ErSTES KAPITEL
Am Kai von Dover herrschte Chaos. Drei Schiffe wurden gleichzeitig entladen, und andere warteten auf einen Anlegeplatz.
Das Durcheinander von Gewehren, Munitionskisten, Säcken, Pferdegeschirr und Sätteln war heillos, ganz zu schweigen von den Pferden, die vom Schrecken der Überfahrt immer noch zitterten.
Es wurden Tragen an Land gebracht mit Männern, die verwundet waren oder im Sterben zu liegen schienen. Andere Männer, denen ein Bein oder ein Arm fehlte, wurden von Helfern gestützt.
Daneben sah man Kavalleristen, die ihre Waffen und ihren Seesack verloren hatten, und Feldwebel, die Befehle brüllten, auf die offensichtlich niemand achtete.
Wenn das Friede ist, dachte Oberst Romney Wood, während er die wacklige Landungsbrücke hinunterschritt, dann war der Krieg zumindest besser organisiert. Gleichzeitig konnte er nicht verhindern, daß er eine freudige Erregung fühlte, weil er nach sechs langen Kriegsjahren in Feindesland wieder daheim war.
Wie die meisten Soldaten der britischen Armee hatte er gehofft, daß sie nach der Schlacht von Waterloo und Napoleons Verbannung nach St. Helena nach Hause zurückkehren könnten, aber die Besatzungsarmee war nach Ansicht des Herzogs von Wellington für den Frieden in Europa unentbehrlich.
Zuerst hatte Wood gedacht, daß sein Oberbefehlshaber ohne rechten Grund auf der weiteren Besetzung bestand, vor allem, nachdem Paris ohne Kämpfe kapituliert hatte. Aber Wellington dachte nicht daran, sich in die Angelegenheiten der zukünftigen französischen Regierung einzumischen. Er war, wie immer nach einer Schlacht, damit beschäftigt, die Zivilbevölkerung vor militärischen Übergriffen zu bewahren.
Wood hatte sich nach Kräften bemüht, nicht in politische Angelegenheiten verwickelt zu werden, aber der Herzog von Wellington mochte ihn gern und wußte, daß er ein außergewöhnlicher Mann war und einer seiner besten Offiziere.
Er sah sich deshalb vor der Aufgabe, sich nicht nur um sein eigenes Regiment kümmern zu müssen, sondern auch ständig von Wellington damit beauftragt, die Schwierigkeiten zu bekämpfen, die wie Schreckgespenster an allen Ecken und Enden auftauchten und den Triumph des Sieges verdarben.
»Verflucht nochmal!« sagten Woods jüngere Kameraden fast täglich zu ihm. »Wofür haben wir gekämpft, wenn nicht, um Napoleon zu besiegen und dann nach Hause gehen zu dürfen?« Sie konnten keinen Grund dafür finden, daß der Herzog auf der weiteren Besetzung Frankreichs bestand.
Der Herzog hatte nach Wood geschickt. »Man will, daß ich umgehend dreißigtausend Mann nach Hause schicke«, sagte er, ohne sich mit einer Einleitung aufzuhalten.
»Ich habe gehört, Euer Gnaden, daß das beschlossene Sache ist.«
»Beschlossene Sache!« sagte der Herzog verdrießlich. »Ich bin derjenige, der hier Beschlüsse faßt!«
»Selbstverständlich«, stimmte ihm Wood zu.
»Ich habe die Armee bereits auf einhundertfünfzigtausend Mann verkleinert, indem ich achthundert nach Hause geschickt habe«, grollte der Herzog.
Wood sagte nichts.
Er wußte, daß die Politiker in beiden Ländern das nicht für ausreichend hielten. Im Januar 1817 hatte der Herzog vor der ständigen Konferenz der vier Botschafter erklärt: »Ich habe meine Ansicht geändert und schlage eine Verminderung um dreißigtausend Mann vor, mit der wir am ersten April beginnen sollten.«
Das war, darin waren sich die meisten einig, ein Schritt in die richtige Richtung, aber Madame de Staël und eine große Zahl attraktiver Frauen nutzten alle Verführungskünste, die ihnen zu Gebot standen, um der Besetzung ein völliges Ende zu machen.
