19
Alle starrten den Franzosen an, und dieser lächelte zurück.
«Aber ja», bemerkte er, «es ist wirklich wahr.»
Virginia drehte sich zu Battle um.
«Wissen Sie, was ich denke, Inspektor Battle?»
«Bitte, was denken Sie, Mrs Revel?»
«Mir scheint, der Zeitpunkt für eine kleine Aufklärung ist gekommen.»
«Aufklärung? Ich verstehe nicht ganz, Mrs Revel.»
«Inspektor Battle, Sie verstehen mich ausgezeichnet. Natürlich hat George Lomax Sie um striktes Schweigen gebeten – das tut er immer. Aber halten Sie es nicht auch für gescheiter, uns einzuweihen, statt dass wir die Geheimnisse selbst zu erforschen suchen und dabei vielleicht ungewollt Schaden anrichten? Monsieur Lemoine, stimmen Sie mir nicht bei?»
«Madame, ich bin ganz Ihrer Meinung.»
«Man kann Geheimnisse nicht ewig hüten,» gab Battle zu. «Das habe ich auch zu Mr Lomax gesagt. Mr Eversleigh ist Mr Lomax’ Sekretär, vor ihm kann ich also ruhig sprechen. Mr Cade ist unfreiwillig in die Sache hineingerutscht, und mir scheint, er hat ein Recht, alles zu erfahren. Jedoch –»
Battle hielt inne.
«Ich weiß», warf Virginia ein. «Frauen sind so unzuverlässig! George Lomax hat es oft genug gesagt.»
Lemoine hatte Virginia aufmerksam angeschaut. Jetzt wandte er sich an den Mann von Scotland Yard.
«Haben Sie Madame nicht soeben mit dem Namen Revel angesprochen?»
«So heiße ich», sagte Virginia.
«Ihr Gatte stand im diplomatischen Dienst, nicht wahr? Und Sie lebten in Herzoslowakien zur Zeit des Königsmordes?»
«Stimmt.»
«Ich denke, Madame hat das Recht, die Geschichte ebenfalls zu hören. Sie ist indirekt ja sogar daran beteiligt. Außerdem», seine Augen zwinkerten leicht, «außerdem genießt Madame in diplomatischen Kreisen den Ruf größter Verschwiegenheit.»
«Es freut mich, dass Sie mir ein so gutes Zeugnis ausstellen», lachte Virginia. «Und ich bin froh, dass man mich nicht auszuschalten versucht.»
«Wo soll die Konferenz stattfinden? In diesem Zimmer?», warf Anthony ein.
«Mir wäre das sehr angenehm», bemerkte Battle. «Ich möchte diesen Raum nicht verlassen, bevor es Tag wird. Sie werden das verstehen, wenn ich die Geschichte erzählt habe.»
«Es ist selbstverständlich», begann Battle, «dass alles, was ich hier berichte, streng vertraulich bleiben muss. Es darf kein Leck geben. Übrigens war mir von Anfang an klar, dass das Ganze früher oder später herauskommen musste. Männer wie George Lomax, die aus allem ein Geheimnis machen wollen, riskieren mehr, als sie ahnen. – Der Anfang dieser Geschehnisse liegt sieben Jahre zurück. Vieles spielte sich hier in England ab, und da war es besonders der alte Graf Stylptitch, der die Fäden zog. In allen Balkanstaaten herrschte damals Aufruhr, und viele königliche Hoheiten befanden sich zu dieser Zeit in England. Ich will mich nicht in Einzelheiten verlieren, aber etwas verschwand damals – verschwand auf eine so eigentümliche Art, dass man gezwungen war, zwei Annahmen vorauszusetzen: Erstens musste der Dieb zu den ganz hochgestellten Persönlichkeiten zählen, und zweitens musste er gleichzeitig ein Meisterdieb sein. Monsieur Lemoine kann Ihnen das näher erklären.»
