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Bahiret el Bibane Tunesien

Alana machten der Sand und die enorme Hitze, die in endlosen Wellen aus der Wüste kam und sie umwaberte, nichts aus. Was ihr dagegen wirklich zusetzte, waren die Fliegen. Ganz gleich wie viel Creme sie sich auf die Haut schmierte oder wie oft sie nachts ihr Moskitonetz überprüfte, sie konnte diesen geflügelten Bestien nicht entgehen. Nach fast zwei Monaten an der Ausgrabungsstätte vermochte sie nicht mehr festzustellen, wo die eine Schwellung endete und die nächste begann. Zu ihrem Erschrecken schienen die einheimischen Arbeiter die stechenden Insekten noch nicht einmal zu bemerken. Um sich ein wenig zu trösten, überlegte sie, welche Unannehmlichkeiten Arizona, wo sie geboren war, wohl bereithielt, die diese Leute nicht klaglos ertragen würden. Doch ihr fiel nichts Schlimmeres ein als einige gelegentliche Verkehrsstaus.

Elf Amerikaner und fast fünfzig Lohnarbeiter waren mit den archäologischen Ausgrabungen beschäftigt und standen unter der Leitung von Professor William Galt. Sechs der elf Amerikaner waren Post-Doktoranden wie Alana Shepard. Die anderen fünf besuchten noch die Universität von Arizona. Das Zahlenverhältnis von Männern zu Frauen betrug acht zu drei, doch bisher hatte sich dies keineswegs als problematisch erwiesen.

Offenbar befanden sie sich an einem römischen Fundort, eine halbe Meile landeinwärts vom Mittelmeer entfernt. Man hatte dieses Feld lange für den Standort einer Sommerresidenz des Claudius Sabinus, der der örtliche Gouverneur gewesen war, gehalten. Doch es stellte sich heraus, dass der Komplex verfallener Gebäude noch eine Überraschung bereithielt. Offenbar gehörte zu der Anlage nämlich auch ein großer Tempel, von dessen Existenz bislang nichts bekannt gewesen war. Unter den Archäologen im Lager kursierte nun die Auffassung, dass Sabinus Oberhaupt einer Sekte gewesen sein könnte und, wenn man den Zeitpunkt seines Wirkens in dieser Gegend betrachtete, die Vermutung nahelag, dass er möglicherweise zum christlichen Glauben übergetreten war.

Professor Bill, wie Galt am liebsten genannt wurde, hatte für diese Hypothese zwar nur ein ungehaltenes Stirnrunzeln übrig, aber er konnte seine Leute nicht davon abhalten, während der Mahlzeiten ausgiebig über diese Möglichkeit zu diskutieren.

Doch das war alles nur eine Tarnung. Alana und ihr kleines Dreier-Team waren in Wahrheit aus einem ganz anderen Grund hier. Zwar hatten ihre Aktivitäten einen archäologischen Hintergrund, doch bestand ihre Mission weniger darin, die Vergangenheit aufzudecken, als die Zukunft zu retten.

Bisher allerdings lief es keineswegs gut. Sieben Wochen intensiver Suche hatten nichts erbracht, und sie und die anderen gelangten allmählich zu der Überzeugung, dass ihre Bemühungen umsonst waren.

Sie konnte sich entsinnen, wie begeistert sie von dem Projekt gewesen war, als Christie Valero vom Außenministerium es ihr vorgestellt hatte, doch nun hatte die Wüste schon längst auch den letzten Rest ihres Enthusiasmus verdorren lassen.

Mit ihren ein Meter sechzig Körpergröße wurde Alana Shepard oft für eine ihrer studentischen Hilfskräfte gehalten, obwohl sie in einem Jahr bereits ihren vierzigsten Geburtstag feiern sollte. Sie war zweimal geschieden – die erste Ehe war ein großer Fehler gewesen, den sie gemacht hatte, als sie achtzehn Jahre alt gewesen war, und die zweite hatte einen noch größeren Fehler bedeutet, der ihr Ende zwanzig unterlaufen war – und besaß einen Sohn, Josh, der immer bei ihrer Mutter wohnte, wenn sich Alana an irgendwelchen Ausgrabungsprojekten beteiligte.

