VIERTES KAPITEL
Als die Pferde nicht mehr zu sehen waren, drehte sich Lalita um und ging ins Haus zurück. Dabei sagte sie zu Carter: »Ich hoffe, daß alles gut geht.«
»Seine Lordschaft wird mit allem fertig«, erwiderte Carter, »sogar mit einem Maultier und einem Esel, wenn man sie zusammenspannt.«
Lalita lachte; im selben Augenblick hörte sie etwas. Sie blickte sich um und sah, daß der Postbote vom hinteren Eingang her um das Schloß herumkam. Er ging die Stufen herauf und händigte Carter zwei Briefe aus. »Ich hab' mir dahinten die Finger wund geklopft«, sagte er, »aber kein Mensch war zu sehen oder zu hören!«
Lalita ging in die Halle. Als Carter ein paar Minuten später nachkam, sagte sie: »Hoffentlich sind es keine wichtigen Briefe. Es ist zu dumm, daß Seine Lordschaft sie nicht bekommen hat, bevor er losfuhr.«
»Der eine sieht nach einer Rechnung aus«, meinte Carter, während er die Briefe in seiner Hand in Augenschein nahm, »und mit dem anderen hat es auch keine Eile.«
»Woher weißt du das?« fragte Lalita.
»Weil er von jemand ist, den Seine Lordschaft wirklich gern in Paris zurückgelassen hat.«
Lalita spürte, daß es sich dabei um eine Frau gehandelt haben mußte, und sie konnte sich nicht helfen, sie war neugierig. »War sie sehr schön?« fragte sie und schämte sich gleich darauf ihrer Neugier.
»Wer? Lady Irene?« fragte Carter.
»Hat sie so geheißen?«
»Ja, Lady Irene Dawlish, und die Person, die sie am meisten bewundert hat, war sie selbst. Die Damen haben Seine Lordschaft umschwirrt wie Fliegen den Honigtopf, und ich hätte ihnen immer helfen sollen.«
Das verstand Lalita nicht, und er erklärte es ihr, indem er wie eine Frau flötete: »›Carter, wann kann ich Seine Lordschaft allein antreffen?‹ oder: ›Carter, willst du ihm mitteilen, daß ich warte und ihm etwas sehr Wichtiges zu sagen habe?‹«
Lalita sagte nichts dazu, aber sie mußte sich eingestehen, daß sie Lord Heywood jetzt in einem neuen Licht sah. Sie fragte sich auf einmal, ob er nicht nur nach London gefahren war, um seine Anwälte aufzusuchen, wie er ihr gesagt hatte, sondern auch, um sich mit einer schönen Frau zu treffen, zum Beispiel mit der, die ihm geschrieben hatte.
Sie hatte die Handschrift auf dem Brief gesehen, den Carter auf den Tisch in der Halle gelegt hatte, und es fiel ihr auf, daß die Schrift auffallend verschnörkelt, ja effekthascherisch war. »Ich möchte gern wissen, warum Seine Lordschaft nicht verheiratet ist«, sagte sie laut.
»Verheiratet?« rief Carter aus. »Daran hat er nie einen Gedanken verschwendet, seit ich mit ihm zusammen bin, und er kann es sich ja auch gar nicht leisten.«
»Er könnte eine reiche Frau heiraten.«
»Und damit eine Frau auf dem Hals haben, die den Daumen auf den Beutel hält und ihn herumkommandiert?« fragte Carter. »Da kennen Sie aber Seine Lordschaft schlecht! Doch will ich nicht behaupten, daß er keine Chancen gehabt hätte.«
»Ich nehme an, Lady Irene hatte Geld«, vermutete Lalita.
»So viel ich weiß«, antwortete Carter vorsichtig.
»Wenn Seine Lordschaft sie heiraten würde, wäre er in der Lage, das Schloß wieder zu seinem alten Glanz zu bringen, mit Dienern und Gärtnern, und er müßte sich um die Pächter und Pensionäre keine Sorgen machen.«
»Wenn Sie mich fragen, dann sind das kleine Sorgen gegen die, die ihm Lady Irene machen würde.«
»Mir scheint, Sie mögen sie nicht.«
»Sie mögen?« wiederholte Carter. »Sie ist von der Sorte, der ich als Blinder nicht im Dunkeln begegnen möchte.« Dann fügte er schnell hinzu: »So etwas sollte ich nicht zu Ihnen sagen, Miss. Übrigens muß ich jetzt das Geschirr spülen.«
Er ging in die Küche; auf Lalitas Gesicht lag jedoch ein Schatten, als sie sich ins Schreibzimmer begab.
