ZWEITES KAPITEL
Es herrschte tiefes Schweigen, da Lord Heywood zu verblüfft war, um antworten zu können. Nach einer Weile sagte er: »Als Ihr Gastgeber sollte ich diese Frage stellen.«
Die blauen Augen wurden noch größer als zuvor.
»Mein Gastgeber? Sie sind doch nicht Lord Heywood? Er ist im Ausland.«
»Ich bin zurückgekommen«, erwiderte Lord Heywood, »und zwar in einem offensichtlich höchst unpassenden Augenblick.«
Seine Besucherin dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie: »Es ist ganz bestimmt unpassend, wenn Sie mir befehlen zu gehen, denn das wäre etwas, was ich nicht sofort befolgen könnte.«
»Das ist offensichtlich«, bemerkte Lord Heywood trocken und warf einen Blick auf ihr Nachthemd, das zart genug war, um recht aufschlußreich zu sein.
Es erlaubte ihm, die Rundung zweier junger Brüste zu erkennen, und als wäre sie sich dessen plötzlich bewußt geworden, zog sie schnell die Bettdecke höher.
Dabei bemerkte Lord Heywood, daß der mit Spitze eingefaßte Bezug das Monogramm seiner Mutter trug. »Sie lassen es sich durchaus gut gehen«, bemerkte er sarkastisch.
»Es war niemand da, der mich daran gehindert hätte, und die Hausverwalter, wenn es diese zwei alten Leute sind, kommen nie über das Erdgeschoß herauf.«
Lord Heywood machte ein paar Schritte vom Fenster weg und auf das Bett zu, aber er kam nicht so nah, daß er der jungen Frau einen Schrecken einjagte.
Jetzt, wo er sie deutlicher sehen konnte, bemerkte er, daß sie sehr schön war, ja viel zu schön, um in einem fremden Haus zu schlafen, ohne daß jemand etwas davon wußte. »Da Sie wissen, wer ich bin, nennen Sie mir bitte Ihren Namen und sagen Sie mir, warum Sie hier sind«, fuhr er fort.
Sie antwortete zögernd: »Mein Name ist Lalita.«
»Und Ihr Nachname?«
»Für Sie bin ich Lalita, und mehr müssen Sie nicht wissen.«
»Ich hege den Verdacht, daß Sie von zu Hause durchgebrannt sind.«
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Sie sind sehr klug.«
»Vielen Dank«, sagte er. »Aber die Auskunft, die Sie mir gegeben haben, genügt mir nicht.«
»Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich, wie Sie richtig vermutet haben, von zu Hause fortgelaufen bin, und da hier niemand wohnte, erschien es mir als ein perfektes Versteck.«
»Vor wem?«
Wieder lächelte sie, und in ihren blauen Augen blitzte ein Schalk auf. »Das ist wieder eine Frage, die ich nicht beantworten darf.«
»Aber wollen Sie mir dann wenigstens sagen, warum Sie sich verbergen?«
Lalita legte den Kopf ein wenig zur Seite, und er merkte zu seiner Belustigung, daß sie überlegte, ob sie ihm wohl trauen könne. Dann meinte sie: »Ich möchte, daß Sie mir helfen, indem Sie mir erlauben, hier zu bleiben.«
»Sie müssen einsehen, daß das unmöglich ist.«
Da er sich ein genaueres Bild von ihr machen wollte, wandte ihr Lord Heywood den Rücken zu, um die Vorhänge eines weiteren Fensters zurückzuziehen.
Jetzt erfüllte der Sonnenschein das Zimmer mit goldenem Licht, und er fand, als er sich wieder zu dem Bett umdrehte, daß Lalita wie eine Prinzessin in einem Märchen aussah. Sie wirkte fast überirdisch mit ihrem blonden Haar und den blauen Augen, und jetzt konnte er auch ihre makellose zart-rosa Haut erkennen, die ihm das Gefühl gab, sie sei einem Traum entstiegen.
Er setzte sich bedächtig in einen der Sessel. Dann sagte er, während er die Beine kreuzte: »Wenn Sie wollen, daß ich Ihnen helfe, müssen Sie Ihre Bitte wenigstens überzeugend vorbringen.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu: »Ich nehme an«, sagte sie, »so behandeln Sie Ihre armen Soldaten, wenn sie Ihnen Rechenschaft ablegen müssen, weil sie zu spät zum Appell angetreten sind oder ein anderes heimtückisches Verbrechen begangen haben.«
»Sie haben gewöhnlich eine sehr einleuchtende Entschuldigung.«
»Also gut, ich sage Ihnen meine. Ich bin durchgebrannt, weil mein Vormund versucht, mich mit einem Schwachsinnigen zu verheiraten.«
Lord Heywood blickte sie ungläubig an.
