23
Um halb drei Uhr traf sich die kleine Truppe im Ratssaal: Bundle, Virginia, Battle, Lemoine und Anthony.
«Es hat keinen Sinn zu warten, bis wir Mr Lomax finden», erklärte Battle. «Wir müssen so rasch wie möglich handeln.»
«Falls Sie glauben, Fürst Michael sei von einem Eindringling getötet worden, der durch diesen Gang kam, dann irren Sie sich», sagte Bundle. «Das ist völlig ausgeschlossen, denn das andere Ende ist verschüttet.»
«Darum handelt es sich nicht, Mylady», fiel Lemoine rasch ein. «Unsere Suche gilt etwas ganz anderem.»
«Doch nicht etwa dem historischen Dingsda?», fragte Bundle mit großen Augen.
Lemoine machte ein erstauntes Gesicht.
«Was verstehst du darunter, Bundle?», fragte Virginia. «Erkläre dich bitte näher.»
«Dieser historische Stein, der gestohlen wurde, als ich noch jung und dumm war.»
«Wer hat Ihnen davon erzählt, Lady Eileen?», erkundigte sich Battle.
«Ach, das weiß ich seit ewigen Zeiten. Einer der Diener sagte es mir, als ich etwa zwölf war.»
«Ein Diener!», rief Battle aus. «Guter Gott! Schade, dass Mr Lomax das nicht gehört hat.»
«Ist das wieder eines der sorgfältig gehüteten Geheimnisse von George?», fragte Bundle. «Das ist ja zum Schreien! Übrigens habe ich nie an die Geschichte geglaubt. George ist doch immer der gleiche Esel – er sollte wirklich wissen, dass man vor Dienern nichts verbergen kann.»
Sie ging zum Holbein-Porträt hinüber, drückte auf einen verborgenen Knopf – und sogleich drehte sich ein Teil der Täfelung unter lautem Knarren nach innen. Eine dunkle Höhlung zeigte sich.
«Entrez, Messieurs et Mesdames», sagte Bundle melodramatisch. Lemoine und Battle hatten sich mit Taschenlampen ausgerüstet. Als Erste betraten sie den dunklen Gang, die Anderen folgten ihnen auf dem Fuße.
«Die Luft ist frisch», murmelte Battle. «Irgendwo muss sich eine Lüftung befinden.»
Er ging voran. Der Boden bestand aus rohen, unebenen Steinen, die Wände aus gemörtelten Ziegeln. Wie Bundle gesagt hatte, endete der Gang nach etwa hundert Metern an einem Wall von zerbröckeltem Mauerwerk. Battle überzeugte sich, dass keine Möglichkeit bestand, auf der anderen Seite weiterzukommen.
«Gehen wir zurück. Ich wollte nur Gewissheit haben.»
Ein paar Minuten später befanden sie sich wieder am Eingang.
«Wir wollen von hier aus beginnen», erklärte Battle. «Sieben vorwärts, acht links, drei rechts. Nehmen wir an, es handelt sich um Schrittlängen.»
Sorgfältig maß er sieben Schritte ab, bückte sich und untersuchte den Boden.
«Scheint mir ungefähr richtig. Zu irgendeiner Zeit wurde hier ein Kreidezeichen angebracht. Und jetzt acht links. Das kann sich nicht um Schritte handeln, der Gang ist ja so eng, dass man nur im Gänsemarsch gehen kann.»
«Versuchen Sie es mit Ziegeln», schlug Anthony vor.
«Ganz richtig, Mr Cade. Acht Ziegel vom Boden oder von der Decke aus nach links. Erst probieren wir es mit dem Boden.»
Er zählte acht Ziegelsteine ab.
«Jetzt von hier aus drei nach rechts. Eins – zwei – drei – hallo, was ist das?»
«Ich fange gleich an zu schreien», erklärte Bundle. «Ganz bestimmt! Was haben Sie gefunden?»
Inspektor Battle arbeitete mit einem Messer an den Ziegeln herum. Sein geübtes Auge hatte sofort entdeckt, dass einer der Ziegel anders eingesetzt war als die Übrigen. Es dauerte nur kurze Zeit, bis er ihn herausziehen konnte. Dahinter befand sich eine kleine Höhlung. Battle schob seine Hand hinein.
Alle waren atemlos.
Battle zog die Hand wieder heraus.
Dann stieß er einen Ausruf des Erstaunens und des Ärgers aus.
Die anderen kamen näher und starrten verständnislos auf die drei Dinge, die Battle in Händen hielt.
Ein Kärtchen mit kleinen Perlmutterknöpfen, eine quadratische, primitive Strickarbeit und ein Blatt Papier, auf dem nichts weiter stand als eine Reihe von großen «E».
