12
«Mr Anthony Cade», meldete der Butler.
«Auftritt des verdächtigen Fremden», sagte Anthony.
Mit unfehlbarem Instinkt wandte er sich sofort an Lord Caterham.
«Ich muss mich entschuldigen», begann er, «dass ich hier eindringe. Aber im ‹Jolly Dog›, oder wie Ihr Gasthaus heißen mag, gehen Gerüchte um über einen Mord in diesem Hause, und ich glaube, einige Aufklärungen darüber geben zu können.»
«Eh – ganz richtig – ganz richtig», meinte Caterham nervös.
«Wollen Sie – eh – Platz nehmen?»
«Danke.»
George räusperte sich gewichtig. «Was meinen Sie damit, dass Sie ‹Aufklärungen› geben können?»
«Ich meine», erläuterte Anthony, «dass ich gestern Nacht unbefugterweise in Lord Caterhams Besitztum eingedrungen bin – ich hoffe, dass man mir das verzeihen wird –, und zwar um 23 Uhr 45, und dass ich den Schuss gehört habe. Ich kann also wenigstens die Zeit des Verbrechens genau angeben.»
Er schaute von einem zum andern, wobei sein Blick am längsten auf Inspektor Battle verweilte, dessen Schweigsamkeit ihm zu imponieren schien.
«Aber ich vermute, das ist nichts Neues für Sie», schloss er liebenswürdig.
«Wie meinen Sie das?»
«Ich zog heute früh ein paar leichte Schuhe an. Als ich später nach meinen Stiefeln fragte, waren sie nicht vorhanden; ein netter junger Constable hatte sie mitgenommen. Ich zählte also zwei und zwei zusammen und kam hierher, um mich, wenn möglich, von einem Verdacht zu reinigen.»
«Ein sehr vernünftiger Gedanke», meinte Battle. «Ich schätze Ihre Zurückhaltung, Inspektor. – Inspektor ist doch richtig, nicht wahr?»
Lord Caterham griff ein. Ihm begann Anthony zu gefallen.
«Inspektor Battle von Scotland Yard. Dies ist Colonel Melrose, unser Polizeichef, und Mr Lomax.»
Anthony blickte den Letztgenannten interessiert an.
«Mr George Lomax?»
«Ja.»
«Ich glaube, Mr Lomax», bemerkte Anthony, «ich hatte gestern das Vergnügen, einen Brief von Ihnen zu erhalten.»
«Nicht dass ich wüsste», erklärte George kalt.
Wenn nur Miss Oscar hier gewesen wäre! Miss Oscar schrieb alle Briefe für George und wusste besser Bescheid als er selbst. Ein großer Mann wie George Lomax konnte sich natürlich nicht mit solchen Kleinigkeiten wie Briefen befassen. Er zog es daher vor, weiter zu fragen:
«Sie wollen uns doch eine – hm – Erklärung abgeben, was Sie gestern um 23 Uhr 45 hier zu suchen hatten?»
Sein Ton sagte klar: Und was Sie auch erzählen mögen – geglaubt wird Ihnen nicht!
«Ja, Mr Cade, was wollten Sie eigentlich hier?» fragte nun auch Lord Caterham mit lebhaftem Interesse.
«Es tut mir sehr leid», lächelte Anthony, «aber ich werde Ihnen eine lange Geschichte erzählen müssen.»
Er wusste genau, in welchen Schwierigkeiten er sich befand. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden war er in zwei Verbrechen verwickelt worden. Kaum hatte er sich einer Leiche entledigt und sich damit vor dem Gesetz schuldig gemacht, geriet er ausgerechnet zum falschesten Zeitpunkt auf den Schauplatz eines zweiten Mordes. Für einen jungen Mann, der Abenteuer suchte, jedenfalls keine schlechte Leistung.
Sein Vorgehen hatte er sich bereits genau überlegt. Er würde soweit wie möglich bei der Wahrheit bleiben – allerdings mit einer kleinen Abänderung und mit einer wichtigen Auslassung…
«Die Geschichte begann», erklärte er, «vor ungefähr fünf Wochen in Bulawayo. Mr Lomax wird natürlich wissen, wo das liegt – Außenposten des Empire und so weiter. Ich besprach mich mit einem Freund, Mr James McGrath –»
Er machte bei dem Namen eine Pause und blickte dabei George Lomax an. Dieser schnellte in seinem Sessel hoch und hielt mit Mühe einen Ausruf zurück.