Die Hoffnungen zerschlugen sich jedoch, als, wie üblich, zaudernde Kabinette ständig ihre Meinung änderten.
Der Herzog von Wellington hatte Wood einen Brief des Grafen von Bathurst gezeigt, in dem es hieß: »Die weitverbreitete Ungeduld in Frankreich, die Ausländer loszuwerden, ruft in mir nicht den entsprechenden Wunsch wach, das Land zu verlassen.«
Wood hatte gelacht. »Ich weiß genau, was Sie empfinden, Euer Gnaden. Auf der anderen Seite wäre es ein Fehler, unsere Gastgeber allzu sehr zu strapazieren, damit unsere Heimkehr nicht zu einem ›Rückzug‹ wird.«
Der Herzog nickte.
Aber nun stand endlich ein Großteil der britischen Armee wieder auf heimatlichem Boden.
Während Wood den Ärmelkanal überquerte, sagte er sich, daß die vergangenen drei Jahre nicht besonders angenehm gewesen waren.
Es hatte ohne Zweifel erfreuliche Augenblicke gegeben, vor allem in Paris, wo sich die Dinge, vom gesellschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, viel schneller normalisierten, als man zunächst gedacht hatte. Er hatte sich eingestehen müssen, daß er nach den unaufhörlichen Entbehrungen und den Kämpfen in Portugal und Frankreich das Essen und die schönen Frauen von Paris nicht ohne weiteres links liegen lassen konnte. Was ihm indes Kummer bereitete, war die Tatsache, daß er heute aufhörte, Soldat zu sein. Er hatte seinen Abschied eingereicht und dem Herzog Lebewohl gesagt, bevor er aus Frankreich abreiste.
»Sie werden mir fehlen«, hatte Wellington kurz angebunden gesagt.
»Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben«, antwortete Wood dem Herzog, »und es ist deshalb unumgänglich, daß ich nach Hause fahre und mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmere.«
»Du lieber Himmel!« rief der Herzog aus. »Ich hatte ja ganz vergessen, daß Sie jetzt Lord Heywood sind!«
»Ich habe nicht das Bedürfnis verspürt, von meinem Titel Gebrauch zu machen, solange ich noch Soldat war«, erwiderte Lord Heywood, »aber Euer Gnaden werden verstehen, daß sich in meiner Abwesenheit niemand um den Besitz gekümmert hat, da ich das einzige Kind meiner Eltern bin, und ich habe in der Tat sechs Jahre lang England nicht mehr betreten.«
Danach hatte der Herzog keine Einwände mehr erhoben, aber Lord Heywoods Herz war schwer bei dem Gedanken daran gewesen, wie sehr er die Männer, mit denen er so lange gedient hatte, vermissen würde. Ich bin daheim! versuchte er sich zu trösten, während er sich mühsam einen Weg durch das Chaos am Kai bahnte.
Es gab an diesem Abend keine Möglichkeit mehr, von Dover fortzukommen, und er hatte es nur seinem Offiziersrang und der Autorität, die er ausstrahlte, sowie seinem ungewöhnlich guten Aussehen zu verdanken, daß er ein Zimmer fand, in dem er die Nacht verbringen konnte.
Am nächsten Morgen brachten die Männer seines Regiments unzählige Probleme vor ihn, bei deren Lösung zu helfen er sich verpflichtet fühlte, ehe er abreiste.
Er mußte auch ein Gespräch unter vier Augen führen, aber es war schwierig, einen Ort zu finden, an dem man sich in Ruhe unterhalten konnte.
Da er vor seiner Abreise aus Frankreich beschlossen hatte, nicht nach London zu fahren, sondern nach seiner Ankunft in England querfeldein nach Hause zu reiten, hatte er an die Anwaltskanzlei seiner Familie geschrieben, sie sollten ihm einen ihrer Anwälte nach Dover schicken, damit er sich dort mit ihm treffe.
Schließlich bot der Hoteldirektor Lord Heywood sein Privatbüro an, das dieser zusammen mit dem Anwalt betrat.