«Hol’s der Teufel», knurrte Battle. «Was soll das heißen?»
«Mon Dieu», murmelte der Franzose. «Ca c’est trop fort.»
«Was bedeutet das?», rief Virginia verblüfft.
«Das kann nur eines bedeuten», sagte Anthony. «Der verstorbene Graf Stylptitch muss eine eigentümliche Auffassung von Humor gehabt haben. Ich gestehe, dass ich es gar nicht lustig finde.»
«Wollen Sie uns das nicht etwas näher erklären, Sir?», fragte Battle.
«Sicher. Das scheint ein kleiner Scherz des Grafen zu sein. Er hat jedenfalls vermutet, dass sein Zettel gelesen würde. Wenn nun also die Diebe hier erschienen, sollten sie statt des Steins dieses Rätsel finden. Derartige Aufgaben werden bei Intelligenzprüfungen gestellt, wo die Leute erraten sollen, wen oder was man darstellt.»
«Es hat also einen bestimmten Sinn?»
«Ich bin überzeugt davon. Wenn der Graf nur hätte spotten wollen, dann hätte er bloß einen Zettel hingelegt mit dem Vermerk ‹Verkauft› oder die Zeichnung eines Esels oder etwas ähnlich Geistreiches.»
«Eine Strickarbeit, ein paar große ‹E› und Perlmutterknöpfe», brummte Battle unzufrieden.
«C’est inou», rief Lemoine zornig.
«Code Nummer zwei», lächelte Anthony. «Ob wohl Professor Wynwood auch diesen so leicht entschlüsseln könnte?»
«Wann ist dieser Gang wohl zum letzten Mal benützt worden, Mylady?», erkundigte sich der Franzose bei Bundle.
«Ich glaube kaum, dass er in den letzten Jahren noch begangen wurde. Das Schlossverlies besitzt größere Anziehungskraft.»
«Merkwürdig», murmelte Lemoine.
«Warum ist das merkwürdig?»
Der Franzose bückte sich und hob einen kleinen Gegenstand vom Fußboden auf.
«Deshalb», meinte er. «Dieses Streichholz liegt keinesfalls schon zwei Jahre hier – nicht einmal zwei Tage. Hat jemand von Ihnen dieses Streichholz fallen lassen?» Alle verneinten.
«Mir scheint, wir haben alles gesehen, was es hier zu sehen gibt», sagte Inspektor Battle. «Wir können ebenso gut hinausgehen.»
Das Paneel hatte sich inzwischen geschlossen, aber Bundle zeigte ihnen, wie es sich von der Innenseite aus öffnen ließ. Als erste sprang sie geräuschvoll in den Ratssaal.
«Verdammt!», erklang es aus einer Ecke. Lord Caterham fuhr aus einem Lehnstuhl auf, in dem er anscheinend sein Mittagsschläfchen gehalten hatte.
«Armer alter Papa, habe ich dich erschreckt?»
«Ich begreife nicht, wieso sich heutzutage kein Mensch mehr ruhig hinsetzen kann. Chimneys ist doch wahrhaftig groß genug, aber selbst hier gibt es keinen Raum, wo man Ruhe finden kann. Lieber Himmel, wer kommt denn da alles? Erinnert mich an die Pantomimen, die ich als kleiner Junge sah und wo ganze Horden von Dämonen aus der Unterwelt auftauchten.»
«Dämon Nummer fünf», lächelte Virginia, indem sie zu ihm trat. «Seien Sie nicht böse. Wir machen nur Entdeckungsreisen durch Geheimgänge, das ist alles.»
«Heute scheint große Nachfrage nach Geheimgängen zu bestehen», brummte Lord Caterham, noch nicht völlig besänftigt. «Den ganzen Morgen musst ich diesen Fish in ihnen herumführen.»
«Wann war das?», unterbrach Battle hastig.
«Kurz vor dem Lunch. Hat anscheinend etwas über den Gang hier gehört. Ich zeigte ihn ihm, und dann führte ich ihn auch noch zur weißen Galerie und zum Verlies. Seine Begeisterung ließ rasch nach, und schließlich langweilte er sich zu Tode. Aber er musste durchhalten.» Lord Caterham schüttelte sich vor Lachen.
Anthony legte seine Hand auf Lemoines Arm.
«Kommen Sie hinaus», flüsterte er, «ich möchte mit Ihnen sprechen.» Die beiden Männer gingen durch die Balkontür ins Freie. In sicherer Entfernung vom Haus zog Anthony das Stückchen Papier heraus, das Boris ihm am Morgen gegeben hatte.
«Haben Sie das verloren?», fragte er.
Lemoine nahm den Zettel und betrachtete ihn interessiert.