Der Franzose verneigte sich leicht und fuhr mit der Erzählung fort:
«Vielleicht haben Sie in England noch nichts gehört von unserem berühmten, fantastischen König Victor. Seinen wirklichen Namen kennt niemand, aber er ist ein Mann von außergewöhnlichem Mut und Unternehmungsgeist, ein Mann, der fünf Sprachen spricht und ein Meister der Verkleidung ist. Man weiß, dass sein Vater entweder Engländer oder Ire war, er selbst aber arbeitete hauptsächlich in Paris. Dort hat er auch vor etwa acht Jahren eine Serie von verwegenen Einbrüchen ausgeführt, und zwar unter dem Namen eines Captain O’Neill.»
Ein leiser Ausruf entschlüpfte Virginia. M. Lemoine warf ihr einen raschen Blick zu.
«Ich glaube zu verstehen, was Madame erregt. Sie werden gleich sehen. – Wir von der Sûreté hatten wohl den Verdacht, dass dieser O’Neill niemand anders als König Victor selbst war. Aber uns fehlte jeglicher Beweis dafür. Zur gleichen Zeit lebte in Paris eine kluge junge Schauspielerin, Angele Mory von den Folies Bergères. Wir vermuteten, dass sie mit den Verbrechen von König Victor in Verbindung stand – aber auch hierfür fand sich kein Beweis.
Zu jener Zeit bereitete sich Paris auf den Besuch des jungen Königs Nikolaus von Herzoslowakien vor. Die Sûreté ergriff spezielle Sicherheitsmaßnahmen, um den König zu schützen. Man warnte uns besonders vor einer Gruppe von Revolutionären, die sich selbst ‹Bruderschaft von der Roten Hand› nannten. Es ist nun ziemlich sicher, dass diese Brüder sich Angele Mory näherten und ihr eine riesige Summe versprachen, wenn sie ihre Pläne fördern helfe. Sie sollte den König in ihre Netze locken und ihn dann zu einem vorher vereinbarten Platz führen. Angele Mory ging auf das Angebot ein und versprach, das Ihrige zu tun.
Aber die junge Dame war klüger und ehrgeiziger, als ihre Verbündeten geglaubt hatten. Es gelang ihr leicht, den König zu umgarnen, denn dieser verliebte sich Hals über Kopf in sie und überschüttete sie mit Geschenken. Da fasste sie den Plan, nicht nur königliche Mätresse zu werden, sondern – Königin! Jeder weiß, dass ihr dieser Plan gelang. Königin Varaga – keine schlechte Karriere für eine kleine Pariser Schauspielerin! Doch ihr Triumph dauerte nicht lange. Die Brüder von der Roten Hand waren über ihren Verrat wütend und versuchten zweimal einen Anschlag auf ihr Leben. Schließlich wiegelten sie das Volk so lange auf, bis eine Revolution ausbrach, in der sowohl der König wie auch die Königin umkamen. Ihre grausam zerstückelten und kaum identifizierbaren Körper wurden gefunden – ein Zeugnis der Volkswut gegen die fremdländische, nicht standesgemäße Königin.
Nun dürfen wir als sicher annehmen, dass Königin Varaga ihre Verbindung mit König Victor nie aufgegeben hatte. Möglicherweise stammte der kühne Plan sogar von ihm selbst. Jedenfalls wissen wir, dass sie noch von Herzoslowakien aus mit ihm korrespondierte und dass diese Briefe in einem bestimmten Code abgefasst waren. Sicherheitshalber wurden sie in englischer Sprache geschrieben und mit dem Namen einer englischen Dame unterzeichnet, die sich zu jener Zeit in der dortigen Gesandtschaft aufhielt. Falls man jemals Erkundigungen eingezogen und die Dame ihre Unterschrift bestritten hätte, wäre ihr wahrscheinlich nicht geglaubt worden, denn die Briefe lasen sich wie heiße Liebesergüsse einer ungetreuen Frau an ihren Liebhaber. – Es war Ihr Name, der dazu missbraucht wurde, Mrs Revel.»
«Ich weiß», seufzte Virginia. Die Farbe kam und ging auf ihren Wangen. «Das also ist die Wahrheit über diese Briefe! Ich habe mir immer und immer wieder den Kopf zerbrochen.»
«Was für ein heimtückischer Trick!», rief Bill empört.