Weil kurzes Haar in der Wüste leichter zu pflegen war, hatte sie die Locken über ihrer Stirn so weit wie möglich abschneiden lassen, während ihre Haarpracht hinten kaum bis zum Nacken reichte. Sie war zwar nicht das, was man als eine ausgesprochene Schönheit bezeichnen würde, aber Alana war doch so zierlich, dass man sie allgemein als süß betrachtete – eine Beschreibung, die sie zu hassen vorgab, die ihr insgeheim jedoch durchaus gefiel. Sie hatte an der Universität von Arizona in Geologie und in Archäologie promoviert, was sie für den Job geradezu prädestinierte. Aber kein Diplom, das an den Wänden ihres Büros in Phoenix hing, würde ihr dabei helfen, etwas zu finden, das offenbar gar nicht existierte.

Sie und ihr Team hatten das ausgetrocknete Flussbett landeinwärts meilenweit abgesucht, ohne irgendetwas Auffälliges zu entdecken. Die Sandsteinschlucht, die der Fluss vor Millionen Jahren geschaffen hatte, war so gleichförmig wie der Korridor eines Bürogebäudes – bis zu der Stelle, wo sich ein Wasserfall befunden haben musste.

Die Suche noch weiter flussaufwärts fortzusetzen war unnötig gewesen. Als der Fluss vor zweihundert Jahren noch Wasser führte, dürfte der Wasserfall ein unüberwindbares Hindernis gewesen sein.

Der Lärm eines Gesteinsbohrers riss Alana aus ihren Überlegungen. Die Bohrlafette war auf der Ladefläche eines Lastwagens montiert und in eine horizontale Position geneigt worden, so dass der Bohrkopf in die nahezu senkrechte Seitenwand der Schlucht eindringen konnte. Die mit Diamanten bewehrte Bohrerspitze fraß sich mit Leichtigkeit durch den mürben Sandstein. Mike Duncan, ein Geologe aus Texas, der über reiche Erfahrung als Ölsucher verfügte, bediente die Kontrollen der Bohrlafette von der hinteren Kante der Ladefläche aus. Mit dem Gesteinsbohrer rückten sie alten Erdrutschen zu Leibe, um sich zu vergewissern, ob sich irgendwelche Kavernen oder gar Höhlen in ihnen befanden. Nach mehr als einhundert solcher Löcher hatten sie jedoch nicht mehr vorzuweisen als ein halbes Dutzend abgenutzter Bohrerspitzen.

Sie verfolgte die Arbeiten mehrere Minuten lang und wischte sich dabei den Schweiß vom Hals. Als gut zehn Meter Bohrgestänge ins Erdreich eingedrungen waren, schaltete Mike den Dieselmotor aus. Sein Rattern verstummte, bis Alana wieder das Singen des Windes hören konnte.

»Nichts«, schimpfte Mike.

»Ich finde immer noch, dass wir ein paar Löcher mehr in den Bergrutsch eine Meile flussabwärts hätten treiben sollen.« Die Bemerkung kam von Greg Chaffee. Er war ihr Regierungsbeobachter. Alana tippte auf die CIA, wollte aber gar nicht wissen, ob sie mit ihrer Vermutung richtiglag. Chaffee konnte keine akademische oder berufliche Qualifikation vorweisen, die seine Anwesenheit gerechtfertigt hätte, daher wurde seine Meinung gewöhnlich ignoriert. Immerhin führte er gewissenhaft jeden Job aus, mit dem sie ihn betraute, und außerdem beherrschte er die arabische Sprache wie ein Einheimischer.

Emile Bumford war das vierte Mitglied der kleinen Gruppe. Bumford war ein Experte für das Ottomanische Reich, mit besonderen Kenntnissen über die Berber-Staaten. Nach Alanas Einschätzung war er ein arroganter Schaumschläger. Er weigerte sich, das Lager, das sie in der Nähe der römischen Ruinen aufgeschlagen hatten, zu verlassen, und meinte, seine Kenntnisse würden erst gebraucht, wenn sie tatsächlich etwas gefunden hätten.