»Es ist wahr!« wehrte sie sich.
»Und warum will Ihr Vormund das?«
»Weil der Schwachsinnige sein Sohn ist!«
»Es fällt mir schwer, diese Behauptung zu glauben.«
»Ich habe den Verdacht, daß es auch anderen so geht«, erwiderte Lalita. »Aber ich weigere mich entschieden und mit allen Mitteln, einen Mann zu heiraten, der, wie es die Diener nennen, ›nicht ganz richtig im Oberstübchen‹ ist und der mich besabbelt und feuchte, schlappe Hände hat.«
Sie sagte das auf eine Weise, die ihn so sehr an ein kleines Tier, das seine Verfolger anfaucht, erinnerte, daß sich Lord Heywood nicht helfen konnte und lachen mußte.
»Es mag Ihnen komisch vorkommen«, sagte Lalita, »aber für mich gab es keine andere Möglichkeit, als entweder zu tun, was mein Onkel wollte, oder davonzulaufen.«
»Ihr Onkel ist also Ihr Vormund?« fragte Lord Heywood ruhig.
»Jetzt benehmen Sie sich heimtückisch und versuchen, etwas aus mir herauszulocken«, erwiderte Lalita scharf, »aber ich kann Ihnen eines versprechen: Wenn Sie mich zwingen, zu ihm zurückzugehen, dann werde ich entweder fliehen oder mich im See ertränken.«
»Sehr dramatisch!« rief Lord Heywood aus. »Aber Sie hören sich recht hysterisch an, und das tut Ihrer Sache Abbruch.«
»Warum mußten Sie auch nach Hause kommen?« beklagte sich Lalita. »Ich habe gefunden, daß ich hier ein perfektes Versteck habe, und es war in der Tat sehr komfortabel.«
»Wovon haben Sie sich denn ernährt?«
Aus der Art und Weise, wie sie ihn anblickte, konnte er schließen, daß sie sich fragte, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte. Dann sagte sie: »Es war eine etwas eintönige Kost. Die Hausverwalter haben Hühner, die ihre Eier überall hinlegen, und im Garten gibt es viel Gemüse.«
Lord Heywoods Mundwinkel zuckten vor verhaltenem Lachen. »Ich sehe, Sie sind sehr einfallsreich.«
»Ich bin eigentlich eine gute Köchin, wenn ich die richtigen Zutaten habe, aber als ich davonlief, hatte ich keine Ahnung, wohin ich gehen wollte, und so habe ich nicht daran gedacht, Lebensmittel mitzunehmen.«
»Sie müssen doch eine Ahnung gehabt haben, welche Richtung Sie einschlagen.«
»Ich habe daran gedacht, nach Frankreich zu gehen. Vielleicht können Sie mir dabei helfen.«
»Ich glaube ganz und gar nicht, daß Frankreich im Augenblick der richtige Ort für Sie ist«, sagte Lord Heywood bestimmt.
»Warum nicht? Der Krieg ist vorbei, und ich bin nicht nur sehr bewandert in Französisch, sondern Mama hatte auch eine gute Freundin dort, nämlich die Herzogin von Soissons, die sich ganz bestimmt freuen würde, mich zu sehen.«
»Sie denken doch wohl nicht im Ernst daran, allein in Frankreich herumzustreifen und nach einer Herzogin zu suchen, die genauso gut schon tot sein kann?«
»Ich stelle es mir recht aufregend vor!«
»Sie wissen nicht, wovon Sie reden.« Als er das sagte, dachte Lord Heywood an das Chaos, das in dem Land herrschte, aus dem er soeben abgereist war.
Es gab immer noch Deserteure der französischen Armee, die raubten und plünderten, wenn sich ihnen eine Möglichkeit bot, und die Bauern waren verzweifelt arm; dazu herrschte ein ungeheurer Verfall der Sitten.
Er konnte sich nichts vorstellen, was mehr an Wahnsinn grenzte als eine hübsche junge Frau, die allein durch Frankreich reiste.
Nach einer Weile sagte sie: »Nun, wenn Sie mich nicht nach Frankreich gehen lassen wollen, bleibt mir nur eine Möglichkeit, nämlich hier zu wohnen.«
»Das ist, wie ich schon gesagt habe, unmöglich«, erwiderte Lord Heywood.
»Aber warum denn? Das Schloß ist groß genug, und wenn Sie fürchten, daß mich Ihre Freunde sehen könnten, dann verstecke ich mich in einem kleinen Dachzimmer.«
»Ich habe ganz bestimmt nicht vor, Gäste zu empfangen«, sagte Lord Heywood.