«Die Briefe waren an Captain O’Neill in Paris gerichtet, und ihr eigentlicher Zweck kam erst spät ans Licht. Nach der Ermordung des Königspaares fielen eine Menge Kronjuwelen in die Hände des Pöbels und fanden später ihren Weg nach Paris. Dabei entdeckte man, dass in neun von zehn Fällen die echten Steine herausgebrochen und durch Imitationen ersetzt waren. Und Sie dürfen mir glauben, dass sich sehr berühmte Steine unter den Kronjuwelen von Herzoslowakien befanden! – So musste also angenommen werden, dass Angele Mory selbst als Königin ihre frühere Tätigkeit nicht aufgegeben hatte.
Sie sehen nun, zu welchen Schlüssen wir gelangten. Nikolaus IV. und Königin Varaga hatten seinerzeit England besucht und waren auch bei dem damaligen Marquis von Caterham eingeladen, Sekretär im Auswärtigen Amt. Herzoslowakien ist ein kleines Land, aber man durfte es nicht übergehen. Hier haben wir also die hochgestellte Persönlichkeit – die Königin –, die gleichzeitig ein geschickter Dieb war! Es besteht ferner kein Zweifel daran, dass die Ersatzsteine, die so ausgezeichnete Imitationen waren, dass höchstens ein Experte die Fälschung erkannt hätte, einzig und allein von König Victor stammen konnten. Und tatsächlich wies der ganze Plan in seiner Kühnheit und Verwegenheit auf ihn als Urheber hin.»
«Was geschah weiter?», erkundigte sich Virginia.
«Es wurde vertuscht», gestand Battle. «Bis zum heutigen Tag ist keine Silbe darüber laut geworden. Wir unternahmen natürlich alles, was sich im Geheimen tun ließ – und das bedeutet viel mehr, als Sie jemals vermuten könnten. Wir haben da unsere eigenen Methoden. Eines wissen wir jedenfalls bestimmt: Das besondere – Juwel, um das es sich hier handelt, verließ England nicht mit der Königin Varaga, das kann ich beschwören. Nein, Ihre Majestät versteckte den Stein. Aber wo, das haben wir niemals entdecken können. Ich würde mich jedoch nicht wundern», Inspektor Battle ließ seine Augen umherschweifen, «wenn er sich in diesem Raum befände!»
Anthony sprang auf.
«Was? Nach all den Jahren?», rief er ungläubig aus. «Ausgeschlossen!»
«Sie kennen die Begleitumstände nicht, Monsieur», entgegnete der Franzose rasch. «Vierzehn Tage später brach die Revolution in Herzoslowakien aus, und das Königspaar wurde ermordet. Gleichzeitig verhafteten wir Captain O’Neill in Paris wegen eines kleineren Vergehens. Wir hofften, das Päckchen mit den Geheimbriefen in seinem Hause zu finden, aber anscheinend wurde dieses inzwischen von irgendeinem herzoslowakischen Zwischenträger gestohlen. Der Mann tauchte kurz vor der Revolution in Herzoslowakien auf und verschwand dann endgültig.»
«Wahrscheinlich ist er ausgewandert», meinte Anthony nachdenklich. «So gut wie sicher nach Afrika. Und ich wette, dass er sich sein ganzes Leben lang an dieses Päckchen klammerte – es war für ihn so gut wie eine Goldmine. Man nannte ihn dort wohl Hollandpeter oder so ähnlich.»
Er bemerkte, wie Inspektor Battle ihn mit seinem ausdruckslosesten Gesicht anschaute, und lächelte.
«Keine Wahrsagerei, Battle, obschon es den Anschein hat. Ich erzähle Ihnen das später einmal.»
«Eine Frage haben Sie noch nicht beantwortet», warf Virginia ein. «Was hat all das mit den Memoiren des Grafen Stylptitch zu tun? Es muss doch eine Verbindung bestehen.»
«Madame begreift sehr rasch», erwiderte Lemoine bewundernd. «Ja, es gibt eine solche Verbindung. Graf Stylptitch hielt sich zu der gleichen Zeit ebenfalls auf Chimneys auf.»