«Nein», sagte er, «ich habe das noch nie gesehen. Weshalb fragen Sie?»
Anthony wiederholte, was Boris ihm gesagt hatte. Der andere hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu.
«Nein, ich habe es bestimmt nicht verloren. Sie sagen, er hat es in dem kleinen Gehölz gefunden?»
«Ich nahm es an, aber er hat das nicht so genau gesagt.»
«Vielleicht ist es aus dem Koffer von Mr Isaacstein herausgefallen. Fragen Sie doch Boris noch einmal.» Er reichte Anthony den Zettel zurück. Dann fragte er nach kurzem Nachdenken: «Was wissen Sie eigentlich über diesen Boris?»
«Ich weiß nur, dass er der vertraute Diener von Fürst Michael war.»
«Sie sollten sich darüber vergewissern. Erkundigen Sie sich doch bei Baron Lolopretjzyl. Vielleicht ist der Mann erst vor kurzem angestellt worden. Ich persönlich möchte ihn für echt halten, aber kann man wissen? König Victor ist durchaus imstande, sich im Handumdrehen in einen glaubhaften Diener zu verwandeln.»
«Glauben Sie wirklich –»
Lemoine unterbrach ihn.
«Ich gestehe, dass ich von dem Gedanken an König Victor völlig besessen bin. Überall glaube ich ihn zu sehen. Selbst jetzt frage ich mich: Ist dieser junge Mann, mit dem ich spreche – dieser Mr Anthony Cade –, nicht am Ende König Victor?»
«Guter Gott», sagte Anthony, «Sie hat’s aber bös gepackt.»
«Was kümmern mich Juwelen? Was kümmert mich der Mörder von Fürst Michael? Das alles überlasse ich meinen Kollegen von Scotland Yard. Ich bin nur aus einem einzigen Grund nach England gekommen – um König Victor zu fangen. Nichts anderes interessiert mich.»
«Glauben Sie, dass Sie Glück haben werden?»
«Wie soll ich das wissen?», erwiderte Lemoine mit plötzlicher Mutlosigkeit.
Sie kamen zur Terrasse zurück, wo Battle wie eine hölzerne Statue neben der Balkontür stand.
«Sehen Sie den armen Battle an», meinte Anthony, «wir wollen ihn etwas aufzuheitern versuchen.» Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: «Sie sind eigentlich ein merkwürdiger Mensch, Monsieur Lemoine.»
«Inwiefern, Mr Cade?»
«Nun», erklärte Anthony, «an Ihrer Stelle hätte ich den Wunsch gehabt, diese Adresse aufzuschreiben, die ich Ihnen zeigte. Sie mag ja vielleicht unwichtig sein, aber man kann schließlich nie wissen.»
Lemoine blickte ihn einen Moment scharf an. Dann schob er mit leichtem Lächeln den linken Ärmel seines Jacketts etwas zurück. Auf der Manschette standen in dünner Bleistiftschrift die Worte:
Hurstmere, Langly Road, Dover.
«Ich erkläre mich für besiegt», sagte Anthony.
Er gesellte sich zu Inspektor Battle.
«Sie sehen nachdenklich aus, Battle», bemerkte er.
«Ich habe auch vieles zu überlegen, Mr Cade.»
«Davon bin ich überzeugt.»
«Nichts will zusammenpassen, gar nichts.»
«Sehr peinlich», stimmte Anthony zu. «Immerhin, Battle: Wenn alles schiefgehen sollte, können Sie immer noch mich verhaften. Meine verräterischen Fußspuren rechtfertigen das jederzeit. Denken Sie daran.»
Aber der Inspektor lächelte nicht einmal.
«Haben Sie Feinde, Mr Cade?», erkundigte er sich.
«Ich glaube, der dritte Diener mag mich nicht besonders», entgegnete Anthony leichthin. «Er bemüht sich immer, mich beim Servieren zu übergehen. Weshalb fragen Sie?»
«Ich habe anonyme Briefe erhalten», sagte Inspektor Battle. «Das heißt, um genau zu sein, eigentlich nur einen.»
«Und dieser Brief bezieht sich auf mich?»
Ohne zu antworten, zog Battle ein gefaltetes Blatt von billigstem Papier aus der Tasche und reichte es Anthony. In ungelenkiger Schrift stand da:
Passen Sie auf Mr Cade auf. Er ist nicht, was er scheint.
«Ist das alles? Beruhigen Sie sich, Battle – natürlich bin ich in Wirklichkeit ein König.»
Er ging ins Haus, während er vor sich hin pfiff. Aber sobald er in seinem Zimmer angelangt war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, änderte sich sein Ausdruck. Er wurde gespannt und nachdenklich. Anthony setzte sich auf die Bettkante und starrte trübe auf den Boden.