»Ich hatte keine Ahnung, als ich Sie bat, von London hierher zu kommen, Mr. Crosswaith«, sagte Lord Heywood zu dem Anwalt, »daß die Zustände in Dover derart chaotisch sind.«
»Das ist verständlich, Mylord, unter den Umständen«, erwiderte Mr. Crosswaith, ein kleiner, älterer Mann.
»Als erstes«, fuhr Lord Heywood fort, während sich Mr. Crosswaith, die ausgebeulte Aktentasche an sich drückend, setzte, »möchte ich Ihnen für die Briefe danken, die Sie mir geschrieben haben, als ich in Frankreich war. Ich fand allerdings, daß diejenigen, die ich in den letzten achtzehn Monaten erhielt, etwas entmutigend waren.«
»Das erstaunt mich nicht, Mylord«, erwiderte Mr. Crosswaith. »Viele junge Männer, die wie Sie den Dienst quittiert haben, sind unangenehm überrascht von den Verhältnissen in England.«
»Ich habe gehört, daß die Wirtschaft aufgrund des Kriegs zusammengebrochen und Armut die Folge ist«, sagte Lord Heywood schnell.
»Das ist wahr«, gab ihm Mr. Crosswaith recht, »und ich will Eurer Lordschaft auch nicht verheimlichen, daß es im ganzen Land viel Not, ja sogar soziale Unruhen gibt.«
Das hatte Lord Heywood bereits vom Herzog erfahren, der England einen flüchtigen Besuch abgestattet hatte.
»Wenn ich Ihren letzten Brief, Mr. Crosswaith, recht verstanden habe«, sagte Lord Heywood, »dann ist mein Besitz fast bankrott.«
»Das ist ein Wort, das ich nicht benutzen möchte, Mylord«, erwiderte der Anwalt, »aber es ist eine traurige Tatsache, daß die Bauern ihren Pachtzins nicht zahlen können.«
»Ist es wirklich so schlimm?« fragte Lord Heywood.
Er wußte, wie die Antwort ausfallen würde, bevor Mr. Crosswaith antwortete: »Noch schlimmer!«
»Also gut«, sagte Lord Heywood. »Dann müssen wir jetzt überlegen, was wir verkaufen können.«
»Ich bin davon ausgegangen, daß Eure Lordschaft danach fragen würden«, antwortete Mr. Crosswaith, »und habe deshalb eine Liste der veräußerlichen Vermögenswerte aufgestellt. Ich fürchte, es sind nur sehr wenige.«
Lord Heywood runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das – wenige?«
Mr. Crosswaith hüstelte, als wolle er sich rechtfertigen. »Eure Lordschaft müssen sich darüber im klaren sein, daß Ihr Großvater, der fünfte Baron, den gesamten Familienbesitz in ein unveräußerliches Erblehen umgewandelt hat, das nur aufgelöst werden kann, wenn drei Erben des Besitzes gleichzeitig am Leben sind.«
»Davon hatte ich keine Ahnung.«
»Ich habe Eurer Lordschaft die Urkunden zur Einsichtnahme mitgebracht.«
»Ich bin durchaus gewillt, Ihnen zu glauben, Mr. Crosswaith. Was Sie damit sagen wollen, ist, daß ich weder Heywood House in London noch Heywood Abbey auf dem Land verkaufen kann und auch wenig oder nichts von der Innenausstattung.«
»Genau so ist es, Mylord«, meinte Mr. Crosswaith.
Lord Heywood trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Er fragte sich, wie er von nichts leben sollte, denn darauf liefen die Nachrichten, die ihm Crosswaith gebracht hatte, letzten Endes hinaus.
Wenn er zurückblickte, konnte er sich erinnern, wie glänzend der Familienbesitz in Buckinghamshire dastand, als er ein Junge war.
Die Pächter waren wohlhabend, die Landarbeiter lächelten zufrieden. Der Stall neben dem Schloß stand voller Pferde, und in der säulengeschmückten Halle wartete ein halbes Dutzend junger Lakaien auf Befehle. Draußen machte eine ganze Armee von Gärtnern, Jägern und Wildhütern das Heywoodsche Gut zu einer der beneidenswertesten Besitzungen im ganzen Land.
Man konnte sich gar nicht vorstellen, daß nichts davon übrig war.