»Warum nicht? Es muß eine Menge Leute geben, die sich darauf freuen, Sie nach der langen Zeit, die Sie weg waren, willkommen zu heißen.«
»In einem Haus, das ich mir nicht leisten kann!«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie in derselben Lage sind wie all die anderen Männer, die aus dem Krieg zurückgekommen sind?« fragte Lalita.
»Es kommt darauf an, wie Sie das meinen«, sagte Lord Heywood vorsichtig und wünschte, er wäre nicht so freimütig gewesen.
»Aber Sie wissen doch bestimmt«, antwortete sie, »daß die meisten der Männer, die vor kurzem aus dem Militärdienst entlassen wurden, verzweifelt arm sind. Viele haben nichts als Lumpen auf dem Leib, und sie kehren heim, wo sie ihre Häuser mit undichten Dächern und ihre Kinder hungrig vorfinden. Ich brauche Sie wohl nicht darauf hinzuweisen, daß es keine Arbeit für sie gibt.«
Lord Heywood war nicht nur darüber erstaunt, daß sie das alles wußte, sondern auch darüber, daß in ihrer Stimme Mitgefühl lag. Die englischen Frauen, denen er seit Kriegsende in Paris begegnet war, hatten sich für nichts anderes als die gesellschaftlichen Ereignisse interessiert, die zu ihrer Unterhaltung gedacht waren. Zwar sprachen die höheren Offiziere über die traurigen Zustände in England, aber sie waren kein Gesprächsthema bei Gesellschaften.
»Sie haben meiner Lage sehr beredten Ausdruck verliehen«, sagte Lord Heywood.
»Aber Sie haben immerhin dieses Haus, wenn Ihre Pachtgüter auch in schlechtem Zustand sind, wie die der anderen Grundbesitzer.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe sie gesehen.«
»Wann?«
»Ich werde derartige Fragen nicht beantworten, weil ich merke, daß Sie versuchen, etwas über mich herauszubekommen.«
»Aber Sie müssen verstehen, daß ich Ihnen nicht helfen kann, wenn ich nicht weiß, warum Sie hier sind.«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß mir nichts anderes übrigbleibt, als mich Ihnen auf Gnade und Ungnade auszuliefern, da Sie mich nicht nach Frankreich gehen lassen wollen und ich nicht zurückgehe und einen Mann heirate, bei dem es mir kalt den Rücken hinunterläuft.«
»Das haben Sie wieder sehr dramatisch ausgedrückt«, sagte Lord Heywood. »Aber es ist aus mehreren Gründen unmöglich, daß Sie bleiben: erstens, weil ich kaum ein Mädchen in Ihrem Alter verstecken kann, ohne mich selbst in die größten Schwierigkeiten zu bringen, und zweitens, weil ich es mir nicht leisten kann, einen wie immer gearteten Gast zu bewirten.«
»Ich kann für meinen Unterhalt selbst aufkommen. Ich habe ein wenig Geld bei mir.«
»Ich bin noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem ich von einer Frau Geld annehmen muß!« sagte Lord Heywood kühl.
»Sieh da«, spottete Lalita. »Aber arme Leute sollten nicht wählerisch sein.« Sie glaubte, ihn verärgert zu haben, und fügte schnell hinzu: »Sie sind wohl nicht wirklich arm, da Ihnen ein Schloß wie dieses gehört.«
»Es gehört zusammen mit dem Grund und Boden dem künftigen Erben des Titels«, sagte Lord Heywood.
»Sie meinen, Ihrem Sohn?«
»Wie die Dinge stehen, halte ich es für sehr unwahrscheinlich, daß ich mir je einen leisten kann.«
»Aber Sie würden gerne heiraten?«
»Großer Gott, nein!« stieß Lord Heywood hervor, bevor er sich bremsen konnte. »Ich habe ohnedies genug Probleme!«
»Ausgezeichnet! Da wir beide nicht den Wunsch haben zu heiraten, sollten wir eigentlich wunderbar miteinander auskommen.«
Lord Heywood seufzte. »Jetzt hören Sie mir einmal gut zu, Lalita«, sagte er. »Bevor wir uns noch weiter diesen phantastischen Gedanken hingeben, müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen. Es tut mir leid, daß Sie Probleme haben, wenn das wahr ist, was Sie mir erzählt haben, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich will sehen, ob mein Bursche etwas für uns zu essen auftreiben kann, dann müssen Sie sich auf den Weg machen.«
»Auf den Weg wohin?«
»Das ist Ihre Angelegenheit.«
»Wie können Sie bloß so brutal sein, mich hinauszuwerfen, wo Sie doch wissen, daß ich mich nirgends hinwenden kann?«
»Vielleicht sollten Sie nach Hause gehen, wo das auch ist.«
»Und einen Mann heiraten, den ich hasse und verabscheue? Wie könnte ich ihm erlauben, mich zu berühren?«
In ihrer Stimme schwang so viel Grauen mit, daß Lord Heywood fast gegen seinen Willen erschrak. Es war jetzt ein Ausdruck in ihrem Gesicht, der nicht gespielt war, und ihm wurde klar, daß sie echte Angst hatte, zu einer Ehe mit einem Mann gezwungen zu werden, den sie offensichtlich verabscheute. »Ich nehme an, Sie sind Waise. Aber haben Sie denn keine anderen Verwandten, die Ihnen helfen könnten?« fragte er.
