Funkgerät oder, was wahrscheinlicher war, in ein Satellitentelefon sprechen zu hören. Juan hielt inne, um sich einen Schuh zuzubinden, und wurde dabei von einem Wächter beobachtet, der vor dem Zelteingang Posten bezogen hatte. Er war sich ziemlich sicher, Suleiman Al-Jamas Namen gehört zu haben. Also achtete er darauf, nicht länger hier herumzulungern, sondern sich zu entfernen, ehe der Wächter misstrauisch wurde.

Während des Mittagessens erkannte er, dass nicht alle Gefangenen Araber waren. Er entdeckte unter den Häftlingen einen hellhäutigen Mann mit schütterem blondem Haar. Die Sonne hatte ihm grausam mitgespielt. Und als einer der Wächter eine der Serviererinnen schlug, sah er, dass auch sie nicht aus dieser Region stammte. Sie war eher zierlich, hatte kurz geschnittenes Haar, das nur zum Teil von dem Kopftuch bedeckt wurde, das man ihr gegeben hatte. Ihre Augen leuchteten grün. Zuerst tippte er auf eine Türkin, doch in ihrem Auftreten lag eine typisch amerikanische Selbstsicherheit, die ihn dazu brachte seine Vermutung zu revidieren.

Er hatte sie nachher im Auge behalten und hielt sich bereit, als ihr Quälgeist zurückkam, um sich an ihr dafür zu rächen, dass der Chef der Wachmannschaft ihn vor den Augen und Ohren aller Anwesenden abgekanzelt hatte.

Cabrillo trug das, was er als sein Nahkampfbein bezeichnete. Es war eine Prothese, die Kevin Nixon mit Hilfe des Waffenmeisters der Oregon in seinem Zauberladen ausgetüftelt und zusammengebaut hatte. In dem mit Plastikmaterial verkleideten Bein war ein Würgedraht versteckt, den er hätte benutzen können, sowie eine kompakte Kaliber-.380-Kel-Tec-Pistole. Die Waffe besaß keinen Schalldämpfer, daher blieb sie in seiner Tasche stecken. Er beabsichtigte, dem Mann das Genick zu brechen.

 

»Ich nehme an, ich habe keine Wahl«, sagte Alana, während sie Juans dargebotene Hand ergriff.

Der Schuppen war vom Mittelpunkt des Lagers so weit entfernt, dass keiner der Wächter ihn direkt sehen konnte. Sie wussten, was dort stattfinden würde, daher wagte niemand, offen zu ihm hinüberzublicken. Daher konnte sich Juan mit Alana unbeobachtet von der Baracke zu einem flachen Erdwall, der dahinter lag, schleichen. Sobald sie den Wall überwunden hatten, pressten sie sich flach auf den Boden und warteten, wobei Cabrillo das Lager weiter beobachtete und nach Anzeichen Ausschau hielt, dass man sie gesehen hatte.

Alles erschien völlig normal.

Nach ein paar Minuten entschied er, dass sie ungefährdet ihren Weg fortsetzen konnten. Er und sein neuer Schützling rutschten nun den Abhang hinab, schlugen die Richtung in die offene Wüste ein und ließen das Ausbildungslager für Terroristen hinter sich.

Er schätzte, dass sie etwa eine Stunde Zeit hätten, ehe jemand daran dachte, nach dem ausbleibenden Wächter zu suchen, und wenn sie unter den Gefangenen nach jemandem fahndeten, der fähig wäre, einem Mann das Genick zu brechen, würden sie sicherlich sofort mehrere entdecken, die dafür in Frage kämen. Die allgemeine Verwirrung würde vermutlich dafür sorgen, dass sie sich mit dem Aussenden einer Patrouille Zeit ließen. Jedoch machte er sich wegen möglicher Verfolger keine Sorgen. Er hatte während des Mittagessens gesehen, wie man mit Flüchtlingen verfuhr, und erkannt, dass sich die Wächter die Arbeit von der Wüste abnehmen ließen und darauf warteten, dass die Aasfresser sie zu ihren Jagdopfern führten.

Höchstwahrscheinlich würden sie in ein oder zwei Tagen ein Fahrzeug losschicken, um nach kreisenden Geiern Ausschau zu halten.

Zu diesem Zeitpunkt plante er allerdings, sich in der kupfernen Wanne in seiner Kabine an Bord der Oregon ausstrecken zu können, in einer Hand einen eiskalten Drink und eine Havanna in der anderen. Und weil er sein Satellitentelefon verloren hatte, würde ein blutgetränkter Verband sein Bein verschönern.