«Sodass er also davon wissen konnte?»
«Parfaitement.»
«Und wenn er in seinen kostbaren Memoiren mit der ganzen Sache herausgeplatzt ist», knurrte Battle, «dann ist der Teufel los! – Besonders, nachdem man so geheimnisvoll damit getan hat.»
Anthony zündete sich eine Zigarette an.
«Besteht keine Möglichkeit», fragte er, «dass er in seinen Memoiren einen Hinweis darauf gab, wo der Stein versteckt ist?»
«Kaum», erklärte Battle bestimmt. «Er verstand sich nie mit der Königin – wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Heirat. Sie hat ihn bestimmt nicht ins Vertrauen gezogen.»
«Daran dachte ich auch nicht», gab Anthony zurück. «Aber allem Anschein nach war er ein schlauer Kerl. Er könnte ohne ihr Wissen entdeckt haben, wo sie den Stein versteckte. Was hätte er in diesem Fall wohl getan?»
«Sich still verhalten», meinte Battle nach einigem Zögern.
«Ich bin ganz Ihrer Meinung», bekräftigte der Franzose. «Es wäre eine heikle Situation für ihn gewesen. Den Stein anonym zurückzugeben wäre sehr schwierig geworden. Auf der andern Seite aber hätte ihm sein Wissen um dieses Versteck große Macht verliehen – und er liebte die Macht über alles, dieser merkwürdige alte Herr. Er hätte nicht nur die Königin in der Hand gehabt – es wäre überhaupt eine sehr wertvolle Waffe für ihn gewesen, die er zu gegebener Zeit hätte benutzen können. Das war ja keineswegs sein einziges Geheimnis, o nein! Er sammelte Geheimnisse wie andere Menschen wertvolles Porzellan. Es wird behauptet, dass er ein paar Mal vor seinem Tod damit prahlte, was er alles erzählen könnte – falls ihn die Lust dazu ankäme. Und mindestens einmal erklärte er, seine Memoiren würden überraschende Enthüllungen enthalten. Daher», der Franzose lächelte etwas gequält, «daher die allgemeine Angst vor diesen Memoiren. Unsere eigene Geheimpolizei wollte sie an sich bringen, aber der Graf sorgte dafür, dass sie noch vor seinem Tod verschwanden.»
«Immerhin liegt kein Grund vor anzunehmen, dass er auch dieses spezielle Geheimnis kannte», bemerkte Battle.
«Ich bitte um Verzeihung», warf Anthony ruhig ein, «aber seine eigenen Worte bestätigen es.»
«Wie?»
Der Inspektor und der Franzose blickten ihn an, als ob sie ihren Ohren nicht trauten.
«Als Mr McGrath mir das Manuskript übergab, erzählte er mir die Umstände seiner Begegnung mit dem Grafen Stylptitch. Es war in Paris. Sich selber in Gefahr bringend, befreite er, Mr McGrath, den Grafen aus den Händen einer Apachenbande. Der Graf war etwas – sagen wir ‹angeheitert›. Und in diesem Zustand machte er zwei recht bedeutsame Bemerkungen. Die eine davon lautete: Er wisse, wo sich der Koh-i-noor befinde, eine Feststellung, der mein Freund kein Gewicht beimaß. Ferner sagte er, die Leute, die ihn verfolgt hatten, gehörten zur Bande von König Victor. Zusammengenommen sind diese beiden Bemerkungen sehr aufschlussreich.»
«Guter Gott», rief Inspektor Battle aus, «das kann man wohl sagen. Selbst der Tod von Fürst Michael erhält dadurch einen anderen Aspekt.»
«König Victor hat niemals gemordet», erinnerte der Franzose.
«Wenn er aber auf der Suche nach dem Juwel überrascht wurde?»
«Befindet er sich denn in England?», fragte Anthony scharf. «Sie sagten, dass er vor ein paar Monaten entlassen wurde. Hat man ihn nicht überwacht?»