»Ich glaube nicht, daß sie willens wären, mich vor meinem Onkel zu verbergen.«
»Wer ist Ihr Onkel?«
»Ich habe nicht die Absicht, Ihnen das zu sagen, und wenn Sie ein wirklicher Herr wären, würden Sie mich nicht bedrängen.«
»Wenn ich einen halbwegs gesunden Menschenverstand hätte, würde ich Sie zwingen, mir die Wahrheit zu sagen. Dann würde ich auf der Stelle Ihren Onkel informieren, damit er herkommt und Sie abholt.«
»Wollen Sie nicht statt dessen versuchen zu verstehen, wie verzweifelt ich bin?«
»Ich werde versuchen, es zu verstehen, aber andererseits können Sie nicht hier bleiben.«
»Aber wo soll ich hin?«
»Ich werde mir eine Antwort auf diese Frage überlegen müssen«, sagte er. »In der Zwischenzeit schlage ich vor, daß Sie sich anziehen.« Er stand auf und merkte dabei, daß ihn Lalita nachdenklich betrachtete. »Worüber denken Sie nach?« fragte er.
»Ich habe mich gerade gefragt, ob es nicht klüger von mir wäre, erst aufzustehen, wenn Sie mir versprochen haben, daß ich hier bleiben kann. Schließlich können Sie mich schlecht hinauswerfen, wenn ich nur mein Nachthemd anhabe.«
Lord Heywood lachte. »Selbst wenn ich es täte«, sagte er, »wäre ich ziemlich sicher, daß Sie Ihren Willen mit einem raffinierten Trick doch durchsetzen würden.«
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite und sagte: »Ich kann also aufstehen, ohne Angst haben zu müssen?«
»Angst oder nicht«, sagte Lord Heywood, »je eher Sie sich anziehen, desto besser! Ich sollte nicht hier sitzen und mich mit Ihnen unterhalten, während Sie im Bett liegen.«
»Es ist niemand da, der schockiert sein könnte, abgesehen von den Mäusen – und es sind tatsächlich Mäuse in der Wandverkleidung.«
»Nun ja«, meinte Lord Heywood. »Aber beeilen Sie sich, denn wenn es etwas zum Frühstück gibt, werde ich alles aufessen, wenn Sie nicht da sind.« Er ging zur Tür, sperrte sie auf und trat in den Korridor hinaus.
Während er die Treppe hinunterging, sann er darüber nach, daß seine Heimkehr ganz bestimmt anders war, als er sie sich vorgestellt hatte.
Er merkte auch, daß sein Ernst wie weggeblasen war, seit er auf Lalita gestoßen war, und er konnte auch nicht leugnen, daß sie ihn vor eine Aufgabe gestellt hatte, für die er im Moment überhaupt keine Lösung hatte.
Lalita schob ihren leeren Teller zur Seite und sagte: »Jetzt geht es mir schon besser! Ich muß zugeben, daß es eine Freude war, Toast mit Butter zu essen – zwei Dinge, die ich in den letzten Tagen mehr vermißt habe, als ich es für möglich gehalten hätte.«
Carter hatte bei den Merrivales Eier und Speck beschafft, Brot, das er getoastet hatte, und Butter, die sie von einem der Pachtgüter erhielten, wie Lord Heywood erfuhr.
»Sie haben sich in einem fort entschuldigt, Mylord, daß sie Ihnen nicht mehr anbieten können«, sagte Carter, als ihn Lord Heywood in der Küche antraf.
»Ich fürchte, wir müssen es mit jemand teilen«, erwiderte Lord Heywood.
Carter sah ihn fragend an, und Lord Heywood erklärte, daß in einem Zimmer des Schlosses eine junge Dame lebe, die sich hier versteckt habe, als die Merrivales gerade nicht aufgepaßt hätten.