Sie begann das Zimmer aufzuräumen und dachte dabei, wie unerwartet glücklich sie die letzten paar Tage gewesen war.
Sie hatte nie zuvor gewußt, wie es war, mit einem Mann allein zu sein, mit dem sie sprechen, sich zanken und den sie necken konnte.
Mit ihrem Großvater war sie nach dem Tod ihres Vaters und ihrer Mutter zwar auch glücklich gewesen, aber er war alt und pflegte immer seinen Kopf durchzusetzen. Deshalb interessierte er sich selten für ihre Meinung.
Jetzt erinnerte sie sich daran, wieviel Freude es ihr gemacht hatte, ihre Meinung zu äußern, zu wissen, daß Lord Heywood ihr zuhörte, und auch zu versuchen, ihn in einer Auseinandersetzung zu besiegen.
Sie hatten über vieles diskutiert, wenn sie nicht gerade seine Probleme besprachen oder sie ihm Hindernisse in den Weg legte, wenn er versuchte, mehr über sie herauszufinden.
Sogar das war aufregend: zu wissen, daß sie weiter in seinem Haus bleiben konnte, einfach weil er zu anständig war, um sie hinauszuwerfen. Er scheint mich gern hier zu haben, sagte sich Lalita.
Aber gleich darauf fragte sie sich, ob es ihm lieber wäre, jemanden wie Lady Irene da zu haben, die ihn als Mann liebte. Dabei fiel ihr ihr Vetter ein, mit dem ihr Onkel versucht hatte sie zu verheiraten.
Weil der Gedanke an ihn so widerwärtig war, ging sie in die Küche, um mit Carter zu sprechen und nicht allein mit ihren Gedanken zu sein.
Er war gerade damit beschäftigt, einem Kaninchen das Fell abzuziehen.
»Hast du das in einer deiner Schlingen gefangen?« fragte sie.
»Das ist schon das zweite Kaninchen, das ich in dieser Schlinge gefangen habe«, erwiderte Carter.
»Armes kleines Ding!« sagte Lalita.
»Machen Sie sich mal wegen der Kaninchen keine Sorgen, Miss«, erwiderte Carter. »Es ist Seine Lordschaft, an den Sie und ich denken müssen.«
Als ob ich an jemand anders denken könnte! sagte Lalita im stillen zu sich selbst, und dabei fiel ihr ein, daß sie versprochen hatte, dafür zu beten, daß ihm die Bank ein Darlehen gewähre.
Lord Heywood kam gegen Mittag in London an, brachte die Pferde in leeren Boxen der Stallungen von Heywood House unter und beschaffte Hafer für sie, indem er dem Knecht eines benachbarten Stalls ein Trinkgeld gab. Dann ging er zum Portal seines Stadthauses und klingelte.
Er hörte das Echo der Klingel verhallen und mußte mehrere Male an der Klingelschnur ziehen und auch den Klopfer betätigen, ehe die Tür schließlich von einem alten, gebückten Mann geöffnet wurde.
Lord Heywood brauchte ein oder zwei Sekunden, um Johnson zu erkennen, der der Butler gewesen war und den er viele Jahre lang nicht gesehen hatte.
Johnson war nicht nur taub, sondern auch fast blind, und es dauerte eine Weile, bis ihm Lord Heywood klargemacht hatte, wer er war.
»Mr. Romney!« sagte der alte Mann endlich. »Mit Ihnen habe ich nicht gerechnet!«
»Nun, hier bin ich, Johnson!« sagte Lord Heywood. »Ich habe von Mr. Crosswaith erfahren, daß Sie und Ihre Frau das Haus hüten.«
»Die Zeiten haben sich geändert, Mr. Romney«, sagte Johnson traurig.
Lord Heywood dachte dasselbe, als er herumging und dabei feststellen mußte, daß die Möbel in den Zimmern mit leinenen Staubhüllen bedeckt waren. Ihn interessierten die Möbelstücke, die laut Mr. Crosswaith nicht zum unveräußerlichen Erbe gehörten.
Er fand sie in den Räumen seiner Mutter, und ihm wurde klar, daß jedes Stück ein Teil seiner Kindheitserinnerungen war. Es erschien ihm wie ein Frevel, sie zu verkaufen, aber er hatte keine andere Wahl.