Er sagte sich, daß es unmöglich sei und daß Mr. Crosswaith wohl übertrieb.
»Ich kann Ihnen versichern, Mylord, daß ich mich sehr sorgfältig umgesehen habe. Aber ich muß Ihnen noch einmal zu meinem Bedauern sagen, daß wenig oder gar nichts da ist, was Eure Lordschaft verkaufen könnten.«
»Wie steht es mit den Bäumen?«
»Die brauchbaren wurden schon während der ersten Kriegsjahre abgeholzt. Die übrigen sind entweder zu alt oder zu jung und für den Schiff- oder Hausbau nicht geeignet.«
»Es muß doch etwas da sein!« sagte Lord Heywood. So sehr er auch versuchte, seiner Stimme nichts anmerken zu lassen, es schwang doch eine gewisse Verzweiflung in ihr mit.
Er wußte, daß er selbst ebenfalls Schulden gemacht hatte. Es handelte sich um eine ziemlich große Summe, da sein Geldbeutel im letzten Jahr sehr in Anspruch genommen worden war.
Allerdings war es nicht so, daß er das Geld für die schönen, aber habgierigen Frauen, von denen es in Paris wimmelte, ausgegeben hatte, sondern er hatte vielen seiner Offizierskameraden geholfen, von denen er damals annahm, daß sie in einer weit schlimmeren Situation waren als er selbst.
»Ich komme zu Hause an, ohne auch nur einen Pfennig in der Tasche zu haben!« hatte sich einer seiner Männer bitter beklagt.
»Ruiniert, kaputt, in der Klemme«, hatte ein anderer Mann zu ihm gesagt. »Das kommt davon, wenn man für seinen König und sein Vaterland kämpft, während die, die zu Hause geblieben sind, in Saus und Braus leben.«
Er hatte ein Darlehen hier gegeben und ein Darlehen da und nicht erwartet, je wieder etwas von seinem Geld zu sehen. Doch war dies ein Preis, den Lord Heywood mit Freuden für die Freundschaft, den Gehorsam und die Bewunderung, die ihm die jüngeren Männer im Krieg und während der Besatzungszeit entgegengebracht hatten, gezahlt hatte. Jetzt erkannte er, daß er zu großzügig gewesen war und seine Verpflichtungen seinen eigenen Leuten gegenüber vergessen hatte, deren ganzes Leben sich um das große Haus gedreht hatte.
Er merkte, daß ihn Mr. Crosswaith voller Sorge anblickte. »Ich reite sofort nach Heywood Abbey«, sagte er, »und will sehen, was ich tun kann. Wollen Sie mir etwa sagen, daß nichts auf der Bank ist?«
»Meine Partner und ich, Mylord, haben nach dem Tod Ihres Vaters Ihre Wünsche erfüllt: Wir haben die Pensionäre bezahlt und die Löhne der Diener, die geblieben sind, bis sie eine andere Stellung finden konnten.«
»Wie viele sind noch in London?« fragte Lord Heywood.
»Nur der Butler und seine Frau, die eigentlich zu alt sind und in den Ruhestand versetzt werden sollten, wenn sich ein Häuschen für sie findet, der Stiefelputzer, der dreiundsiebzig ist, und der Aushilfsdiener, der meiner Ansicht nach auf die Achtzig zugeht.«
»Und auf dem Land?«
»Glücklicherweise haben fast alle Diener andere Stellungen gefunden«, antwortete Mr. Crosswaith. »Die einzigen beiden, die noch da sind, sind Merrivale und seine Frau. Sie können sich vielleicht erinnern, daß er zur Zeit Ihres Großvaters Lakai war und später bei Ihrem Vater Butler wurde.«
»Ja, ich kenne Merrivale«, sagte Lord Heywood.