Das traf zwar zu, aber in Washington, D. C., als sie sich während eines Treffens mit Unterstaatssekretärin Valero kennen gelernt hatten, hatte er sich noch mit seiner umfangreichen Erfahrung gebrüstet und getönt, er »liebe das Gefühl von Dreck unter seinen Fingernägeln«. Bisher hatte er allerdings keine seiner sorgfältig manikürten Hände zu etwas anderem benutzt, als die Safarijacke zu glätten, mit der er sich kostümiert hatte.

»Schon wieder so ein Gefühl?«, wollte Mike von Chaffee wissen. Sie teilten ein lebhaftes Interesse für Pferderennen und vertrauten ihrem Bauchgefühl in mindestens dem gleichen Maß wie den Informationen, die sie aus den Wettnachrichten bezogen.

»Schaden kann es nicht«, erwiderte Chaffee achselzuckend.

»Aber helfen wird es auch nicht«, sagte Alana ein wenig schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Sie ließ sich im Schatten des Lastwagens auf dem Erdboden nieder. »Tut mir leid, das klang jetzt ablehnender, als es eigentlich sollte. Aber die Seitenwände sind hier zu steil und zu hoch. Niemals hätte man dort Kamele einsetzen können, um ein Schiff zu entladen.«

»Können wir überhaupt sicher sein, dass dies das richtige alte Flussbett ist?«, fragte Mike. »In Sandstein findet man gewöhnlich kaum größere Kavernen. Er ist einfach zu weich. Die Decke würde einstürzen, bis die Erosion eine Höhle geschaffen hätte, die groß genug wäre, um darin ein Schiff zu verstecken.«

Alana hatte schon den gleichen Gedanken gehabt. Sie wollten lieber nach Kalkstein Ausschau halten, der für die Entstehung von Kavernen ideal wäre, weil er einerseits weich genug war, um Erosion zu ermöglichen, und andererseits hart genug, um die Jahrmillionen zu überstehen. Das Problem war nur, dass sie bisher nichts anderes als Sandstein und ein paar vereinzelte Basaltadern gefunden hatten.

»Der Charles-Stewart-Brief war ziemlich eindeutig, was die Lage von Al-Jamas geheimer Basis betrifft«, sagte sie. »Schließlich hat Stewart sich dort zwei Jahre lang aufgehalten, ehe der alte Pirat starb. Satellitenbilder zeigen, dass dies das einzige mögliche Flussbett in einem Umkreis von hundert Meilen um den Ort ist, wo sie laut Lafayettes Beschreibung gelebt haben sollen.«

»Hey, zumindest befindet er sich diesseits der libyschen Grenze«, fügte Greg hinzu. Aufgrund seiner blonden Haare und seiner hellen Haut war er besonders sonnenbrandgefährdet und trug deshalb langärmelige Kleidung und einen breitrandigen Strohhut. Seine Hemden waren am Kragen und unter den Armen ständig schweißgetränkt und mussten täglich ausgewaschen werden. »Trotz des bevorstehenden Gipfeltreffens in Tripolis glaube ich nicht, dass es Muammar al-Gaddafi gefallen würde, wenn wir direkt vor seiner Haustür irgendwelche Grabungen durchführen.«

Mike sagte: »Mein Vater arbeitete auf den libyschen Ölfeldern, bevor Gaddafi sie verstaatlicht hat.« Er war größer und schlanker als Greg und von einem Arbeitsleben in freier Natur derart abgehärtet, dass die Falten um seine blauen Augen nicht weniger wurden. Seine Hände waren so rau und schwielig wie die Rinde einer Eiche, und in einem Mundwinkel hatte er eine Portion Kautabak von der Größe eines Golfballs deponiert. »Er erzählte mir, dass die Libyer ungefähr die nettesten Menschen der Welt seien.«

»Die Menschen ja, die Regierung aber nicht unbedingt.« Alana trank einen Schluck Wasser aus ihrer Feldflasche. Es war so lauwarm, als käme es aus einer Badewanne. »Auch wenn sie als Gastgeber der Friedenskonferenz auftreten, kann ich nicht erkennen, dass sie ihre Haltung grundlegend geändert haben.« Sie sah Greg Chaffee an und fragte herausfordernd: »Ist die CIA nicht der Auffassung, dass sie früher Suleiman Al-Jama Unterschlupf gewährt haben, diesem Terroristen, der sich den Namen des Piraten ausgeliehen hat, nach dessen Spuren wir hier suchen?«

Er schnappte nicht nach dem Köder. »Ich habe nur in der Zeitung gelesen, dass Al-Jama versucht hat, ins Land einzureisen, ihm dies jedoch nicht erlaubt wurde.«

»Wir kriechen seit Wochen ergebnislos in diesem Flussbett herum. Hier gibt es aber nichts – gar nichts«, stellte Mike ungehalten fest. »Diese Mission ist doch die reinste Zeitverschwendung.«

»Die Leute, die in die Sache eingeweiht sind, sehen das anscheinend anders«, erwiderte Alana, machte jedoch aus ihren Zweifeln auch keinen Hehl.

