13
Die Musik steigerte sich, als sich das Finale ankündigte. Das Orchester hatte nie besser gespielt, hatte nie zuvor mehr Leidenschaft entwickelt. Das Gesicht des Dirigenten glänzte von Schweiß, sein Taktstock wirbelte und zuckte durch die Luft. Das Publikum jenseits der grellen Bühnenscheinwerfer war von der Darbietung gebannt und wusste, dass es an einem magischen Moment teilhatte. Das rhythmische Donnern der Paukisten klang wie Artilleriefeuer, doch selbst das konnte die Streicher und die Holzbläser nicht übertönen.
Dann erklang ein seltsames Geräusch.
Die Musiker gerieten aus dem Takt, fingen sich aber sofort wieder.
Das dumpfe Pochen ertönte noch ein weiteres Mal, gefolgt von einem scharfen Klicken, und die Musik verstummte.
Fiona Katamora kehrte von dem Konzert zurück, das sie in ihrer Fantasie gegeben hatte, die rechte Hand ausgestreckt, als führe sie einen imaginären Bogen, die Finger der linken Hand gekrümmt, um sie auf die Saiten zu legen.
Im Geist zu musizieren, das war, seit sie gefangen genommen worden war, der einzige Weg, den Verstand nicht zu verlieren.
Ihre Zelle bestand aus einer eintönigen metallenen Box mit einer einzigen Tür und einem Nachttopf, der nur selten geleert wurde. Eine trübe Glühbirne, geschützt von einem Drahtgitter, war die einzige Beleuchtung. Sie hatten ihr die Armbanduhr abgenommen, daher konnte sie nicht feststellen, wie lange sie schon gefangen saß. Sie schätzte: ungefähr vier Tage.
Sekunden vor der Notlandung in der offenen Wüste hatte ihr Pilot über die Sprechanlage gemeldet, dass er einen alten Flugplatz entdeckt habe. Er schaffte es, ihren Sinkflug noch um einige Meilen zu verzögern, und dann setzte die Maschine auf. Die Landung auf der Schotterpiste war zwar rau, doch er hatte sie immerhin heil heruntergebracht. Der Jubel, der ausbrach, als die Räder endlich stoppten, war ohrenbetäubend gewesen. Alle waren aufgesprungen, hatten einander umarmt und gejubelt und sich die Freudentränen abgewischt.
Als der Pilot und der Kopilot aus dem Cockpit kamen, wurde ihnen der Rücken grün und blau geklopft – und man schüttelte die Hände, bis sie abzufallen drohten. Frank Maguire hatte die Kabinentür geöffnet, ein warmer Wüstenwind hatte den Gestank der Angst aus der Kabine geweht.
Und dann war sein Kopf explodiert, und Blut und Gehirnmasse hatten die Stewardess besudelt, die hinter ihm stand.
Sie waren alles andere als einsam gestrandet. Männer tauchten entlang der Rollbahn auf, wo sie sich in Erdlöchern versteckt gehalten hatten, die mit Abdeckplanen und Sand getarnt waren. Sie trugen Khakiuniformen. Die Köpfe hatten sie mit Tüchern umwickelt. Mehrere trugen Leitern, und ehe jemand daran dachte, die Kabine wieder zu schließen, wurde eine Leiter gegen die Schwelle gelehnt. Der Pilot beeilte sich, sie wegzustoßen – wie ein Ritter, der eine Burgmauer beschützt. Er wurde vom selben Scharfschützen, der schon Maguire getötet hatte, in der Schulter getroffen. Er brach zusammen, eine Hand auf die Schusswunde gepresst. Sekunden später standen drei Männer mit Kalaschnikows im Anschlag in der Kabine.
Fionas Assistentin, Grace Walsh, stieß einen derart schrillen Schrei aus, dass sich Fiona später daran erinnern konnte, sich darüber geärgert zu haben, während sie gleichzeitig um ihr Leben fürchtete.