»Sehr vernünftig, Mylord, wenn sie nicht gefunden werden wollte«, bemerkte Carter. »Das Schloß ist groß genug, daß sich eine ganze Armee darin verstecken kann. Ich hoffe, die Dame hat es sich gemütlich gemacht.«
»Die Frage ist, wovon werden wir uns ernähren?« sagte Lord Heywood. »Und ich hoffe, du hast den Merrivales das, was du bei ihnen geholt hast, bezahlt?«
»Das habe ich, aber es hat nicht viel gekostet, Mylord.«
»Du wirst den üblichen Preis dafür zahlen«, sagte Lord Heywood streng. »Ihre Pension ist wahrhaftig klein genug, und es ist mir unmöglich, sie zu erhöhen.«
»Es gibt in der Nähe einen Pächter, bei dem ich hoffentlich etwas Nahrhaftes zum Mittagessen bekomme, Mylord, und wenn Sie wollen, daß ich bar zahle, dann muß ich Sie um ein paar Shilling bitten.«
Lord Heywood holte eine Gold-Guinee aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch. »Die muß lange für uns reichen. Kauf nur, was absolut notwendig ist. Sobald wir gefrühstückt haben, werde ich mich im Waffenzimmer umsehen und uns eine Hauptmahlzeit verschaffen, wenn nicht mehr.«
»Wir werden schon nicht verhungern, Mylord«, meinte Carter fröhlich. »Die Pferde habe ich in die Koppel gebracht, da können sie sich allein durchs Leben schlagen.«
Lord Heywood erkannte dankbar, daß Carter an alles dachte. Eine Viertelstunde später empfand er dieselbe Dankbarkeit noch einmal, als er sich an einem kleinen Tisch, auf dem eine saubere weiße Tischdecke lag, im großen Speisezimmer zum Frühstücken niederließ.
Die Teller stammten von einem Service, das er von klein auf kannte. Sie waren mit blauen und goldenen Mustern verziert, und in der Mitte prangte das Wappen der Heywoods.
Er fing gerade an, die Eier mit Schinken zu essen, die Carter aus der Küche gebracht hatte, als Lalita ins Zimmer kam. Er wollte aufstehen, aber sie eilte auf ihn zu und setzte sich schnell auf einen Stuhl.
»Bitte essen Sie weiter«, sagte sie. »Wenn man nicht weiß, wo der nächste Bissen herkommt, wäre es ein Fehler, das, was man hat, kalt werden zu lassen.«
»Vielen Dank«, sagte Lord Heywood ein wenig spitz. Er sagte sich, daß er über diese Person, die kein Recht hatte, hier zu sein, ärgerlich sein sollte. Statt dessen fiel es ihm schwer, sich nicht einzugestehen, daß sie ungewöhnlich schön war.
Sie trug ein dünnes Sommerkleid, das einfach geschnitten, aber nichtsdestoweniger – da war er sich sicher – aus einem teuren Stoff war. Es war gewiß die richtige Kleidung für ihre schlanke, jedoch zart gerundete Figur. Die Schleifen, die es schmückten, waren vom selben Blau wie ihre Augen.
Kaum hatte sie sich hingesetzt, da kam Carter auch schon mit einem Teller Eier und Speck herein, den er vor sie hinstellte. »Guten Morgen, Miss«, sagte er gutgelaunt. »Ich hoffe, es wird Ihnen schmecken.«
»Ich bin so hungrig, daß ich ein ganzes Pferd aufessen könnte«, erwiderte Lalita.
»Keines von unseren, hoffe ich«, erwiderte Carter. »Sie sind das einzige, wovon wir uns nicht trennen.«
»Sie haben Pferde mitgebracht?« rief Lalita. »Wundervoll! Ich sehne mich so danach zu reiten. Der leere Stall sieht herzzerreißend aus, wie ein Vogelnest, wenn die Vögel weggeflogen sind.«
»Wenn Sie glauben, daß Sie meine Pferde reiten dürfen, dann täuschen Sie sich«, sagte Lord Heywood unfreundlich.