Ein etwas klägliches Lächeln überflog das Gesicht des Franzosen. «Wir versuchten es, Monsieur. Aber der Mann ist ein wahrer Teufel. Er entglitt uns direkt unter den Händen. Wir nahmen natürlich an, dass er sich sofort nach England begeben werde. Aber nein! Er ging – was glauben Sie wohl, wohin?»
«Nun, wohin?», fragte Anthony. «Nach Amerika – in die Vereinigten Staaten.»
«Wie?» Höchste Überraschung klang in Anthonys Stimme.
«Jawohl! Und wissen Sie, wie er sich dort nannte? Wessen Rolle er spielte? – Die Rolle des Prinzen Nikolaus von Herzoslowakien!»
Anthonys Erstaunen war nicht geringer als eben das von Inspektor Battle. «Unmöglich!»
«O nein, mein Freund. Auch Sie werden die Neuigkeit morgen in den Zeitungen lesen. Es war ein kolossaler Bluff. Wie Sie wissen, glaubte man, dass der Prinz vor Jahren im Kongo umgekommen sei. Unser Freund König Victor ergreift diese Gelegenheit – es ist schwer, einen solchen Tod zu beweisen. Er lässt Prinz Nikolaus wiederauferstehen und spielt seine Rolle so vortrefflich, dass er einen ungeheuren Haufen amerikanische Dollars einsteckt – alles für die angeblichen Ölkonzessionen. Durch einen bloßen Zufall wurde er entlarvt und musste Hals über Kopf aus Amerika fliehen. Diesmal kam er wirklich nach England – und deshalb bin ich hier. Früher oder später wird er auf Chimneys auftauchen. Falls er nicht bereits hier ist.»
«Sie glauben, dass –»
«Ich glaube, dass er in der Nacht der Ermordung von Fürst Michael hier war – und ebenfalls wieder letzte Nacht.»
«Das war also ein zweiter Versuch?», warf Battle ein.
«Es war ein zweiter Versuch.»
«Was mich die ganze Zeit beunruhigt», fuhr Battle fort, «war die Frage, was aus unserem Mr Lemoine geworden sei. Ich hatte Nachricht aus Paris erhalten, dass er herüberkäme, um mit uns zusammenzuarbeiten, und ich konnte nicht verstehen, weshalb er nicht auftauchte.»
«Ich muss mich wirklich entschuldigen», gab Lemoine zu. «Sehen Sie, ich traf am Morgen nach dem Mord hier ein, und es schien mir besser, der Angelegenheit als Privatmann nachzugehen, ohne offiziell als Ihr Kollege aufzutreten. Ich glaubte, dass darin größere Möglichkeiten lägen. Natürlich war mir klar, dass ich mich dadurch verdächtig machte; meinen Plänen jedoch konnte es nur förderlich sein, wenn der Verbrecher eben deshalb weniger auf der Hut zu sein brauchte. Ich kann Ihnen versichern, dass ich während der letzten beiden Tage recht interessante Beobachtungen machte.»
«Aber», fuhr Bill dazwischen, «was geschah denn eigentlich in der vergangenen Nacht?»
«Ich bedaure», lächelte Mr Lemoine, «dass ich Sie derart in Atem hielt.»
«Demnach habe ich Sie verfolgt?»
«Richtig. Ich werde Ihnen die Sache erklären. Ich kam hierher, um zu wachen, denn ich war überzeugt, dass das Geheimnis mit diesem Zimmer zu tun hatte, weil Fürst Michael hier ermordet wurde. Ich stand draußen auf der Terrasse. Plötzlich bemerkte ich, dass sich etwas im Raum bewegte. Hin und wieder konnte ich den Schein einer Taschenlampe sehen. Ich versuchte, die mittlere Balkontür zu öffnen, und merkte, dass sie nicht fest verschlossen war. Ob der Mann auf diesem Weg eingedrungen war oder ob er sie für eine rasche Flucht vorbereitet hatte, das weiß ich nicht. Ganz leise schob ich die Tür auf und schlüpfte in das Zimmer. Schritt für Schritt tastete ich mich bis zu einer Stelle vor, von der aus ich ihn beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Ich vermochte den Mann nicht zu erkennen, denn er drehte mir den Rücken zu, und ich sah nur seine Silhouette im Licht der Taschenlampe. Aber seine Tätigkeit überraschte mich. Er zerlegte erst die eine, dann die andere Rüstung in ihre Bestandteile und untersuchte jedes Stück auf das genaueste. Als er sicher war, dass sich das Gesuchte nicht dort befand, begann er, die Wand unterhalb dieses Gemäldes abzuklopfen. Was daraus geworden wäre, weiß ich nicht, denn da platzten Sie herein –» Er blickte zu Bill hinüber.