Sie kehrte in Gedanken zu ihrem Treffen mit Christie Valero in Washington zurück. Im Foggy-Bottom-Büro von Unterstaatssekretärin Valero war auch eine der imposantesten männlichen Erscheinungen zugegen gewesen, die Alana jemals gesehen hatte. Sie hatte den unvergesslichen Namen St. Julian Perlmutter und erinnerte sie an Sidney Greenstreet, jedoch mit einem signifikanten Unterschied: Während den alten Schauspieler immer eine düstere Aura umgab, war Perlmutter das Paradebeispiel des stets fröhlichen Dicken. Seine Augen erstrahlten mindestens ebenso hellblau, wie Alanas grün leuchteten. Valero war eine sportliche hübsche Blondine und ein paar Jahre älter als Alana. Die Wände ihres Büros waren mit Fotografien von den Orten bedeckt, an denen man sie im Laufe ihrer zwanzigjährigen Karriere eingesetzt hatte. Sie befanden sich ausnahmslos im Nahen Osten.

Sie hatte sich hinter ihrem Schreibtisch erhoben, als Alana in ihr Zimmer geleitet wurde, doch Perlmutter hatte seinen Platz auf dem Sofa nicht verlassen und ihr die Hand im Sitzen geschüttelt.

»Vielen Dank, dass Sie dem Treffen mit uns zugestimmt haben«, sagte Christie.

»Es geschieht nicht jeden Tag, dass ich die Gelegenheit bekomme, eine Unterstaatssekretärin persönlich kennen zu lernen.«

»Die gibt es in dieser Stadt doch wie Sand am Meer«, meinte Perlmutter kichernd. »Mach bei einer Party das Licht an und sie suchen wie Kakerlaken das Weite.«

»Noch so ein fauler Witz«, sagte Christie, »und ich sorge dafür, dass du auf kein Botschaftsbankett mehr eingeladen wirst.«

»Das war ein Schlag unter die Gürtellinie«, erwiderte St. Julian schnell und lachte dann. »Genau genommen ging der Schlag sogar genau auf die Gürtellinie.«

»Dr. Shepard …«

»Alana, bitte.«

»Alana, wir haben hier ein besonders interessantes Problem, das nur jemand mit Ihren Kenntnissen lösen kann. Vor ein paar Wochen stieß St. Julian auf den Brief eines Admirals namens Charles Steward. Er wurde irgendwann um 1820 herum geschrieben und enthält die unglaubliche Geschichte vom Überleben eines Seemanns, der während der Barbareskenkriege von 1803 verschollen ist. Sein Name lautet Henry Lafayette.«

Christie Valero schilderte Lafayettes Rolle bei der Mission, die Philadelphia zu vernichten, und berichtete weiter, dass man angenommen hatte, er sei während des darauffolgenden Angriffs auf die Saqr ertrunken. An dieser Stelle ergriff St. Julian das Wort.

»Lafayette und Suleiman Al-Jama erreichten tatsächlich die Küste, und Henry holte die Pistolenkugel mit bloßen Händen aus der Schusswunde und desinfizierte diese mit Salzkristallen, die er von den Uferfelsen abkratzte. Der Piratenkapitän befand sich drei Tage lang im Delirium, doch dann sank das Wundfieber, und er erholte sich vollständig. Zu ihrem Glück schaffte es Henry, Regenwasser aufzufangen, so dass sie genug zu trinken hatten, und er erwies sich auch als besonders geschickt bei der Suche nach Nahrung, die er in ausreichender Menge am Meeresufer fand.