Alles geschah so schnell. Sie wurden von der offenen Tür weggetrieben, um weiteren Männern, die sich ins Flugzeug drängten, Platz zu machen. Dabei wiederholten die Terroristen ständig auf Arabisch: »Runter! Alle auf den Boden!«
Irgendwie schaffte es Fiona, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. »Wir tun, was Sie sagen. Es gibt keinen Grund für Gewalt.« Dabei war sie auf die Knie gesunken.
Als sie sahen, dass sie gewissermaßen die Führung übernommen hatte, folgten die Flugzeugbesatzung und die Angehörigen ihres Stabes ihrem Beispiel und knieten sich ebenfalls auf den Kabinenboden.
Einer der Männer zog Fiona auf die Füße und stieß sie nach vorn zum Ausgang, während gleichzeitig ein anderer Mann die Leiter hochstieg. Im Gegensatz zu den anderen trug er eine dunkle Hose und ein weißes kurzärmeliges Oberhemd.
In dem Moment, als Fiona ihn erblickte, wusste sie, dass sie sein Gesicht nie mehr vergessen würde. Es war engelhaft, mit glatter kaffeebrauner Haut und langen gekräuselten Wimpern hinter einer Metallrandbrille. Er konnte nicht älter als zwanzig Jahre alt sein, schlank, und sah fast wie ein Gelehrter aus. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Beziehung er zu den Wilden stand, die mit ihren Gewehren herumfuchtelten und ihre Leute anbrüllten. Dann bemerkte sie, dass er etwas in den Händen hielt: eine arabische Perlenkette und eine Ausgabe des Korans.
Er lächelte versonnen, während er an ihr vorbeiging und in das Cockpit geleitet wurde.
Sie drehte sich um und sah, dass ihre Leute mit Handschellen an ihre Sitze gefesselt wurden. Als sie den Sinn dieser Aktion begriff, wurde sie von einer Woge des Grauens überrollt.
»Bitte tun Sie das nicht«, flehte sie den Mann an, der ihren Arm gepackt hatte.
Er schob sie noch brutaler zur Leiter. Fiona wurde rasend, bearbeitete sein Gesicht mit den Fingernägeln und versuchte, ihm ein Knie in den Unterleib zu rammen. Es gelang ihr immerhin, seine Kufiya herunterzureißen, und sie sah, dass sein Gesicht nicht die typischen Züge eines Libyers hatte. Sie vermutete, dass er ein Pakistani oder ein Afghane war. Er ballte die Faust und versetzte ihr einen Schlag, der ausreichte, um ihr für einen kurzen Moment das Bewusstsein zu nehmen. Hatte sie sich soeben noch mit Händen und Füßen gewehrt, lag sie im nächsten Moment auf dem Kabinenteppich, während die linke Hälfte ihres Gesichts ein einziger pulsierender Schmerz war. Männer standen draußen auf der Leiter und begannen, sie aus dem Flugzeug zu zerren.
Fiona fing Graces Blick auf, ehe sie weggeschleift wurde. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihre Tränen zu unterdrücken. Auch Grace begriff, was nun geschehen würde.
»Gott schütze Sie«, flüsterte Grace.
»Sie auch«, erwiderte Fiona stumm, und dann war sie draußen und wurde nach unten gereicht.
Sie brachten sie etwa dreißig Meter vom Flugzeug weg und zwangen sie, niederzuknien. Dann fesselten sie ihr die Hände auf dem Rücken. Durch das kleine Cockpitfenster konnte sie erkennen, wie sich der junge Mann an den Kontrollen zu schaffen machte. Außerdem sah sie, dass im hinteren Abschnitt des Flugzeugrumpfs ein Loch klaffte. Offenbar war das Flugzeug von einer Rakete getroffen worden, die jedoch nicht explodiert war. Was, wie sie vermutete, auch so beabsichtigt gewesen war. Sie wollten sie in ihre Gewalt bringen, doch die Welt sollte denken, dass sie den Tod gefunden hatte.