»Warum nicht?« fragte Lalita. »Ich bin eine sehr gute Reiterin.«
»Das glaube ich Ihnen gerne, aber während Sie hier wohnen – und das kann nicht von langer Dauer sein –, dürfen Sie Ihrem ursprünglichen Vorhaben, sich nicht sehen zu lassen, nicht untreu werden.«
Lalita lachte kurz auf. »Sie denken an Ihren Ruf?«
»Eigentlich habe ich an Ihren gedacht«, sagte Lord Heywood. »Aber jetzt, da Sie es sagen, wird mir klar, daß ich nicht den Wunsch verspüre, in dem Augenblick, da ich zum Oberhaupt der Familie geworden bin, als Wüstling verschrien zu werden.«
»Ist es wahrscheinlich, daß Ihre Verwandten Sie besuchen?«
»Es kann passieren, aber ich hoffe es nicht. Ich habe ihnen nichts anzubieten, abgesehen von der Kost, die Sie eintönig gefunden haben – nämlich Eier und Gemüse.«
»Unsinn!« sagte Lalita. »Es werden Ihnen eine Menge Tiere vors Gewehr laufen, wenn Sie einen Blick dafür haben.« Sie blickte ihn schalkhaft an und fügte hinzu: »Natürlich bieten Franzosen ein viel größeres Ziel als Vögel oder Kaninchen.«
»Ich sehe schon, Sie wollen mich provozieren«, antwortete Lord Heywood, »aber ich weigere mich zu antworten, bevor ich mit dem Frühstück fertig bin. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, bin ich überaus hungrig.«
Erst als sie alles, was auf dem Tisch war, aufgegessen hatten und Carter nichts mehr aus der Küche brachte, sagte Lord Heywood: »Im Ernst, Lalita, wir werden einen Plan machen müssen, wie wir Sie von hier fortschaffen.«
»Aber warum kann ich denn nicht hier bleiben? Ich wäre sehr glücklich mit Ihnen und Ihrem Burschen – wie heißt er noch? Carter? Er ist offensichtlich sehr tüchtig und sorgt gut für Sie, und da ich für mich selbst sorgen kann, sehe ich kein Problem.«
Lord Heywood stieß einen ärgerlichen Laut aus. »Jetzt hören Sie mir einmal zu, Lalita! Ich kann mich doch nicht ständig wiederholen. Sie können nicht hier bleiben. Es wäre höchst unangenehm, sowohl für Sie als auch für mich, wenn es herauskäme, daß Sie hier allein und ohne Begleitung sind.«
»Ja. Aber wohin soll ich gehen?«
»Sie können nicht von mir erwarten, daß ich eine so dumme Frage beantworte. Woher soll ich das wissen?«
»Dann ist es genauso dumm zu sagen, daß ich fort muß. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich nach Frankreich wolle, weil mich mein Onkel jederzeit finden kann, solange ich in England bin. Außerdem kann ich nicht durch die Gegend streifen und leere Häuser suchen. Ich weiß auch, daß ich nicht allein in einem Hotel unterkommen kann.«
Lord Heywood wußte ebenfalls, daß man ihr in der Tat ein Dach über dem Kopf abschlagen würde. Es gab wohl eine einfachere Lösung für das Problem, aber im Augenblick fiel ihm keine ein.
»Während Sie überlegen, ob Sie mich ertränken oder in Stücke hacken und im Garten begraben sollen«, hörte er Lalita sagen, »würde ich mir gerne Ihre Pferde ansehen.«
»Also gut, sehen Sie sich Waterloo und Conqueror an«, gab Lord Heywood nach.
Lalita stieß einen Freudenschrei aus. »Sind das die Namen, die Sie ihnen nach der Schlacht gegeben haben?«
»Es war Carter, der darauf bestand«, erwiderte Lord Heywood. »Er hat sein Pferd Conqueror genannt und Rollo, wie meines vorher hieß, immer Waterloo gerufen, bis ich damit einverstanden war, ihn jetzt so zu nennen.«
»Ich vermute – und ich wäre enttäuscht, wenn es nicht so wäre –, daß er genauso imposant ist wie Sie.«
Es klang bei ihr gar nicht wie die einschmeichelnden Komplimente, die Lord Heywood von den Frauen, die hinter ihm her waren, bekommen hatte, sondern eher wie eine Feststellung, und er sah keinen Grund, ihr zu widersprechen.
Waterloo war zweifellos sehr imposant, als sie ihn auf der Koppel hinter dem Stall vorfanden.
Lord Heywood pfiff auf seine besondere Art, und der Hengst kam auf ihn zugetrabt.
»Er ist wundervoll! Wirklich wundervoll!« rief Lalita entzückt aus. »Kein Wunder, daß Sie ihn lieben!«
»Woher wissen Sie, daß ich ihn liebe?« fragte Lord Heywood.
»Kein Tier gehorcht oder kommt so schnell auf einen Pfiff herbei, wenn es nicht weiß, daß es geliebt wird.«
Lord Heywood zog die Augenbrauen erstaunt hoch. »Ich habe vor, auf Waterloo zu dem einen oder anderen der Pachtgüter, die in der Nähe sind, zu reiten«, sagte er. »Ich nehme an, Sie würden mich gerne auf Conqueror begleiten.«
»Darf ich das wirklich?«
»Nur wenn Sie sich im nächsten Wald verbergen, während ich auf dem Gut bin, damit die Pächter und ihre Frauen denken, ich sei allein.«
»Ich verspreche es, und vielen Dank, daß Sie mir erlauben, mit Ihnen zu kommen.«
»Als erstes müssen wir einen Sattel für Sie finden«, sagte Lord Heywood.