«Wir beschlossen, dass ich nach England fahren und einen kleinen Auftrag für Mr McGrath erledigen sollte, weil dieser selbst keine Zeit dazu hatte. Da die Überfahrt aber bereits auf seinen Namen gebucht war, reiste ich der Einfachheit halber unter dem Namen McGrath. Ich weiß nicht, ob ich damit ein Gesetz übertreten habe – der Inspektor wird mir sagen können, wie viele Monate ich dafür sitzen muss.»
«Fahren Sie mit Ihrer Geschichte fort», entgegnete Battle.
«Nach meiner Ankunft in London begab ich mich ins Hotel Blitz, immer noch unter dem Namen McGrath. Meine Aufgabe bestand darin, einem bestimmten Verlag ein Manuskript auszuhändigen. Das schien mir keine schwierige Sache zu sein. Doch innerhalb kürzester Zeit erhielt ich den Besuch von Vertretern zweier entgegengesetzter Parteien eines fremden Landes. Die Methoden der einen Partei waren sehr konservativ, was man von der anderen keineswegs behaupten konnte. Ich wurde mit beiden ihrer Art entsprechend fertig. Aber damit waren die Schwierigkeiten keineswegs vorüber. Während der Nacht wurde in meinem Zimmer eingebrochen, und ein Kellner des Hotels versuchte, mich zu berauben.»
«Es wurde aber keine Meldung erstattet», bemerkte Inspektor Battle.
«Ganz recht, es wurde nicht gemeldet. Mir war ja nichts gestohlen worden. Immerhin teilte ich die Sache dem Hoteldirektor mit, der meine Geschichte bestätigen kann und Ihnen auch sagen wird, dass der betreffende Kellner seitdem nicht mehr im Hotel aufgetaucht ist. Am nächsten Tag rief mich der Verlagsleiter an und schlug mir vor, dass einer seiner Vertrauensleute das Manuskript bei mir im Hotel abholen solle. Ich erklärte mich einverstanden, und die Verabredung kam am folgenden Vormittag zu Stande. Seitdem habe ich nichts mehr über die Angelegenheit gehört. Gestern erhielt ich ferner – immer noch unter dem Namen McGrath – einen Brief von Mr Lomax…»
Anthony hielt inne. Seine Geschichte begann ihm Vergnügen zu bereiten. George rutschte unruhig hin und her.
«Ich erinnere mich nun», murmelte er. «Aber ich muss schon sagen, dass ich dieses Auftreten unter falschem Namen äußerst unkorrekt finde. Ich bin überzeugt, Sie werden dieses Vorgehen zu verantworten haben.»
«In diesem Brief», fuhr Anthony unbeeindruckt fort, «machte mir Mr Lomax gewisse Vorschläge bezüglich des Manuskriptes. Außerdem übermittelte er mir eine Einladung von Lord Caterham zu dieser Hausgesellschaft.»
«Freue mich, Sie zu sehen», beteuerte der Lord. «Besser spät als nie, nicht wahr?»
«Soll das die Erklärung sein für Ihr nächtliches Eindringen?», fragte Battle.
«Auf keinen Fall», erklärte Anthony höflich. «Wenn ich irgendwo eingeladen bin, pflege ich nicht nachts über Zäune zu klettern, durch Gärten zu trampeln und an geschlossenen Türen zu rütteln. Ich komme zur Haustür, läute und wische meine Füße fein säuberlich an der Matte ab. – Ich fahre fort: Den Brief von Mr Lomax habe ich beantwortet und ihm erklärt, das Manuskript sei nicht mehr in meinem Besitz, ich müsse daher zu meinem tiefsten Bedauern die freundliche Einladung von Lord Caterham ablehnen. Erst als ich den Brief abgeschickt hatte, erinnerte ich mich plötzlich einer Sache, die mir vorher ganz entfallen war.»
Anthony machte wieder eine kleine Pause, denn von nun an bewegte er sich auf dünnem Eis.
«Ich muss erwähnen, dass ich während meines Kampfes mit dem Kellner Giuseppe diesem einen Fetzen Papier entriss, auf dem ein paar Worte standen. Damals hatten mir diese Worte nichts bedeutet, aber der Name Chimneys erinnerte mich wieder daran.
Ich trug den Zettel noch bei mir und betrachtete ihn jetzt näher. Hier ist das abgerissene Stückchen, meine Herren, Sie können es selbst lesen. Die Worte lauten:
‹Chimneys 23 Uhr 45 Donnerstag›.»
Battle studierte den Zettel aufmerksam.
«Es war natürlich denkbar, dass der Name Chimneys nichts mit dem Herrenhaus zu tun hatte», fuhr Anthony fort. «Andererseits konnte er sich aber doch darauf beziehen. Und dieser Giuseppe war ein Dieb. Ich entschloss mich also kurzerhand hierher zu fahren, mich zu überzeugen, dass alles in bester Ordnung war, im Gasthaus zu übernachten und am nächsten Vormittag Lord Caterham meine Aufwartung zu machen und ihn zu warnen für den Fall, dass ein Diebstahl geplant war.»