»Er ist inzwischen ein sehr alter Mann. Er und seine Frau wurden zu Verwaltern von Heywood Abbey ernannt. Sie leben in einem Häuschen beim Stall.«
»Sind das alle?«
»Grimshaw, der Oberstallknecht, ist letztes Jahr gestorben und Evans, der Gärtner, ebenfalls. Ihre Frauen leben beide nicht mehr.«
»Es sind also nur die Merrivales in Heywood Abbey?«
»So ist es, Mylord. Sie werden einsehen, daß kein Geld da war, mit dem wir neue Diener hätten bezahlen können. Es schien uns ohnehin ein überflüssiger Luxus zu sein, ehe wir nicht wußten, wann Eure Lordschaft zurückkommen.«
»Sie haben ganz recht«, sagte Lord Heywood. »Und jetzt zu dem, was verkauft werden kann!«
Er streckte die Hand aus, während er das sagte, und Mr. Crosswaith händigte ihm ein Blatt Papier aus. Darauf war ein Dutzend Gegenstände aufgeführt.
»Ist das alles?«
»Ich fürchte, ja, Mylord. Die Möbel in den Prunkzimmern sind ebenso wie die Gemälde und das Silber selbstverständlich unveräußerlich, und alles andere im Haus, wie zum Beispiel die Vorhänge, die Teppiche und die Möbel in den unbedeutenderen Zimmern, ist im Augenblick unverkäuflich, es sei denn zu einem so niedrigen Preis, daß es kaum der Rede wert wäre.«
»Und dasselbe gilt für London?«
»Genau dasselbe, Mylord.«
Lord Heywood preßte die Lippen aufeinander. Dann sagte er: »Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob es heutzutage Käufer für Land und insbesondere für Ackerland gibt.«
»Der Markt ist übersättigt«, antwortete Mr. Crosswaith. »Jeder Grundbesitzer versucht, seine Pachtgüter loszuwerden. Die Korngesetze, die erlassen wurden, um das billige ausländische Getreide fernzuhalten, haben nur noch mehr Hungersnöte bewirkt, ohne daß die Bauern Aussicht haben, einen vernünftigen Preis für ihre Produkte zu bekommen.«
Lord Heywood war versucht zu bemerken, daß das also die Siegesbeute war; aber es war eine allzu abgedroschene Redensart, und so sagte er nichts.
Während er seine Aktentasche zumachte, meinte Mr. Crosswaith: »Ich wollte nur, Mylord, ich wäre in der Lage gewesen, Ihnen bessere Nachrichten zu bringen. Wenn Sie es wünschen, werden meine Partner und ich das Haus in London noch einmal in Augenschein nehmen, aber der einzige, der dieser Tage etwas zu kaufen scheint, ist seine Königliche Hoheit, der Prinzregent, und da er seine Schulden nie bezahlt, legen die meisten Herrschaften keinen Wert darauf, ihm ihr Eigentum zu verkaufen.«
Lord Heywood erhob sich. »Wenn ich mir von den Zuständen in Heywood Abbey ein Bild gemacht und entschieden habe, wie es weitergehen soll, werde ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für die Art und Weise, in der Sie den Besitz in meiner Abwesenheit verwaltet haben. Ich weiß, daß ich Ihnen auch in Zukunft dann vertrauen kann.«
»Wir sind Eurer Lordschaft für Ihr Vertrauen zutiefst dankbar.«
Lord Heywood erwähnte nicht, daß es zweifelhaft sei, ob die Kanzlei je ihr Honorar bekommen würde, aber er merkte sehr wohl, daß derjenige, der sich dieser Tatsache am bewußtesten war, Mr. Crosswaith selbst war.
Der Anwalt verließ unter Verbeugungen das Büro, und Lord Heywood blieb noch einige Minuten sitzen. Er fragte sich, was zum Teufel er tun sollte; dann sagte er sich in seiner zupackenden Art, daß es keinen Sinn hatte, irgendwelche Pläne zu machen, bevor er gesehen hatte, in welchem Zustand Heywood Abbey und der dazugehörige Grundbesitz waren. Er bemerkte, als er sich auf dem Tisch umblickte, daß ihm Mr. Crosswaith einen ganzen Stoß Schriftsätze dagelassen hatte, von denen der umfangreichste das Inventar von Heywood Abbey war. »Es muß doch irgend etwas da sein!« murmelte er. Als er feststellte, daß er noch ungefähr zwanzig Pfund Bargeld bei sich hatte, war ihm das ein gewisser Trost.