Der letzte der Terroristen, die die an Bord zurückgelassenen Personen fesselten, beendete sein Werk. Der Selbstmordpilot verließ das Cockpit und umarmte den letzten Terroristen an der Kabinentür. Er blieb ganz kurz dort stehen und winkte den anderen, die ihm euphorisch zujubelten. Als der Terrorist auf der Piste stand und die Leiter weggenommen worden war, schloss der Pilot die Tür und nahm seinen Platz im Cockpit wieder ein.
Tränen rannen über Fionas Wangen. Sie konnte Gesichter sehen, die sich gegen die Kabinenfenster pressten. Dies waren ihre Leute – Männer und Frauen, mit denen sie seit Jahren zusammenarbeitete. Wegen ihnen wollte sie keine Schwäche zeigen und zwang sich, nicht mehr zu weinen.
Das noch intakte Triebwerk sprang an, und sein Heulen steigerte sich, bis ihre Ohren es kaum mehr ertragen konnten. Entlang der Schotterpiste waren unter Tarnplanen Fahrzeuge versteckt gewesen. Eins dieser Fahrzeuge war ein kleiner Traktor, wie sie auf Flughäfen auf der ganzen Welt im Einsatz sind. Er näherte sich dem vorderen Fahrwerk des Flugzeugs, dann nahm es der Fahrer an den Haken.
Er brauchte einige Minuten, um das Flugzeug zum Anfang der Rollbahn zu ziehen. Einige weitere Sekunden verstrichen, ehe der Triebwerkslärm anschwoll und die Boeing auf der Rollbahn beschleunigte.
Fiona betete, dass die von dem Raketentreffer verursachten Schäden ausreichten, um zu verhindern, dass die Maschine überhaupt genügend Startgeschwindigkeit erreichte. Aber mit so wenig Treibstoff in den Tanks und so wenigen Passagieren an Bord gewann die Maschine recht schnell an Tempo. Sie raste an ihr vorbei, wobei die Abgase wie ein stinkender heißer Atem auf sie wirkten. Die Terroristen schossen in die Luft und brachen in Freudengeschrei aus, als sich das vordere Fahrwerk der Maschine langsam vom Boden löste. Lange blieb es in dieser Position, und dann scharrte das Flugzeugheck über den Untergrund, eine Folge der Schäden und der Unerfahrenheit des Piloten.
Die Nase senkte sich wieder auf die Erde, und Fiona war sicher, dass ihre Gebete erhört worden waren. Das Ende der Rollbahn war bald erreicht. Die Maschine würde nicht starten können.
Und dann erhob sich die Maschine doch majestätisch in die Luft. Der Jubel verdoppelte sich, und die Menge an Munition, die in den Himmel gefeuert wurde, war einfach atemberaubend.
Fiona biss sich auf die Lippe, während der Jetliner an Höhe gewann. Sie hatte keine Ahnung, wie weit er fliegen sollte. Sie überlegte sich, dass die Maschine wahrscheinlich Kurs auf Tripolis nahm, um auf die Konferenzhalle zu stürzen, wo der Friedensgipfel stattfinden sollte. Dennoch machte keiner der Terroristen Anstalten, den Ort zu verlassen. Alle blickten zum Himmel, während das Flugzeug am Himmel schnell kleiner wurde. Sie konnte es nicht ertragen, der Maschine nachzublicken, schaffte es jedoch auch nicht, ihren Blick davon zu lösen.