Dann sah er sich im übrigen Haus um und hoffte dabei, daß er durch einen glücklichen Zufall auf ein Gemälde oder ein Möbelstück stieß, das dem Blick seines Großvaters entgangen war.
Er fand zwei Möbelstücke, die seiner Ansicht nach ein wenig Geld bringen konnten, und in den Korridoren hingen drei oder vier Bilder, die sich, wenn sie gereinigt waren, als vielleicht nicht wertvoll, aber doch wenigstens als verkäuflich erweisen konnten.
Schließlich entschied er, daß er einen Experten bitten mußte, seine Vermögenswerte zu begutachten, statt sich ganz und gar auf den entmutigenden Befund seiner Anwälte zu verlassen.
Eine Mietkutsche brachte ihn zu seinem Club in der St. James Street, und kaum war er durch die Tür gegangen, wurde er auch schon von zahlreichen Freunden mit lautem Hallo begrüßt, die erfreut waren, ihn zu sehen, nachdem er so lange fort gewesen war.
Er bekam mehrere Einladungen zum Essen und unterhielt sich so gut, daß es ihm schwer fiel, sich vom Club loszureißen. Nachdem er sich einverstanden erklärt hatte, mit drei alten Freunden zu essen, ging er zur Bank.
Er war so guter Stimmung, als er in das Büro des Bankdirektors gebeten wurde, daß er geradezu das Gefühl hatte, sein Schicksal habe sich gewendet. Um so schwerer war die Wahrheit zu verdauen.
Als sein Vater gestorben war, hatte er sein Konto überzogen. Im ersten Jahr nach seinem Tod hatten die Pachteinnahmen den Schuldenberg noch ein wenig abgetragen.
In den letzten beiden Jahren war diese Einkommensquelle aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage im Land jedoch gänzlich versiegt, und auch die Dividenden aus den Aktien, die er besaß, wurden sehr viel kleiner.
»Es könnte sein, daß Sie für Ihre Aktien einen Käufer finden«, sagte der Bankdirektor, »aber ich glaube, Mylord, es wäre in Ihrem Interesse, sie noch wenigstens ein Jahr zu behalten und abzuwarten, ob sich die Lage bessert.« Er sah den Ausdruck auf Lord Heywoods Gesicht und sagte schnell: »Man verspricht uns, daß der Aufschwung vor der Tür steht, jetzt, da das Bündnis zwischen Österreich, Großbritannien, Frankreich und Preußen Europa wieder Aufwind verschafft hat. Ich gehe davon aus, daß sich die wirtschaftliche Situation in unserem Land bald bessert.«
»Ich kann nur hoffen, daß Sie recht haben«, sagte Lord Heywood trocken, »aber im Augenblick ist mir damit nicht geholfen.«
Als er eine Stunde später aus der Bank trat, mußte er feststellen, daß er nicht besser dastand als am Morgen bei seinem Aufbruch von Heywood Abbey. Im Gegenteil, er war jetzt bedrückter denn je, weil er das ganze Ausmaß seiner Schulden kannte.
Ein Besuch bei den Anwälten trug auch nichts zu seiner Ermutigung bei. Mr. Crosswaith war äußerst mitfühlend und erklärte sich auf heftiges Drängen von Lord Heywood bereit, die Pensionen noch einen Monat zu bezahlen, aber er ließ keinen Zweifel daran, daß er und seine Partner jetzt, da Seine Lordschaft heimgekehrt war, die Bürde der Heywoodschen Besitzungen nicht länger tragen könnten.
Lord Heywood blieb nichts anderes übrig, als sich für seine Dienste zu bedanken und sich auf den Weg zu Christie's zu machen. Dieses Auktionshaus galt als das bedeutendste in ganz London.
Der Inhaber, mit dem er sprach, verstand genau, was er wollte. »Ich schicke einen meiner zuverlässigsten Schätzer nach Heywood House, Mylord«, sagte er. »Ich versichere Ihnen, daß es ihm nicht entgeht, wenn sich etwas Wertvolles darin befindet.«
»Ich wäre dankbar, wenn er aufs Land käme«, erwiderte Lord Heywood. »Die Situation dort ist dieselbe: Mein Großvater hat, was er konnte, vor seinem Tod zum unveräußerlichen Erbe gemacht. Aber seitdem ist einiges neu dazugekommen, und ich hoffe, daß vielleicht ein Gemälde darunter ist, das in den letzten Jahren eine Wertsteigerung erfahren hat.«
Als er von Christie's ins Freie trat, war es spät geworden, und er ging nach Heywood House zurück, um den Abendanzug anzuziehen, den ihm Carter in einem Koffer mitgegeben hatte.