«Unser gut gemeintes Dazwischentreten war bedauerlich», sagte Virginia nachdenklich.
«In gewissem Sinne, ja. Der Mann machte sein Licht aus, und da ich meine Identität nicht preisgeben wollte, sprang ich durch die Balkontür. Mr Eversleigh hielt mich für den Einbrecher und rannte mir nach.»
«Ich folgte Ihnen zuerst», lächelte Virginia. «Bill kam erst als Zweiter ins Rennen.»
«Und inzwischen war der andere Kerl klug genug, sich still zu verhalten und dann durch die Tür zu entwischen. Ich wundere mich bloß, dass er nicht von den anderen entdeckt wurde.»
«Das war weiter nicht schwierig für ihn», erklärte Lemoine. «Er brauchte bloß als Erster der Helfer einzutreffen, das war alles.»
«Glauben Sie wirklich, dass sich dieser Arsène Lupin unter den Hausbewohnern befindet?», fragte Bill.
«Warum nicht?», gab Lemoine zurück. «Er konnte ohne weiteres einen der Dienstboten darstellen. Er mag zum Beispiel Boris sein, der Diener von Fürst Michael.»
«Das ist ein eigentümlicher Bursche», stimmte Bill zu.
Aber Anthony lächelte. «Das ist Ihrer nicht würdig, Monsieur Lemoine», sagte er liebenswürdig.
Der Franzose gab das Lächeln zurück.
«Sie haben ihn in Ihren Dienst genommen, nicht wahr, Mr Cade?», fragte Inspektor Battle.
«Battle, ich ziehe den Hut vor Ihnen. Sie wissen wirklich alles. Aber um genau zu sein: Er hat mich angenommen, nicht ich ihn.»
«Und weshalb das, Mr Cade?»
«Ich weiß es wirklich nicht», sagte Anthony leichthin. «Scheint ein Sonderling zu sein, aber vielleicht hat ihm mein Gesicht besonders gefallen. Oder er vermutet, dass ich seinen Herrn umgebracht habe, und hofft, dadurch eine günstige Gelegenheit für seine Rache zu erhalten.»
Er stand auf und ging zu den Fenstern hinüber.
«Morgengrauen», meinte er mit unterdrücktem Gähnen. «Jetzt wird es wohl keine Aufregungen mehr geben.»
Lemoine erhob sich ebenfalls. «Ich verlasse Sie jetzt. Aber vielleicht werden wir uns im Laufe des Tages wiedertreffen.»
Mit einer liebenswürdigen Verneigung in Richtung Virginia schritt er durch die Balkontür hinaus.
«Bett!», seufzte Virginia gähnend. «Das war eine aufregende Nacht! Bill, gehen Sie auch schlafen.»
Anthony blieb am Fenster stehen und blickte der entschwindenden Gestalt von M. Lemoine nach.
«Sie werden es vielleicht nicht für möglich halten», bemerkte Battle hinter ihm, «aber dieser Mann wird als der gerissenste Detektiv in Frankreich angesehen.»
«Das überrascht mich eigentlich nicht – im Gegenteil.»
«Sie hatten recht mit Ihrer Bemerkung, die Aufregungen der Nacht seien vorbei. Übrigens, erinnern Sie sich, was ich Ihnen von dem Mann erzählte, der in der Nähe von Staines aufgefunden wurde?»
«Ja, weshalb?»
«Nichts Besonderes. Man hat ihn identifiziert, das ist alles. Es scheint, dass er Giuseppe Manelli hieß. Und er war Kellner im Hotel Blitz. Merkwürdig, nicht wahr?»