Beim Hochziehen legte sich das Flugzeug in eine Kehrtkurve und flog in Richtung eines weiter entfernten Berges. Der Pilot versuchte, die Maschine wieder unter Kontrolle zu bekommen, und für einen Moment fing sie sich auch und lag waagerecht in der Luft. Dann drehte sie sich abrupt auf den Rücken – und krachte mit einer derartigen Wucht gegen den Berg, dass der Untergrund bebte. Trümmer wirbelten in alle Richtungen. Die Tragflächen brachen vom Rumpf ab, ehe sie in Flammen aufgingen. Eins der Triebwerke wurde aus seiner Verankerung gerissen und hüpfte sich überschlagend bergauf, wobei jeder Bodenkontakt eine Erdfontäne auslöste. Dichte Staubwolken verdeckten für längere Zeit die Sicht, ehe sie sich dann langsam auflösten. Die Tragflächen brannten weiter, während die weiße Röhre des Flugzeugrumpfs außer Reichweite des Feuers rollte.
Fiona verschlug es den Atem, während die Männer ringsum in laute Jubelrufe ausbrachen.
Selbst aus dieser Entfernung konnte sie noch erkennen, dass jeder der Insassen bei der Katastrophe den Tod gefunden hatte. Obgleich ihnen das Grauen, bei lebendigem Leib zu verbrennen, erspart geblieben war, konnte doch niemand den Absturz überlebt haben. Ein Stück von ihr entfernt und außer Hörweite begannen mehrere Terroristen mit ernsten Mienen miteinander zu diskutieren. Aus ihrer Körpersprache konnte sie ihre Enttäuschung ablesen, dass das Flugzeug nicht vollständig verbrannt war. Offenbar berieten sie darüber, wie sie jetzt weiter verfahren sollten.
Auf der anderen Seite der Rollbahn wurde eine Plane von einer großen Erdräummaschine heruntergezogen. Ihr Motor heulte auf, und sie begann die Beweise für das soeben Geschehene zu beseitigen, indem sie systematisch die Piste umpflügte, die sie wohl einzig dazu angelegt hatten, um Fionas Piloten zu einer Landung zu verleiten. Bei dem Tempo, das sie dabei vorlegten, wäre hier schon in wenigen Stunden kein Hinweis auf ihre Anwesenheit mehr zu finden.
Die Beratung endete abrupt. Der Mann, den Fiona für den Anführer des Trupps hielt, gab den anderen einige knappe Befehle. Das meiste entging ihr zwar, doch sie konnte immerhin verstehen, wie er sagte: »Beseitigt sämtliche Spuren, dass das Flugzeug von einer Rakete getroffen wurde, und vergesst die Handschellen nicht.« Schließlich kam er zu der Stelle herüber, wo sie auf dem felsigen Untergrund kniete.
»Warum haben Sie das getan?«, fragte sie auf Arabisch.
Er beugte sich zu ihr hinab. Alles, was sie sehen konnte, waren seine Augen, in denen der Wahnsinn irrlichterte. »Weil Allah es so gewollt hat.« Er gab einem seiner Männer ein Zeichen. »Nehmt sie mit«, rief er. »Suleiman Al-Jama wird seine Beute begutachten wollen.«
Eine Kapuze wurde über ihren Kopf gestülpt, und dann wurde sie in einen Lastwagen gehoben. Als sie endlich wieder etwas sehen konnte, befand sie sich in dieser Zelle, bekleidet mit einem Ganzkörperschleier, den sie als afghanische Burka identifizierte. Ihr gesamter Körper war darin eingehüllt – bis auf ihre Augen, die hinter einem Netz aus feiner Spitze verschwanden.
Das Geräusch, das das Konzert in ihrem Kopf beendet hatte, war ein Schlüssel, der ins Türschloss geschoben wurde und den Riegel zurückschnappen ließ. Quietschend schwang die Tür auf. Außer dem Gesicht des Selbstmordpiloten und des Mannes, gegen den sie sich im Flugzeug zur Wehr gesetzt hatte, waren ihr die Gesichter ihrer Kidnapper bisher ausnahmslos verborgen geblieben. Dies traf auch auf die beiden Männer zu, die in der Türöffnung standen. Sie trugen identische Khakiuniformen ohne Rangabzeichen und dazu die traditionellen Kopftücher.