«Sehr richtig», meinte der Lord ermutigend.
«Die Fahrt dauerte länger, als ich dachte. Ich hielt daher einfach den Wagen an, kletterte über die Mauer und eilte durch den Park. Als ich zur Terrasse kam, war das ganze Haus bereits dunkel und still. Eben wollte ich mich zurückziehen – da hörte ich einen Schuss. Er schien mir aus dem Hause zu kommen, daher rannte ich wieder über die Terrasse zurück und versuchte, eine Balkontür zu öffnen. Doch alle waren fest verschlossen, und kein Geräusch ließ sich vernehmen. Ich wartete eine Weile, aber als alles totenstill blieb, nahm ich an, ich hätte mich geirrt und wohl nur einen Wilderer im Wald gehört – unter diesen Umständen wohl eine ganz natürliche Folgerung.»
«Ganz natürlich», wiederholte Battle ausdruckslos.
«Ich ging also zum Gasthaus, trug mich dort ein – und hörte heute früh die Neuigkeit. Es war mir klar, dass ich verdächtigt werden musste, und deshalb kam ich her, um Ihnen meine Geschichte zu erzählen. Ich kann dabei nur hoffen, dass Sie vorläufig auf Handschellen verzichten.»
Eine Pause entstand. Colonel Melrose blickte angelegentlich zu Inspektor Battle hinüber.
«Mir scheint Ihre Geschichte recht klar zu sein», bemerkte er.
«Ja», ließ sich Battle endlich vernehmen. «Ich glaube, wir verzichten heute noch auf Handschellen.»
«Haben Sie noch irgendwelche Fragen, Inspektor?»
«Eine Sache möchte ich wissen: Was war das für ein Manuskript?»
Er blickte dabei auf George, und dieser antwortete widerwillig:
«Die Memoiren des verstorbenen Grafen Stylptitch. Sehen Sie…»
«Sie brauchen nichts weiter zu erklären», unterbrach Battle ihn, «ich bin im Bilde.»
Er wandte sich an Anthony.
«Wissen Sie, wer erschossen wurde?»
«Im Gasthaus nannte man den Namen Graf Stanislaus oder etwas Ähnliches.»
«Klären Sie ihn auf», sagte Battle lakonisch zu George Lomax.
Dieser zögerte sichtlich, ehe er sich zur Antwort entschloss:
«Der Herr, der sich hier inkognito unter dem Namen Graf Stanislaus aufhielt, war Seine Hoheit Fürst Michael von Herzoslowakien.»
Anthony stieß einen schrillen Pfiff aus.
«Teufel, das muss aber peinlich sein!», bemerkte er.
Inspektor Battle hatte Anthony scharf beobachtet. Jetzt ließ er ein zufriedenes Brummen hören und erhob sich.
«Ich möchte Mr Cade noch ein paar Fragen stellen», teilte er mit.
«Wenn Sie gestatten, gehe ich mit ihm in den Ratssaal.»
«Selbstverständlich, selbstverständlich», murmelte der Lord.
«Das Haus steht zu Ihrer Verfügung.»
Anthony und der Inspektor gingen zusammen hinaus.
Der Körper des Toten war vom Schauplatz entfernt worden. Ein dunkler Fleck zeigte an, wo er gelegen hatte, doch im Übrigen war kein Anzeichen der Tragödie mehr zu sehen. Anthony blickte sich anerkennend um.
«Hatten Sie zunächst den Eindruck, dass der Schuss aus diesem Raum kam?», fragte der Inspektor.
«Lassen Sie mich sehen.»
Anthony öffnete eine Tür und trat auf die Terrasse hinaus, das Haus von außen betrachtend.
«Ja, dies ist das Zimmer», sagte er. «Es steht etwas vor und bildet die Ecke. Wenn der Schuss von anderswo gekommen wäre, hätte ich ihn von links hören müsse. Aber er kam von hinten oder von rechts. Daher dachte ich auch an Wilderer, weil hier die äußerste Ecke des Flügels ist.»
Er kam zur Tür zurück und fragte in plötzlicher Eingebung: «Warum fragen Sie? Sie wissen ganz genau, dass er hier erschossen wurde, nicht wahr?»
«Wir wissen nie genug», lächelte Battle. «Aber Sie haben recht, das Verbrechen geschah in diesem Raum. Sie behaupteten, die Balkontüren seien verschlossen gewesen?»
«Ja, sie waren von innen verriegelt.»