Als er in dem Schlafzimmer Toilette machte, das immer von seinem Vater bewohnt gewesen war, ertappte sich Lord Heywood bei dem Gedanken, daß sein Vater das Geld jahrelang ausgegeben hatte, als käme es aus einem unerschöpflichen Füllhorn.
Natürlich gab es jetzt keine Pferde mehr in den Stallungen, in denen er Conqueror und das geborgte Pferd untergestellt hatte, aber er hatte dort zahlreiche Fahrzeuge gesehen: Phaëtons und Zweispänner, Reisewagen und Kaleschen, ein Aufwand, der zu den Bedürfnissen eines einzigen Mannes in gar keinem Verhältnis stand.
Außerdem entging es ihm nicht, daß sein Vater, während er selbst im Ausland war, eine Reihe von Zimmern in aufwendigster Weise hatte ausstatten lassen.
Die schweren Brokattapeten an den Wänden des Salons waren auf die kunstvoll drapierten Vorhänge abgestimmt. Im Speisezimmer war die Stukkatur durch goldenes Blattwerk hervorgehoben, und die von einem italienischen Künstler neu bemalte Decke sparte nicht mit Effekten.
Weil er sich plötzlich von dieser gewaltigen Bürde überfordert fühlte, verspürte Lord Heywood den Wunsch, wie Lalita davonzulaufen. Als er aber an sie dachte, sagte er sich, daß sie ihn auslachen würde, wenn er sich durch das, was er heute erfahren hatte, derartig niederdrücken ließ.
»Es muß doch etwas geben, was Sie tun können!« würde sie sagen, und in ihrer Stimme würde etwas mitschwingen, das ihn hoffen ließe, daß ihn in letzter Minute ein Wunder rettete.
Sie stimmt mich heiter, gestand er sich ein und beschloß, so bald wie möglich aufs Land zurückzukehren.
In dem beruhigenden Bewußtsein, daß er in seinem Abendanzug gut aussah, auch wenn er unter den Armen und an den Schultern ein wenig kniff, ging Lord Heywood die Treppe hinab.
Der alte Johnson erwartete ihn in der Halle. »Ich muß Eurer Lordschaft noch mitteilen, daß der Fuhrmann aus Dover das Gepäck gestern gebracht hat.«
»Sehr schön«, erwiderte Lord Heywood. »Ich habe alles, was ich aus Frankreich mitgebracht habe, hierher schicken lassen, und da es jetzt da ist, kann ich es morgen mitnehmen.«
Er mußte den Satz mehrere Male wiederholen, ehe Johnson ihn verstanden hatte. Dann sagte Johnson: »Und hier sind auch ein paar Briefe, Mylord. Es ist fast jeden Tag einer gekommen.«
Ein Blick auf die Briefe, die auf einem silbernen Präsentierteller lagen, sagte Lord Heywood, von wem sie stammten.
Irene Dawlishs verschnörkelte, auf Wirkung bedachte Handschrift war unverwechselbar, und er sagte sich beklommen, daß sie wieder in England sein mußte.
»Ich mache sie auf, wenn ich zurück bin, Johnson. Bitte fragen Sie Ihre Frau, ob sie mir morgen früh um acht Uhr ein Frühstück servieren kann. Ich möchte zeitig aufbrechen.«
»Wann haben Sie gesagt, Mylord?«
»Um acht Uhr«, wiederholte Lord Heywood. Dann eilte er aus dem Haus in seinen Club, ohne die Briefe weiter zu beachten.
Wieder unterhielt er sich sehr gut, bis im Lauf des Abends einer seiner Freunde sagte: »Heute nachmittag hat eine Frau nach dir gefragt, Heywood, und als ich ihr gesagt habe, daß du in London bist, war sie Feuer und Flamme.«
»Wer war es?« Lord Heywood brachte es sehr überzeugend fertig, unbeteiligt zu klingen.
»Irene Dawlish. Ich nehme an, du warst in Paris viel mit ihr zusammen.«
Lord Heywood erwiderte: »Ich kann dir versichern, daß ich nicht der einzige war. Lady Irene kam bei der gesamten Besatzungsarmee ungeheuer gut an.«
Man lachte über diese Bemerkung, und ein anderer Mann sagte: »Wir sollten sie als Abgesandte zur nächsten Konferenz schicken. Sie würde ohne Zweifel belebend auf die Delegierten wirken und sich als sehr fähige Botschafterin erweisen.«
»Warum machst du den Vorschlag nicht dem Außenminister?« scherzte ein Dritter.