Einer von ihnen gab tatsächlich ein wütendes Knurren von sich, als er sah, dass sie es trotz ihrer gefesselten Hände geschafft hatte, sich von der Burka zu befreien und sie als Kopfkissen zu benutzen. Die Augen abwendend, um ihr nicht ins Gesicht zu blicken, hob er das Kleidungsstück vom Fußboden auf und drapierte es schnell über ihren Kopf und ihren Körper.
»Du wirst Respekt zeigen«, sagte er.
»Ich erkenne Ihren Akzent«, erwiderte Fiona. »Sie kommen aus Kairo. Aus den Imbaba-Slums, wenn ich mich nicht irre.«
Er hob eine Hand, um sie zu schlagen, hielt dann jedoch inne. »Das nächste Mal, wenn du wieder zu reden wagst, bekommst du meine Faust zu spüren.«
Die Wachen holten sie aus der Zelle und führten sie aus dem Gefängnisgebäude hinaus. Sie war für das Spitzengitter dankbar, weil es ihre Augen vor dem grellen Schein der Sonne schützte, die den Wüstenboden unbarmherzig durchglühte. Am Stand der Sonne konnte sie erkennen, dass es später Vormittag war, allerdings längst nicht so warm, wie es eigentlich hätte sein müssen. Daraus schloss sie, dass sie sich irgendwo in den Bergen befanden.
Sich solche Details zu merken und in Gedanken klassische Musik zu spielen hielt Fiona davon ab, allzu intensiv über ihre Notlage und das Schicksal ihrer Freunde und Mitarbeiter nachzudenken.
Das Terroristencamp sah genauso aus wie Hunderte anderer, die sie auf Satellitenfotos schon gesehen hatte. Ein paar im Wind flatternde Zelte drängten sich an eine steile Felswand, die mit zahllosen Höhlen übersät war. Sie wusste, dass die größte ihre letzte Zuflucht wäre, wenn das Lager angegriffen würde, und sie hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie mit ausreichend Sprengstoff präpariert war, um den Berg mindestens zur Hälfte zu zertrümmern.
Ein Ausbilder veranstaltete mit einer Gruppe Männer Freiübungen auf dem Exerzierplatz. Ihren zackigen Bewegungen nach zu urteilen, standen sie kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung. Ein Stück entfernt, im Windschatten des Berges, der das Lager überragte, hatte sich eine andere Gruppe zu Schießübungen mit den obligatorischen AK-47er Kalaschnikows versammelt. Die Ziele waren zu weit entfernt, als dass Fiona ihre Schießleistungen hätte beurteilen können. Doch angesichts der Geldströme, die zu Terroristengruppen wie der Al-Jamas geleitet wurden, konnten sie es sich erlauben, Munition zu verschwenden, indem sie auch noch die unfähigsten Rekruten ausbildeten.
Jenseits des Schießstandes konnte sie eine halbe Meile weit in ein seichtes Tal hineinblicken, das an seinem Ende von einem noch wuchtigeren Bergmassiv abgeschlossen wurde. In diesem Tal waren gerade Ausschachtungsarbeiten im Gange. Außerdem befand sich dort ein Eisenbahngleis. Sie konnte mehrere geschlossene Güterwagen auf einem Abstellgleis unweit einer Reihe verfallener Holzbauten erkennen. Auf der anderen Seite der Gebäude türmte sich eine riesige Diesellokomotive auf, die eine kleinere Lok, die im Wesentlichen dem Lastwagen ähnelte, der sie hierhergebracht hatte, regelrecht zu erdrücken schien. Die Burka machte es ihr jedoch unmöglich, weitere Einzelheiten zu erkennen.