Sie gingen in den Sattelraum und fanden Zaumzeug und Sättel sowie Geschirre, mit denen man die Pferde vor Wagen spannen konnte. Die Geschirre waren mit Silber verziert und mit dem Wappen der Heywoods geschmückt.
Es kam Lord Heywood in den Sinn, daß man einige davon verkaufen könnte, aber er überlegte, daß der Markt damit, wie mit so vielen anderen Dingen, im Augenblick wohl überschwemmt war.
Als die Pferde gesattelt waren und bereit standen, fiel ihm ein, daß Lalita nicht davon gesprochen hatte, daß sie sich umziehen wolle. »Ich nehme an«, sagte er, »daß Sie außer dem, was Sie auf dem Leib tragen, nichts anzuziehen haben.«
»Ich habe noch zwei weitere Kleider mitgebracht, und natürlich mein Nachthemd, aber der Koffer war so schwer, daß mein Arm schon weh tat, ehe ich bei der Postkutsche war.«
An seinem Gesichtsausdruck erkannte sie, daß sie ihm einen weiteren Anhaltspunkt gegeben hatte, und sie fügte deshalb hinzu: »Am Dorfeingang halten Postkutschen aus allen Himmelsrichtungen.«
»Nichtsdestoweniger haben Sie einige Zeit gebraucht, um hierher zu kommen«, sagte Lord Heywood. »Und das heißt, daß Sie wahrscheinlich von weiter herkommen. Andererseits haben Sie aber gewußt, daß das Haus leer stand und ich im Ausland war. Ihr Zuhause muß also doch irgendwo in der Nähe liegen.«
»Sehr schlau!« sagte Lalita anerkennend. »Wenn ich Ihnen jeden Tag einen Hinweis gebe, dann wissen Sie in ungefähr drei Jahren, wer ich bin, und sind in der Lage, mich zu erpressen, indem Sie mir drohen, mich nach Hause zu bringen.«
»Ich würde mich meiner Intelligenz sehr schämen, wenn ich so lange dazu bräuchte!« erwiderte Lord Heywood. »Aber ich nehme an, es ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, daß der Kutscher Ihrer Postkutsche Ihrem Onkel erzählen kann, wo er Sie abgesetzt hat, wenn er Nachforschungen nach Ihnen anstellt.«
»Das habe ich sehr wohl bedacht«, sagte Lalita triumphierend, »deshalb habe ich ihm erzählt, ich wolle hier aussteigen, um die Kutsche nach Oxford zu nehmen. Er hat mir die Auskunft gegeben, daß ich zwanzig Minuten Aufenthalt habe.«
Lord Heywood lachte. »Ich komme allmählich zu der Ansicht«, sagte er, »daß Sie nicht die arme, bemitleidenswerte Waise in Sturm und Regen sind, als die Sie sich ausgegeben haben, sondern eine ganz durchtriebene, mit allen Wassern gewaschene Gaunerin.«
»Vielleicht«, sagte Lalita. »Dann müssen Sie aber ein wachsames Auge auf mich haben, denn ich werde Sie bestimmt an Gerissenheit übertreffen, wenn Sie versuchen, mich zu etwas zu bringen, was ich nicht will.«
Lord Heywood mußte sich eingestehen, daß er Lalita amüsant, anregend und auf alle Fälle höchst ungewöhnlich fand. Er hatte den Eindruck, daß sie ihn ein wenig vorsichtig behandelte, als fürchte sie, daß es ihr letzten Endes doch nicht gelingen könnte, ihn zu überreden, daß er sie bei sich wohnen lasse.
Es war zwar verwerflich, daß sie allein mit ihm in einem leeren Schloß lebte, aber es war ihm unmöglich, aus dem Nichts eine Anstandsdame herbeizuzaubern, und er war auch von seinen eigenen Problemen viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß er Zeit gehabt hätte, sich auf die Lalitas zu konzentrieren.
Sein Besuch auf dem ersten Pachtgut war dazu angetan, ihn aus der Fassung zu bringen.
Der Pächter wurde allmählich alt, einer seiner Söhne war in die Armee eingetreten und ein anderer zur Marine gepreßt worden. Der dritte, der dem Kindesalter noch kaum entwachsen war, versuchte seinem Vater mit Unterstützung eines Mannes zu helfen, von dem Lord Heywood dachte, daß es sich bei ihm um den ›Dorftrottel‹ handeln mußte.
Die Kühe waren zu alt, um viel Milch zu geben, und die Schweine hätten mehr Futter gebraucht.