»Ich persönlich bin gegen den Export von schönen Frauen«, bemerkte wieder ein anderer Mann spaßhaft.
Als Lord Heywood später in sein Schlafzimmer gegangen war, öffnete er die Briefe von Lady Irene und stellte, wie er es nicht anders erwartet hatte, fest, daß sie nicht nur hartnäckig darauf bestand, ihn zu treffen, sondern auch überaus besitzergreifend war.
Er sah sich gezwungen, der peinlichen Tatsache ins Auge zu blicken, daß sie beabsichtigte, ihn zu heiraten, und die Zeit der Trennung schien sie entschlossener, auf jeden Fall aber feuriger in ihrem Werben um ihn gemacht zu haben als je zuvor.
Ihre Briefe waren leidenschaftlich und schmeichelhaft. Allerdings fragte sich Lord Heywood, wie oft sie schon einem Mann, in den sie verliebt zu sein glaubte, dieselben blumigen Wendungen und anspornenden Worte geschrieben hatte. Ich bin nur einer unter den vielen, die sie versucht hat an sich zu binden, dachte er.
Auf der anderen Seite wäre er blind gewesen, wenn er nicht erkannt hätte, daß das, was eine oberflächliche und vergnügliche Liebesgeschichte hätte sein sollen, außer Kontrolle geraten war. Lady Irene war entschlossen, ihn nicht loszulassen.
Daß sie ihn als Liebhaber schätzte, war nicht weiter bemerkenswert. Aber daß sie sich mit einem einfachen Baron zufrieden geben würde, auch wenn er ein prachtvolles Schloß besaß, paßte irgendwie nicht zu ihr. Aber vielleicht war Lady Irene zum ersten Mal in ihrem Leben der wirklichen Liebe begegnet.
Nach einem langen Tag hatte er erwartet, daß er einschlafen werde, sobald er das Kissen unter seinem Kopf spürte, aber er mußte feststellen, daß er wach lag, an Lady Irene dachte und überlegte, wie er ihr entkommen konnte.
Als er Paris verließ, hatte er gehofft, daß sie ihn vergessen würde. Aber in der Nacht zuvor hatte sie sich an ihn geklammert und gesagt: »Wir gehören zusammen, Romney, das ist wahr. Ich weiß, daß ich ohne dich nicht leben kann.«
»Du kannst bestimmt nicht mit mir leben!« hatte Lord Heywood leichthin geantwortet. »Mich erwarten ein Stadthaus ohne Diener, ein Landsitz, der schwer verschuldet ist, und eine Zukunft, die so problematisch ist, daß ich selbst Angst vor ihr habe.«
»Was spielt das alles für eine Rolle neben der Tatsache, daß ich dich liebe?« fragte Lady Irene. »Ich habe im Augenblick genug Geld für uns beide, und da Richard tot ist, wird Papa einmal alles mir hinterlassen.«
Die Art, wie sie über ihren Bruder gesprochen hatte, der vor zwei Jahren gefallen war, schockierte Lord Heywood. Bevor er Lady Irene näher kennengelernt hatte, hatte er immer Mitleid mit ihr empfunden, weil sie sowohl ihren Bruder als auch ihren Gatten verloren hatte, bis er dann erfahren mußte, daß sie Dawlishs Tod kaum berührt hatte; und jetzt konnte sie ganz beiläufig von ihrem Bruder sprechen.
Er hatte ihre Arme von seinem Nacken gelöst und erwidert: »Wenn das ein Heiratsantrag sein soll, Irene, so lautet meine Antwort, auch wenn ich tief geehrt bin, ganz schlicht: ›Nein.‹«
Lady Irene stieß einen Protestschrei aus und warf sich ihm wieder an den Hals. »Glaubst du wirklich, ich erlaube dir, mich abzuweisen? Ich liebe dich, Romney, ich liebe dich! Und nichts und niemand auf der ganzen Welt wird dich mir wegnehmen!«
Lord Heywood hatte nichts erwidern können, weil sie ihn mit glühenden Lippen küßte, und seine Protestlaute wurden durch ein Feuer erstickt, das sie mit einer Heftigkeit zu verzehren schien, wie er sie noch bei keiner anderen Frau erlebt hatte.