Auch diesmal besaß sie keinerlei Informationen über den Ort. In keinem der Berichte der CIA, der NASA und des FBI, die sie bis zum Überdruss gelesen hatte, war von einem Terroristenlager in der Nähe eines Endbahnhofs die Rede gewesen. Nach so vielen Jahren des Krieges gegen den Terrorismus hinkten sie dem Feind immer noch kläglich hinterher.
Die Wachen brachten sie in eine Kammer, ein kurzes Stück von der Haupthöhle entfernt. Stromkabel und alle drei Meter eine Glühbirne waren an der Decke befestigt. Die Luft war spürbar kälter, dabei roch es wie in dem alten Kellergewölbe eines lange Zeit unbenutzten Gebäudes. Sie kamen zu einer Trennwand aus Holz, mit einer Tür darin. Der Wächter, der ihr gedroht hatte, sie zu schlagen, klopfte an und wartete, bis er von drinnen eine Antwort erhielt.
Dann öffnete er die Tür. Sie befanden sich im hinteren Teil der Höhle. Drei Seiten des Raums bestanden aus rohem, weitgehend unbehauenem Stein. Dicke persische Teppiche bedeckten den Boden, und eine mit Glut gefüllte Kohlewanne stand in einer Ecke und war durch ein Ofenrohr, das parallel zu den Stromkabeln verlief, mit der Außenwelt verbunden.
Ein Mann saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in der Mitte des Raumes. Er trug ein strahlend weißes Gewand. Sein Kopf war mit einer schwarzweißen Kufiya bedeckt. Er las bei dem gedämpften Licht in einem Buch – im Koran, vermutete sie. Er blickte nicht auf oder nahm anderweitig Notiz von ihrer Anwesenheit.
Die Art und Weise, wie er sich in Szene setzte, war Fiona nicht fremd. Wäre dies ihr Büro gewesen, hätte sie an ihrem Schreibtisch gesessen, einen Schreibstift in der Hand und in ein wichtig wirkendes Dokument vertieft. Sie ließ Besucher stets bis zu dreißig Sekunden lang warten – doch dieser Mann ließ sich eine ganze Minute Zeit, ehe er aufblickte. Seine Taktik, Dominanz zu demonstrieren, verfehlte jedoch gänzlich ihre Wirkung auf sie.
»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte er und schlug mit einer Geste der Ehrerbietung den Koran zu.
»Ali Baba?«, sagte sie, um ihn zu reizen.
»Werden Sie dann meine Scheherazade sein?«
»Nur über meine Leiche.«
»Das gehört zwar nicht gerade zu meinen Vorlieben, aber ich denke, man könnte es so einrichten.«
Fiona hatte nicht den Wunsch, ihm Gelegenheit zu geben, sich als etwas anderes darzustellen als das Monster, das er doch war. »Niemand kennt Ihren richtigen Namen, aber man nennt Sie Suleiman Al-Jama. Ihre erklärte Absicht ist die Vernichtung Israels und der Vereinigten Staaten und die Erschaffung eines Islamischen Staates, der von Afghanistan bis nach Marokko reicht, mit Ihnen als … Sultan?«
»Ich weiß noch nicht, welchen Titel ich wählen werde«, sagte Al-Jama. »Sultan würde passen, aber dem haftet etwas Dekadentes an, meinen Sie nicht? Harems, Palastintrigen und so weiter.«
Er erhob sich in einer schnellen fließenden Bewegung und holte sich aus einem Messingsamowar neben dem Kohlebecken Tee. Seine Bewegungen waren elegant, in ihrer Geschmeidigkeit aber auch raubtierhaft. Er schenkte sich ein Glas ein, bot Fiona jedoch keins an.
Nun, da er stand, sah sie, dass er fast einen Meter achtzig maß, breitschultrig und, dem Umfang seiner bloßen Handgelenke nach zu urteilen, von kräftiger Statur zu sein schien. Sie konnte aber sein Gesicht nicht erkennen und im flackernden Licht und durch das Netz der Burka auch von seinen Augen nicht mehr sehen, als dass sie in tiefen Höhlen lagen und dunkel wirkten.