Dennoch sagte er sich, daß er früher hätte heimkehren sollen. Es wäre besser gewesen, wenn er sein Offizierspatent in dem Augenblick verkauft hätte, als ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters erreichte.
Aber die Reue kam zu spät. Ihm blieb jetzt nur, heimzureiten und sich selbst ein Bild von der schwierigen Lage zu machen.
Es war früh am nächsten Morgen, als Lord Heywood und sein Bursche Carter zu Pferd in Heywood Abbey ankamen.
Von Dover fortzukommen war so schwierig gewesen, daß sie, obwohl sie schnell geritten waren, schließlich von der Dunkelheit überrascht wurden und gezwungen waren, in einem Wirtshaus am Weg abzusteigen.
Es war ohne alle Bequemlichkeiten gewesen, und als die Morgendämmerung anbrach, dachte Lord Heywood, daß die Pferde zweifellos besser untergebracht waren als er selbst.
Das Frühstück bestand aus altbackenem Brot, einem Stück harten Käse und Butter, die ranzig roch.
»Ich warte, bis ich zu Hause bin«, bemerkte Lord Heywood, schob es zur Seite, und sie machten sich auf den Weg, nachdem sie den Wirt bezahlt hatten.
Während sie durch die ihm vertraute Landschaft ritten, entsann sich Lord Heywood wieder der freudigen Erregung, die er sich nicht eingestehen wollte, als er seinen Fuß in Dover auf britischen Boden gesetzt hatte.
Jetzt war es sein Boden, Teil so vieler Erinnerungen, von denen er gedacht hatte, er habe sie vergessen.
Zu Carter hatte er am Tag zuvor gesagt: »Wenn du mit mir kommst, kann ich dir kein bequemes Leben bieten. England ist nicht mehr das, was es bei unserer Abreise war, und so viel ich im Augenblick weiß, reicht es nicht einmal für mein eigenes Essen, geschweige denn für deines.« Er machte eine Pause, bevor er hinzufügte: »Offen gesagt, ich habe nicht die geringste Ahnung, woher dein Lohn kommen soll!«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Mylord«, erwiderte Carter. »Wir haben uns immer noch irgendwie durchgewurstelt, sogar im Krieg, und was das Essen betrifft, da traue ich mir schon zu, daß ich etwas herbeischaffe.«
Lord Heywood lachte. »Wenn du etwas stiehlst, was mehr als einen Shilling wert ist, wirst du gehängt oder deportiert. Wir haben es jetzt nicht mehr mit einem Feind zu tun, sondern mit dem englischen Gesetz. Du wirst, hoffe ich, in Heywood Abbey viele Kaninchen und anderes Wild vorfinden, das mir gehört und auch dir, wenn es dir gelingt, es zu fangen oder zu schießen, vorausgesetzt, wir können uns Patronen leisten.«
Im stillen dachte er jedoch, als sie so dahinritten, daß er nicht so viele Kaninchen und Hasen sah, wie er erwartet hatte, und auch keine Fasane, die einst in großer Zahl in den Wäldern gebrütet hatten. Er hegte den Verdacht, daß viele Bauern lieber das Risiko einer strengen Bestrafung, wenn sie erwischt wurden, auf sich nahmen, als hungrig blieben.
Es war immer noch sehr zeitig, und über dem See hing der Morgendunst, als das Schloß schließlich vor ihnen auftauchte.
Heywood Abbey war ursprünglich eine Zisterzienserabtei gewesen, aber es war praktisch nichts von ihr übriggeblieben.
Es war der zweite Lord Heywood gewesen, der sich ein Schloß baute, das seinen Ansprüchen genügte. Heywood Abbey war deshalb ein außerordentlich eindrucksvolles Bauwerk mit einem Mittelbau, dessen Dach mit Urnen und Statuen geschmückt war, und zwei Seitenflügeln. Im Morgensonnenschein sah das Haus jetzt so schön und gleichzeitig imposant aus, daß Lord Heywood es sich einfach nicht vorstellen konnte, daß es nicht nur leer war, sondern daß er auch nicht einen einzigen Diener bezahlen konnte, der ihm aufwartete.
Er hatte die Zügel seines Pferdes angezogen, und Carter hatte es ihm gleichgetan.