Nun ist es wichtig zu wissen, dass Al-Jama sein Piratenhandwerk keineswegs aus Habgier betrieb. Seine Triebfeder war ausschließlich sein Hass auf alle Ungläubigen. Der Mann muss demnach so etwas wie der Bin Laden seiner Zeit gewesen sein.«

»Hat Suleiman Al-Jama daher seinen Namen?«, fragte Alana und spielte auf den zurzeit aktiven Terroristen an.

»Ja, das trifft wohl zu.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass der Name irgendeinen historischen Bezug hat.«

»Er hat ihn sogar sehr sorgfältig ausgewählt. Zahlreiche Angehörige des radikalen Lagers des Islam verehren den ursprünglichen Al-Jama noch heute als Helden und geistigen Führer. Ehe er sich der Piraterie verschrieb, wirkte er als Imam. Die meisten seiner Schriften sind nach wie vor erhalten und werden eingehend studiert, da sie die Rechtfertigung für den Kampf gegen Ungläubige enthalten.«

»Er ließ sich vor seiner ersten Seereise von einem Maler porträtieren«, berichtete Unterstaatssekretärin Valero. »Reproduktionen dieses Gemäldes finden wir oft an Weiheorten oder Gedenkstätten, wenn wir das Glück haben, wieder mal ein Terroristennest auszuheben. Er ist eine Inspiration für alle Glaubenskämpfer der muslimischen Welt. Für sie ist er der ursprüngliche Dschihadist, der Erste, der dem Westen den Heiligen Krieg erklärte.«

Alana war sichtlich verwirrt. »Tut mir leid, aber was hat das alles mit mir zu tun? Ich bin Archäologin.«

»Dazu komme ich gleich«, erwiderte St. Julian. Sein Magen knurrte vernehmlich, und er tätschelte ihn liebevoll. »Und ich mache es kurz.

Lafayette und Al-Jama konnten nicht gegensätzlicher sein, selbst wenn einer von ihnen vom Mars gekommen wäre. Aber sie standen in einer ziemlich seltsamen Beziehung zueinander. Sehen Sie, Henry hatte Suleiman nicht nur einmal, sondern gleich zweimal das Leben gerettet. Das erste Mal, als er ihn an Land brachte, und dann dadurch, dass er seine Schusswunde behandelte und ihn gesund pflegte. Das war eine Schuld, die der Muslim nicht ignorieren konnte. Außerdem sah Henry, von Geburt Franko-Kanadier, ganz genauso aus wie Al-Jamas schon früh gestorbener Sohn.

Sie waren in der Wüste gestrandet und befanden sich mindestens einhundert Meilen von Tripolis entfernt. Suleiman wusste genau, wenn er mit Henry dorthin zurückkehrte, würde der Pascha ihn zu der Mannschaft der Philadelphia in den Kerker stecken oder, schlimmer noch, wegen des Brandanschlags auf das Schiff vor Gericht stellen und hinrichten.

Es gab jedoch noch eine andere Möglichkeit. Abgesehen davon, dass er die Stadt als Stützpunkt benutzte, unterhielt Al-Jama eine geheime Basis in der Wüste westlich von Tripolis. Von dort aus startete er zu vielen seiner Kaperfahrten, weil er auf diese Weise jede Seeblockade umgehen konnte. Er ging davon aus, dass sein Schiff die Siren besiegt hatte und seine Männer ihn in ihrem Schlupfwinkel erwarteten.«

Perlmutter war ein begnadeter Geschichtenerzähler und verlieh seinem Bericht genau die richtige Dosis Dramatik, um seine Zuhörer zu fesseln.

»Also machten sie sich nach Westen auf den Weg, wanderten direkt an der Küste entlang, soweit es möglich war, wurden jedoch des Öfteren gezwungen, sich weit landeinwärts zu bewegen, um überhaupt voranzukommen. Henry hatte keine Ahnung, wie viele Tage sie brauchten. Seine grobe Schätzung belief sich auf vier Wochen – und es muss die wahre Hölle gewesen sein. Wasser war ständig knapp, und mehr als einmal müssen sie überzeugt gewesen sein, endgültig zu verdursten. ›Wasser, Wasser überall, nicht einen einzigen Tropfen zu trinken.‹ Coleridge hatte es in seiner Ballade vom alten Seemann genau getroffen. Gerettet wurden sie immer wieder durch einen gelegentlichen Regenschauer und den Saft von Muscheln, die sie am Strand fanden.