»Du hast doch sicher gute Preise für das erzielt, was du im Krieg verkaufen konntest?« fragte Lord Heywood.
»Das ist wahr, Mylord, aber es war nicht einfach, etwas anzubauen, da wir doch keine Leute hatten, und die letzten drei Jahre standen die Dinge schlecht, sehr schlecht.«
Auf dem nächsten Pachtgut fand er dieselben Zustände vor, und das bedrückte ihn so sehr, daß er beschloß, es sei genug für den Tag, und heimritt.
Er war so sehr in Gedanken vertieft, daß er beinahe vergaß, daß Lalita auch noch da war, bis sie sagte: »Sie werden etwas für die Leute tun müssen und damit für sich selbst.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was«, antwortete Lord Heywood barsch.
»Aber es muß etwas geschehen.«
»Nur ein Wunder könnte etwas bewirken, und das müßte in Form von goldenen Guineen kommen, wie Manna vom Himmel.«
»Wunder geschehen wirklich!«
»In der Bibel und im Märchen«, sagte Lord Heywood. »Wir müssen der Realität ins Auge sehen, Lalita.«
»›Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.‹«
»Ich bin nur zu willens, mir selbst zu helfen, wenn mir jemand zeigt, wie«, erwiderte Lord Heywood bitter.
Das Schloß sah so prachtvoll aus, daß es unglaublich schien, daß er trotz all der Schätze in seinem Innern keinen Pfennig hatte, den er ausgeben konnte.
Als hätte Lalita seine Gedanken gelesen, sagte sie: »Haben Sie eine Inventarliste?«
»Natürlich.«
»Angenommen, den Anwälten ist ein Fehler unterlaufen und Sie stellen fest, daß sie nicht alles aufgeführt haben?«
»Mein Anwalt hat mir versichert, daß sie die Liste gewissenhaft aufgestellt haben.«
»Vielleicht ist unter dem Fußboden oder im Keller ein Schatz versteckt.«
»Wenn ich in letzterem ein paar Flaschen Wein finde, werde ich nachsehen, ob eine dabei ist, die wir zum Abendessen trinken können.«
»Darf ich daraus schließen, daß ich Ihnen zumindest heute abend noch willkommen bin?« fragte Lalita.
»Wohl oder übel«, gab er zu, »aber ich möchte hinzufügen, daß Sie morgen früh Ihre Sachen packen und abreisen müssen.«
»Ich kann nicht glauben, daß Sie Ihren Ritt mit Carter auch nur halb so sehr genossen hätten wie mit mir.«
Weil es der Wahrheit entsprach, ärgerte er sich. »Ich kann Ihnen versichern«, sagte er, »daß ich wirklich vorhabe, darüber nachzudenken, wohin Sie gehen könnten, aber im Augenblick kommen meine eigenen Schwierigkeiten zuerst.«
»Aber selbstverständlich, und deshalb will ich Ihnen auch helfen.«
»Es gibt nichts, was Sie tun könnten.«
»Da seien Sie sich nicht so sicher! Ich bin Keltin – das ist ein weiterer Anhaltspunkt für Sie –, und alle Kelten haben besondere Kräfte. Meine Mutter war eine Wünschelrutengängerin, wenn sie es sein wollte.«
»Wir haben reichlich Wasser, danke«, sagte Lord Heywood und blickte dabei auf den See.
»Ich habe das Gefühl, daß ich Sie eines Tages überraschen werde«, sagte Lalita.
»Das haben Sie schon getan«, bemerkte er. »Ich hätte nie gedacht, daß ich im Schlafzimmer meiner Mutter einen blinden Passagier vorfinden würde, als ich heute morgen nach Hause kam.«
Lalita lachte herzlich. »Das ist genau das, was ich bin – ein blinder Passagier! Und kein menschenfreundlicher Kapitän würde mich über Bord werfen.«
»Ich glaube, das ist eine weitverbreitete falsche Ansicht«, sagte Lord Heywood. »Ich möchte betonen, daß blinde Passagiere die Überfahrt abarbeiten müssen.«
»Ich habe durchaus die Absicht, das zu tun«, erwiderte Lalita, »und wenn Sie dann feststellen, daß ich unentbehrlich bin, werden Sie noch dankbar sein, daß ich Ihr Schiff als Versteck gewählt habe.«
Sie sagte das mit einer Ernsthaftigkeit, die ihn sehr belustigte.
Als er sie beobachtete, wie sie das große Pferd vor ihm durch das Tor in den Stall ritt und dabei wunderschön in ihrem weißen Kleid mit den blauen Schleifen aussah, sagte er sich, daß keiner seiner Freunde, wenn man es ihnen erzählte, glauben würde, was ihm geschah.