«Welche Tür untersuchten Sie?»
«Alle drei.»
«Sie sind sich dessen ganz sicher?»
«Ich pflege meiner Sache immer sicher zu sein. Weshalb?»
«Das ist merkwürdig», meinte der Inspektor. «Als das Verbrechen heute früh entdeckt wurde, war die mittlere Tür offen, das heißt, sie war nicht verriegelt.»
Anthony pfiff erneut und setzte sich aufs Fensterbrett. Er holte seine Zigarettendose hervor. «Das ist allerdings ein böser Schlag. Gibt der Sache ein ganz anderes Gesicht. Jetzt haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder wurde er von einer Person, die sich schon im Haus befand, getötet, und der Mörder öffnete später die Tür, um Verwirrung zu stiften – oder: Ich lüge! Ich nehme an, Sie neigen eher zu der zweiten Lösung, aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass Sie sich darin irren.»
«Kein Mensch verlässt dieses Haus, ehe ich jeden verhört habe. Das kann ich Ihnen schriftlich geben», sagte Battle grimmig.
Anthony blickte ihn interessiert an.
«Wann kamen Sie auf den Gedanken, dass der Schuldige im Haus gesucht werden muss?», fragte er.
Battle lächelte.
«Die Fährte war mir von Anfang an etwas zu – offensichtlich, möchte ich sagen. Als Ihre Stiefel sogar in die Fußstapfen passten, wurde ich geradezu misstrauisch.»
«Ich gratuliere Scotland Yard», meinte Anthony.
Aber gerade die Tatsache, dass der Inspektor ihn jeder Schuld freizusprechen schien, machte ihn noch vorsichtiger. Inspektor Battle war ein scharfer Beobachter. In seiner Gegenwart durfte man sich keine Blöße geben.
«Hier ist es geschehen, nehme ich an», sagte Anthony und wies auf den dunklen Fleck am Boden.
«Ja.»
«Mit was wurde er erschossen – mit einem Revolver?»
«Ja, aber wir können die Marke erst bestimmen, wenn die Kugel aus dem Körper entfernt ist.»
«Die Waffe wurde demnach nicht gefunden?»
«Nein.»
«Keinerlei Spuren?»
«Nur dies hier.» Fast wie ein Verschwörer zog der Inspektor einen kleinen Zettel hervor. Dabei beobachtete er Anthony wiederum verstohlen.
Aber dieser sah das Gekritzel auf dem Papier ohne jedes Zeichen von Bestürzung an.
«Aha! Wieder die Brüder von der Roten Hand. Wenn die so weitermachen und ihre Embleme überall verstreuen, sollten sie sie drucken lassen. – Wo fanden Sie das Ding?»
«Unter dem Körper. Sie haben so einen Zettel schon mal gesehen?»
Anthony erinnerte den Inspektor an seine kurze Bekanntschaft mit dieser patriotischen Bruderschaft.
«Das würde also bedeuten, dass die Herrschaften von der Roten Hand für diesen Mord verantwortlich sind?»
«Halten Sie das für wahrscheinlich?»
«Nun, es entspräche ganz ihrer Propaganda. Aber bisher habe ich immer gefunden, dass Leute, die soviel von Blut reden, noch keines fließen sahen. Immerhin – man kann nie wissen.»
«Ganz richtig, Mr Cade, man kann nie wissen.»
Anthony schien plötzlich belustigt.
«Ach, jetzt verstehe ich. Offenes Fenster, eine Menge Fußspuren und ein verdächtiger Fremder im Gasthaus. Aber ich kann Ihnen versichern, Inspektor: Was ich auch sein mag – ein Bruder der Roten Hand bin ich jedenfalls nicht.»
Inspektor Battle lächelte leicht. Dann spielte er seinen letzten Trumpf aus.
«Haben Sie etwas dagegen, den Toten anzuschauen?», fragte er.
«Nicht das geringste», gab Anthony zurück.
Battle zog einen Schlüssel aus der Tasche, führte Anthony durch den Korridor zu einem anderen Zimmer und schloss die Tür auf. Der Tote lag zugedeckt auf einem Tisch.
Der Inspektor wartete, bis Anthony neben ihm stand, dann zog er die Decke rasch fort. Seine Augen leuchteten auf, als Anthony zurückzuckte und einen halb unterdrückten Ausruf ausstieß.
«Sie erkennen ihn also, Mr Cade?», sagte er, und in seiner Stimme schwang Triumph.
«Ja, ich habe ihn einmal gesehen», sagte Anthony langsam. «Aber nicht als Fürst Michael, sondern als Vertreter von Balderson & Hodgkins. Er nannte sich Mr Holmes.»