Gleichzeitig geschah etwas Merkwürdiges. Die beiden Männer begannen sich anzufreunden. Al-Jama sprach ein wenig Englisch, und weil Henry bereits zwei Sprachen beherrschte, erlernte er auch das Arabische sehr schnell. Ich habe keine Vorstellung, worüber sie sich unterhalten haben könnten, aber gesprochen haben sie jedenfalls miteinander. Als sie schließlich das Versteck erreichten, lag Al-Jama nicht nur aus einer Verpflichtung heraus Henrys Leben am Herzen. Er verschonte ihn auch, weil er eine echte Zuneigung zu dem jungen Mann empfand. Später nannte er Henry sogar seinen ›Sohn‹, und Henry bezeichnete Al-Jama als ›Vater.‹

In der geheimen Basis stellten sie fest, dass die Saqr zurückgekehrt war, dass jedoch die Männer in der Annahme, dass ihr Kapitän das Seegefecht nicht überlebt hatte, in ihre Wohnstätten an der Berberküste zurückgekehrt waren. In seinem Bericht ans Marineministerium erklärte Charles Stewart, dass die Saqr in hellen Flammen gestanden hatte und im Begriff gewesen war zu sinken, nachdem sie die Auseinandersetzung beendet hatten. Aber offensichtlich war es nicht so weit gekommen.

Nach Henrys Darstellung war der Schlupfwinkel bestens ausgerüstet und verfügte über ausreichende Lebensmittelvorräte. Es gab dort sogar einen älteren Diener, der sich um die Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse kümmerte. Alle paar Monate kam eine Kamelkarawane vorbei, um Lebensmittel gegen Teile des Plunders zu tauschen, die Al-Jama aufgehäuft hatte, wobei er ihnen allerdings das Versprechen abnahm, seinen Männern nicht zu verraten, dass er noch am Leben sei.«

»Plunder?«, fragte Alana.

»Henrys genaue Worte waren ›Berge von Gold‹«, erklärte Perlmutter. »Außerdem war man überzeugt, dass Al-Jama auch den Diamanten von Jerusalem besaß.«

Alana sah die Unterstaatssekretärin Valero fragend an. »Wollen Sie mich etwa auf eine Art Schatzsuche schicken?«

Christie nickte. »So könnte man es durchaus nennen, aber wir interessieren uns nicht so sehr für Gold oder irgendeinen mystischen Edelstein. Was wissen Sie über Fatwas?«

»Ist das nicht eine Art Rechtsgutachten oder Gebot für Muslime? Ich weiß von einer, in der seinerzeit der Tod Salman Rushdies gefordert wurde, weil er Die Satanischen Verse geschrieben hat.«

»Genau. Je nachdem, wer eine solche Fatwa herausgibt, hat sie in der muslimischen Welt eine große Bedeutung. Ayatollah Khomeini gab während des iranischen Kriegs eine gegen den Irak heraus. Darin erteilte er den dazu entschlossenen Soldaten die Erlaubnis, sich bei Selbstmordattentaten selbst in die Luft zu sprengen. Sie müssen sich klarmachen, dass der Selbstmord im Koran ausdrücklich verboten ist, aber Khomeinis Streitkräfte wurden von Saddams Truppen aufgerieben, und er befand sich in einer verzweifelten Lage. Seine Strategie war erfolgreich – vielleicht sogar zu erfolgreich, von unserem Standpunkt aus betrachtet. Die Iraner drängten die irakische Armee zurück und vereinbarten schließlich einen Waffenstillstand. Doch die Fatwa blieb bestehen und wird immer noch als Rechtfertigung von Selbstmordattentätern von Indonesien bis Israel benutzt. Wenn ein ähnlich angesehener muslimischer Geistlicher eine Gegen-Fatwa herausgäbe, dann würde die Zahl der Selbstmordattentate weltweit vielleicht merklich zurückgehen.« Alana fing an zu begreifen. »Suleiman Al-Jama?«