»Noch ein verfluchtes Problem!« sagte er in der Dunkelheit vor sich hin. Dann dachte er, daß er Lalita alles über seinen Besuch bei der Bank, bei den Anwälten und bei Christie's erzählen würde. Sie wird mich verstehen, dachte er und fragte sich nicht, warum er da so sicher war.
Auf dem Heimweg waren die Pferde, da sie ausgeruht waren, genauso feurig wie am Tag zuvor, und Lord Heywood schien es, daß er vor Lady Irene floh.
Er war früh aufgestanden, aber Mrs. Johnson, die sehr langsam war, hatte ihn auf das Frühstück warten lassen, und als er gerade in den Stall gehen wollte, um die Pferde vor die Kutsche zu spannen, brachte ein Diener in einer Livree, die Lord Heywood wiedererkannte, einen Brief.
Er war gerade in der Halle, als Johnson die Haustür öffnete, und hörte den Diener sagen: »Hier ist schon wieder ein Liebesbriefchen, und wenn ich weiter Amor spiele, dann werden mir noch Flügel wachsen.« Er hatte Johnsons Antwort nicht abgewartet, sondern gleich wieder sein Pferd bestiegen und war davongetrabt.
Johnson hatte sich nach dem Präsentierteller umgedreht, auf den er das Briefchen legen wollte, bevor er ihn seinem Herrn aushändigte.
»Legen Sie ihn auf den Tisch«, hatte Lord Heywood gesagt, »und wenn jemand nach mir fragt, dann sagen Sie, daß ich weggefahren bin, bevor ich ihn erhalten habe.«
Es dauerte einige Minuten, bis Johnson verstand, und als es schließlich soweit war, sagte er: »Wenn Lady Irene fragt, soll ich ihr dann sagen, wohin Eure Lordschaft gefahren sind?«
»Leider wird sie sich das selbst denken können«, erwiderte Lord Heywood. Weil ihn dieser Vorfall entschlossener denn je machte, London den Rücken zu kehren, war er in die Küche gegangen, um Mrs. Johnson für das Frühstück zu danken, hatte dem alten Johnson eine Guinee gegeben, über die sich dieser sehr gefreut hatte, und hatte dann das Haus durch den rückwärtigen Eingang verlassen, der zum Stall führte.
Wenn ich Irene lang genug aus dem Weg gehe, sagte er sich, als er London mit seinem Verkehrsgewühl hinter sich gelassen hatte, wird sie es bald leid sein, um mich zu werben, und einen anderen finden, auf den sie ihre Gedanken richten kann. Das war eine Vorstellung, die ihm gefiel. Gleichzeitig hegte er aber die Befürchtung, daß sie sich nicht so leicht von ihrem Ziel abbringen ließ.
Jetzt, da er ernsthaft über die Sache nachdachte, wurde ihm klar, daß es gar nicht so viele ungebundene Männer im richtigen Alter gab, die sie heiraten wollten.
Er wußte, daß die jungen Mädchen, die der Aristokratie angehörten, von ihren Eltern so früh wie möglich vor den Traualtar gedrängt wurden; das Gleiche galt für ihre Söhne, sobald sie mündig waren. Wie sie sich danach benahmen, war ganz allein ihre Angelegenheit.
Das Alter von zweiunddreißig erreicht zu haben, ohne mit einer Ehefrau belastet zu sein, war geradezu einmalig – das machte sich Lord Heywood jetzt erst richtig klar.
Wenn er über die Männer nachdachte, die Lady Irene eifrig den Hof machten, dann war eigentlich keiner unter ihnen, von ihm selbst einmal abgesehen, der ihr die Ehe anbieten konnte; sie waren in der Regel zu jung.
Das habe ich bisher nie bedacht, sagte er sich mit einem Lächeln. »Aber so verarmt wie ich auch bin, einen gewissen Wert habe ich doch noch auf dem Heiratsmarkt.«
Er hatte immer voll Verachtung auf die Mütter herabgesehen, die für ihre Töchter ehrgeizige Pläne hegten und sie deshalb beinahe von der Schulbank weg an liederliche Adlige verheirateten, damit sie waren, was man ›versorgt fürs Leben‹ nennt. Nie wurde danach gefragt, ob auch ihre Herzen beteiligt waren.
Wenn ich einmal heirate – aber es ist fraglich, ob ich mich je dazu entschließen werde –, sagte sich Lord Heywood, dann weil ich die Frau liebe, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen will.
Er wußte jetzt, daß etwas, was er nie dulden würde, eine untreue Frau war, genauso wenig wie er den Wunsch haben würde, ihr untreu zu sein.