Es war ganz still. Dann sagte Carter: »Ist das Ihr Schloß, Mylord?«
»Ja, Carter.«
Carter kratzte sich hinter dem Ohr. »Sieht wie 'ne Kaserne aus!«
Lord Heywood lachte. Er wußte, daß Carter ein einfacher Londoner war, der sich, als er in die Armee eintrat, angeblich, weil ihm der Sinn nach Abenteuern stand, nie hätte vorstellen können, daß ein Mann ein riesiges Gebäude allein bewohnen könnte.
In diesem Augenblick wurde Lord Heywood klar, daß er Carter dringender als je brauchte, wenn er hier leben wollte.
Es waren nicht nur seine Fähigkeiten, aus jeder Situation, in der sie sich befanden, das Beste zu machen, und seine Gabe, an den unwahrscheinlichsten Orten Nahrung wie Manna vom Himmel herbeizuzaubern, die ihn so unentbehrlich machten, sondern auch seine Fröhlichkeit und sein Sinn für Humor, und Lord Heywood hätte sehr dumm sein müssen, wenn er nicht gemerkt hätte, daß ihn Carter auf seine Weise geradezu verehrte.
Er war ein Waisenjunge, der in einer Armenschule aufgezogen und einem Mann in die Lehre gegeben worden war, der ihn schlecht behandelt hatte und von dem er weggelaufen war. Dann war er zum Militär gegangen. Er betrachtete Lord Heywood, seit er sein Offiziersbursche war, als Mittelpunkt seiner ganzen Existenz.
»Ob Kaserne oder nicht«, sagte Lord Heywood laut, »jedenfalls werden du und ich in nächster Zeit hier leben, und ich verspreche dir, daß wir es immerhin behaglicher als letzte Nacht haben werden.«
»Nun, Mylord, wir werden das Beste daraus machen«, sagte Carter.
Lord Heywood trieb sein Pferd an.
Es war sehr still im Stall; und in dem Häuschen, von dem er wußte, daß Merrivale und seine Frau darin lebten, waren die Vorhänge noch zugezogen.
Nachdem sie die Pferde im Stall abgeschirrt und mit Wasser versorgt hatten, gingen Lord Heywood und Carter auf den hinteren Eingang des Schlosses zu.
»Es kann sein, daß wir nicht hineinkommen«, sagte Lord Heywood, »dann muß ich Merrivale doch wecken. Er ist aber ein sehr alter Mann, und so würde ich lieber abwarten und erst dann zu ihm gehen, wenn er angezogen ist, da er erschrecken könnte, wenn er mich sieht.«
»Ich werde schon einen Weg hinein finden, Mylord.«
Die Hintertür war versperrt, aber ein Fenster stand halboffen, und Carter kletterte hindurch. Nachdem Lord Heywood es Carter überlassen hatte, in der Küche nach etwas Eßbarem zu suchen, ging er den Korridor entlang, der durch eine mit grünem Fries bespannte Tür zum repräsentativsten Teil des Schlosses führte.
Sämtliche Vorhänge waren zugezogen. Seitlich von ihnen drang jedoch das schwache Licht der Sonne, die noch nicht ganz aufgegangen war, herein.
Lord Heywood warf einen Blick in das riesige Speisezimmer, in dessen Mitte eine lange Tafel stand, an der leicht fünfzig Personen auf einmal Platz fanden.
Alles war mit einer dicken Schicht Staub bedeckt, und weil der Gedanke, daß er nie in der Lage sein würde, hier Gäste zu bewirten, bedrückend war, ging er weiter.
Er machte um die größeren Räume einen Bogen und kam zu dem kleinen Salon, den sein Vater und seine Mutter täglich benutzt hatten, während die Prunkzimmer für besondere Anlässe bestimmt waren.
Im kleinen Salon waren die Vorhänge zugezogen, und er konnte nur die Umrisse der Möbel, die mit Staubdecken aus Leinwand bedeckt waren, ausmachen.
Er ging wieder weiter und kam jetzt an die Tür zur Bibliothek mit ihren hohen Bücherregalen und der Galerie, zu der er als Kind auf einer Wendeltreppe hinaufzuklettern pflegte.