St. Julian lehnte sich vor, wobei das Leder der Couch leise knarrte. »Demzufolge, was Henry nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten Charles Stewart berichtete, hatte Al-Jama seine frühere Einstellung gegenüber Christen grundlegend geändert. Bis zu dem Zeitpunkt, als ihm Henry das Leben rettete, hatte er niemals persönlich mit einem Christen gesprochen. Henry las ihm aus der Bibel vor, die er bei sich trug, und Al-Jama fielen bei allen Unterschieden nun auch die Parallelen zwischen beiden Religionen auf. In den zwei Jahren vor seinem Tod in der geheimen Basis studierte er den Koran so intensiv wie nie zuvor und äußerte sich in umfangreichen Schriften darüber, dass das Christentum und der Islam durchaus friedlich nebeneinander koexistieren könnten. Ich glaube, dass er aus diesem Grund auch nicht wollte, dass seine Leute von seinem Überleben nach dem Angriff auf die Philadelphia erfuhren. Denn sie hätten dann sicherlich weitere Kaperfahrten unternehmen wollen, was er jedoch mittlerweile ablehnte.«

An dieser Stelle unterbrach ihn Christie Valero. »Wenn diese Dokumente noch vorhanden sind, könnten sie eine wirksame Waffe im Kampf gegen den Terrorismus sein. Sie würden vielen der besonders fanatischen Terroristen den Boden unter den Füßen wegziehen. Die Attentäter, die Al-Jamas Aufforderung, Christen zu töten, wo immer sie sie finden konnten, stets blindlings befolgt hatten, müssten um ihrer eigenen Ehre willen das, was der alte Pirat im Alter aufgeschrieben hatte, zumindest in ihre Überlegungen einbeziehen.

Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist«, fuhr sie fort, »dass in zwei Monaten in Tripolis, also in Libyen, eine Friedenskonferenz stattfinden wird. Dies soll die umfangreichste und bedeutendste Versammlung dieser Art seit Menschengedenken werden – und zugleich unser verheißungsvollster Versuch, den Kampf der Religionen um Vorherrschaft ein für alle Mal zu beenden. Alle Beteiligten zeigen Bereitschaft – und die Ölstaaten sind gewillt, Milliardenbeträge an wirtschaftlicher Hilfe lockerzumachen. Ich würde es begrüßen, wenn die Außenministerin die Gelegenheit hätte, wenigstens in Auszügen zu lesen, was Al-Jama über eine mögliche Aussöhnung geschrieben hat. Ich denke, das würde sich zu unseren Gunsten auswirken.«

Alana verzog das Gesicht. »Also ich weiß nicht, wäre das nicht eher symbolischer Natur?«

»Ja, das wäre es schon«, antwortete St. Julian. »Aber in der Diplomatie wirkt vieles eher symbolisch. Die Parteien wünschen sich eine Aussöhnung. Dazu etwas von einem angesehenen Imam zu hören, der bisher immer Gewalt gepredigt hat und nun genau das Gegenteil befürwortet, wäre ein diplomatischer Coup und damit genau das, was den Friedensgesprächen wahrscheinlich zu ihrem ersehnten Erfolg verhelfen würde.«

Alana erinnerte sich, wie beflügelt sie nach dem Gespräch mit Valero und Perlmutter von der Vorstellung gewesen war, dabei mithelfen zu können, im Nahen Osten für stabilere Verhältnisse zu sorgen. Doch jetzt, nach einer wochenlangen Suche nach Al-Jamas geheimem Schlupfwinkel, fühlte sie sich nur noch müde, der ständigen Gluthitze überdrüssig – und schmutzig. Mühsam kam sie auf die Füße hoch. Ihre Pause war beendet.

»Kommt schon, Leute, machen wir weiter. Wir haben nur noch circa eine Stunde Zeit, ehe wir zu dem römischen Ruinenfeld zurückkehren und dem Chef der Grabung Bericht erstatten müssen.« Eine der Bedingungen, um an der Ausgrabungsexpedition teilnehmen zu dürfen, sah vor, dass Alana und ihr Team jeden Abend ins Lager zurückkehrten. Es war zwar eine lästige Routine, aber die tunesischen Behörden bestanden darauf, dass niemand eine Nacht allein in der Wüste verbrachte. »Schauen wir einfach dort nach, wo Greg meint, dass wir das Gesuchte finden könnten, denn von Geologie habe ich so gut wie keine Ahnung.«