»Ihr Jesus sagt doch, ›Gesegnet sind die Friedensstifter.‹ Wussten Sie, dass er im Islam ein Prophet ist? Natürlich nicht der letzte. Das ist Mohammed, Friede sei mit ihm. Aber Ihr Erlöser wird immerhin als bedeutender Lehrer anerkannt.«
»Wir verehren beide, den Gott Isaaks und Abrahams«, sagte Fiona.
»Aber Sie glauben nicht an seine abschließenden Verkündigungen, an seinen letzten auserwählten Propheten, an die heiligen Worte, die durch Mohammed überliefert und im Koran niedergeschrieben wurden.«
»Mein Glaube beginnt und endet mit einem Tod und der Wiederauferstehung.«
Al-Jama sagte dazu nichts, aber sie erkannte, dass er eine scharfe Entgegnung auf der Zunge hatte. Schließlich murmelte er: »Zurück zu dem Ausspruch. Glauben Sie, dass Sie gesegnet sind?«
»Wenn ich der Gewalt ein Ende machen kann, dann, so denke ich, ist dieses Werk gesegnet, aber nicht diejenigen, die daran mitgewirkt haben.«
Er nickte. »Gut gesprochen. Aber warum? Warum wünschen Sie den Frieden?«
»Wie können Sie so etwas fragen?« Trotz ihrer vorherigen Vorbehalte spürte sie, wie sie sich für diese Unterhaltung zu erwärmen begann. Sie hatte am ehesten eine Hasstirade gegen das Böse des Westens erwartet, aber doch kein intellektuelles Frage-und-Antwort-Geplänkel. Es war offensichtlich, dass der selbsternannte Suleiman Al-Jama hoch gebildet war, daher interessierte es sie, wie er seine Version des Massenmords rechtfertigte. Sie hatte sich Tonbänder von Bin Ladens Reden angehört, hatte Transkripte von Aussagen der Insassen von Guantánamo gelesen und sich Dutzende von Märtyrer-Videos angesehen. Sie wollte wissen, wie er sich davon unterschied, obwohl sie doch längst wusste, dass der Unterschied, falls es überhaupt einen gab, überhaupt keine Bedeutung hatte.
Al-Jama sagte: »Friede bedeutet Stillstand, meine geschätzte Ministerin. Wenn der Mensch im Frieden lebt, verkümmert seine Seele, und sein kreativer Geist erstickt. Erst im Konflikt werden die Menschen zu jenen Wesen, die Allah vorschwebten. Der Krieg bringt Tapferkeit und Opferbereitschaft hervor. Was aber bringt uns der Frieden? Nichts.«
»Der Frieden bringt uns Wohlstand und Glück.«
»Dies sind Annehmlichkeiten des Fleisches, nicht des Geistes. Frieden bedeutet für Sie der Besitz eines besseren Fernsehers oder eines luxuriöseren Autos.«
»Während Ihr Krieg Verzweiflung und Not zur Folge hat«, konterte Fiona.