«Die Sache wird ernst», murmelte er. «Irgendetwas muss geschehen. Es ist so verdammt merkwürdig –»
Er blieb eine Weile sitzen, dann erhob er sich und ging zum Fenster hinüber. Gedankenlos starrte er hinaus, doch plötzlich verengten sich seine Augen, und sein Blick konzentrierte sich auf einen bestimmten Punkt.
«Aber natürlich», sagte er plötzlich, «der Rosengarten! Das ist’s! Der Rosengarten!»
Eilig rannte er die Treppen hinunter und durch eine Seitentür in den Park. Auf einem Umweg erreichte er den Rosengarten. Beim Näherkommen hielt er erstaunt inne und starrte auf den zweiten Besucher des Gartens, der ihn seinerseits ebenso verblüfft musterte.
«Ich hatte keine Ahnung, dass auch Sie sich für Rosen interessieren, Mr Fish», begann Anthony liebenswürdig.
«Mein Herr, ich bin sogar sehr an Rosen interessiert», antwortete Mr Fish steif.
Ihre Blicke tasteten sich vorsichtig ab wie die zweier Gegner, welche die schwache Stelle des Feindes zu entdecken suchen.
«So geht es auch mir», sagte Anthony.
«Tatsächlich?»
«Ich schwärme für Rosen», sagte Anthony gleichgültig.
Ein ganz leichtes Lächeln zeigte sich auf Mr Fishs Lippen, und gleichzeitig lächelte auch Anthony.
«Betrachten Sie bloß diese Schönheit», sagte Mr Fish und neigte sich über eine besonders herrliche Blüte. «Madame Abel Chatenay heißt sie, wenn ich nicht irre. – Jawohl, es stimmt. Und diese weiße Rose hieß vor dem Krieg Frau Carl Drusky. Man hat sie später umgetauft – sehr patriotisch, aber doch etwas überempfindlich. Die La France ist natürlich immer geschätzt. Lieben Sie rote Rosen, Mr Cade? Dieses leuchtende Scharlach –»
Die monotone Stimme wurde unterbrochen. Bundle lehnte sich aus einem Fenster des ersten Stocks.
«Fahren Sie mit in die Stadt, Mr Fish? Ich starte gleich.»
«Danke bestens, Lady Eileen, aber ich bin sehr glücklich hier.»
«Und Sie, Mr Cade? Haben Sie Ihre Absichten geändert?»
Anthony schüttelte lachend den Kopf. Sie zog sich zurück.
«Ein kleines Schläfchen sagt mir jetzt mehr zu», erklärte Anthony mit ungeniertem Gähnen. «Ein ruhiger Nachmittagsschlaf ist genau das, was ich brauche.» Er zog eine Zigarette hervor. «Hätten Sie zufällig ein Streichholz, Mr Fish?»
Mr Fish reichte ihm die Streichholzschachtel, Anthony bediente sich und gab die Schachtel dankend zurück.
«Rosen sind prächtig», sagte er, «aber ich bin gegenwärtig nicht sehr auf gärtnerische Erzeugnisse eingestellt.»
Donnern erklang vom Hause her.
«Einen starken Motor hat der Wagen», bemerkte Anthony. «Hier saust er ab.»
Sie konnten den Wagen die lange Auffahrt hinunterfahren sehen.
Anthony schlenderte pfeifend dem Hause zu.
Gemächlich ging er durch die Tür. Kaum war er jedoch im Haus, schoss er, wie von der Tarantel gestochen, durch die Halle, sprang aus einem Seitenfenster und rannte quer durch den Park. Er wusste, dass Bundle beim Parktor abbiegen und um das Dorf herum einen weiten Umweg machen musste.
Er rannte verzweifelt, wie um sein Leben – und erreichte die Parkmauer im gleichen Moment, da das Geräusch des Motors ertönte. Elastisch schwang er sich über die Mauer und fiel auf die Straße.
«Hallo!», schrie Anthony.
Bundle war so überrascht, dass der Wagen ins Schleudern kam; doch es gelang ihr, ihn ohne Schaden wieder in den Griff zu kriegen. Anthony rannte ihr nach, öffnete die Tür und ließ sich neben Bundle auf den Vordersitz fallen.
«Ich fahre mit Ihnen nach London», erklärte er. «Es war von Anfang an meine Absicht gewesen.»
«Ein außergewöhnlicher Mensch», murmelte Bundle. «Was halten Sie da in der Hand?»
«Nur ein Streichholz», erwiderte Anthony. Nachdenklich betrachtete er es. Es war hellrot mit gelbem Kopf. Sorgfältig steckte er es in seine Tasche.