Aber statt einzutreten, wandte er sich der Treppe zu, die in den ersten Stock hinaufführte.
Vor ihm lag der große Salon, in dem seiner Erinnerung nach seine Eltern einmal den Prinzen von Wales zu Gast gehabt und in dem sie Gesellschaften gegeben hatten, zu denen die gesamte Grafschaft herbeigeströmt war.
Auch hier war alles in Staubdecken gehüllt, und er sagte sich, daß er später zurückkommen, die schweren Vorhänge aufziehen und das Sonnenlicht hereinlassen würde.
Er ging den breiten Korridor hinunter, um die Zimmersuite aufzusuchen, in der seine Eltern zu schlafen pflegten. Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer seines Vaters, das ihm genauso groß erschien, wie er es in Erinnerung hatte, und trat an eines der Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen.
Um das große Himmelbett hingen immer noch die karmesinroten Brokatvorhänge. Das Familienwappen an seinem Kopfende hatte die Frau des zweiten Barons vor mehr als hundert Jahren gestickt, als er sie verlassen hatte, um mit dem Herzog von Marlborough in den Krieg zu ziehen.
Lord Heywood konnte sich an jedes einzelne Möbelstück und an alle Gemälde erinnern. Er blickte sich um und spürte förmlich, wie ihn der Geist seines Vaters zu Hause willkommen hieß. Dann ging er auf die Verbindungstür zu, die in das Zimmer führte, in dem seine Mutter geschlafen hatte.
Sie war gestorben, als er in Portugal gedient hatte, und er hatte keine Möglichkeit gehabt, nach Hause zu fahren. Er dachte jetzt daran, wie schön sie gewesen war und wie sehr er sie sogar jetzt noch vermißte. Es war ein Schmerz, mit dem er nicht gerechnet hatte, der etwas Kindliches an sich hatte.
Die Verbindungstür ließ sich nicht öffnen, und Lord Heywood vermutete, daß sie sein Vater vielleicht nach dem Tod seiner Mutter zugeschlossen hatte. Er ging in den Korridor zurück und versuchte die Tür, die von dort in das Zimmer führte, zu öffnen, aber auch diese war versperrt.
Er spürte einen gewissen Ärger in sich aufsteigen, daß es ihm verwehrt war, das Zimmer seiner Mutter jetzt gleich zu betreten. Er mußte wohl Merrivale um den Schlüssel bitten.
Dann fiel ihm ein, daß es noch einen anderen Zugang zum Schlafzimmer seiner Mutter gab, nämlich durch ihr Boudoir.
Er ging im Korridor ein wenig weiter, bis er zu der Tür des Boudoirs kam, und als er den Türknopf drehte, öffnete sie sich.
Die Vorhänge waren zugezogen, aber in dem Zimmer war die Luft überraschend gut und frisch. Er ging sofort auf eines der hohen Fenster zu, vor dem seidene Brokatvorhänge in sanftem Blau hingen, das eine der Lieblingsfarben seiner Mutter gewesen war.
Er schob eine der Vorhanghälften zurück und sah zu seiner Überraschung, daß das Fenster offen war; er spürte einen weichen, warmen Lufthauch auf seinem Gesicht.
Als er auch die andere Vorhanghälfte zurückzog, flutete das Sonnenlicht in das Zimmer, und er wandte sich um, um das große Bett zu betrachten. Er erinnerte sich an alle Einzelheiten: an seine vergoldeten Pfosten, in die Blumen geschnitzt waren, an die Seidenvorhänge, die von einem Betthimmel hingen, der mit Tauben und Putten verziert war.
In dem Bett bewegte sich etwas.
Er traute seinen Augen nicht. Dann erkannte er, während sich die Bettdecke bewegte, daß da ein Kopf auf dem Kissen lag, und dann setzte sich jemand auf.
Lord Heywood erblickte ein kleines, ovales Gesicht mit den zartrosa Wangen eines Kindes, das geschlafen hat. Lange blonde Haare fielen unordentlich über ein weißes Nachthemd.
Dann starrten Lord Heywood zwei große tiefblaue Augen an, und eine Stimme fragte: »Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«