»Dann verstehen Sie es also doch. Denn dies sind Dinge des Geistes, nicht des Fleisches. Dies ist es, was wir empfinden sollen. Nicht die Annehmlichkeit eines prächtigen Zuhauses, sondern die Erfahrung gemeinsam ertragener Mühsal. Dies ist es, was uns Allah näherbringen kann. Nicht Ihre Demokratie, nicht Ihre Rockmusik, nicht Ihre pornografischen Filme. Sie lenken uns nur vom wahren Sinn unserer Existenz ab. Wir dienen keinem anderen Zweck, als uns dem Willen Allahs zu unterwerfen.«
»Wer weiß denn, was sein Wille ist?«, fragte sie. »Wer hat entschieden, dass Sie seine Absichten besser kennen als jeder andere? Der Koran verbietet den Selbstmord – und dennoch haben Sie einem jungen Mann befohlen, ein Flugzeug voller Menschen absichtlich gegen einen Berg zu lenken.«
»Er ist als Märtyrer gestorben.«
»Nein«, widersprach sie heftig. »Sie haben irgendeinen armen Jungen davon überzeugt, dass er den Märtyrertod stirbt und von seinen siebenundsiebzig Jungfrauen im Himmel erwartet wird. Aber machen Sie mir bitte nicht weis, dass Sie selbst auch nur für einen winzigen Moment daran glauben. Sie sind nichts anderes als ein billiger kleiner Gauner, der nach Macht hungert und den blinden Glauben einiger weniger ausnutzt, um seine eigenen Ziele zu verwirklichen.«
Suleiman Al-Jama klatschte in die Hände und lachte belustigt auf. Er verfiel ins Englische. »Bravo, Ministerin Katamora. Bravo.«
Zwar konnte er es wegen der Burka, die sie trug, nicht sehen, aber jetzt huschte ein überraschter Ausdruck über Fionas Gesicht. Der plötzliche Wechsel in der Sprache und Eindringlichkeit ihrer Unterhaltung verwirrte sie für einen kurzen Augenblick.
»Sie erkennen anscheinend, dass es immer nur um die Weltmacht ging. Vor einigen Jahrhunderten konnte England sie dank einer überlegenen Marine erringen. Die Vereinigten Staaten haben sie jetzt inne – dank ihres Wohlstands und ihrer Atombomben. Was haben aber die Nationen des Nahen Ostens außer der Bereitschaft einiger ihrer Bürger, sich selbst in die Luft zu sprengen? Eine primitive Waffe ist das, sicherlich. Aber verraten Sie mir doch mal, wie viel Ihr Land für die Homeland Security aufgewendet hat, seit eine Handvoll mit primitiven Messern bewaffnete Männer zwei Ihrer höchsten Gebäude zum Einsturz gebracht haben? Hundert Milliarden? Fünfhundert Milliarden?«
Die Zahl betrug zwar eher eine Billion, aber Fiona sagte nichts. Das lief ganz und gar nicht so, wie sie erwartet hatte. Sie hatte angenommen, Al-Jama würde einige verstümmelte Passagen aus dem Koran zitieren, um seine Taten zu rechtfertigen, und nicht sich selbst als jemanden offenbaren, dem es nur um Macht ging.
»Vor den Angriffen auf das World Trade Center war einer von fünfhunderttausend Muslimen bereit, den Märtyrertod zu sterben. Seitdem hat sich die Zahl verdoppelt. Das wären dann zehntausend Männer und Frauen, die bereit sind, sich im Dschihad gegen den Westen in die Luft zu sprengen. Glauben Sie wirklich, Sie könnten zehntausend Angriffe verhindern? Solche Leute wie der junge Mann, der das Flugzeug lenkte, und auch Bin Laden in seiner Felshöhle in Pakistan – das sind unbedeutende Spielfiguren, Werkzeuge, die man benutzt und anschließend wegwirft. Wir verfügen jetzt über einen unerschöpflichen Vorrat an bereitwilligen Märtyrern und werden sie schon bald in sorgfältig geplanten Angriffen einsetzen, die den Verlauf der Landesgrenzen auf diesem Planeten auf eine Art und Weise verändern werden, wie sie mir bereits seit Langem vorschwebt.«
Er sagte dies allerdings überhaupt nicht wie ein Fanatiker, sondern eher wie ein Konzernchef, der sich zu den Wachstumsmöglichkeiten seiner Firma äußert.
»Das kann doch wirklich nicht Ihr Ernst sein«, flehte ihn Fiona an.
»Es ist zu spät, um es aufzuhalten.« Er zog die Kufiya von seinem Gesicht herab. Fiona kämpfte beim Anblick seines Gesichts gegen eine aufkommende Ohnmacht. »Und Ihr Tod wird der erste Schlag sein.«