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Außer diesem unfreiwilligen Augenzwinkern schien Inspektor Battle völlig teilnahmslos. Wenn ihn Virginias Freundschaft mit Anthony überrascht hatte, so zeigte er es jedenfalls nicht. Er stand neben Lord Caterham, und beide blickten dem jungen Paar nach.

«Netter Bursche», meinte Lord Caterham. «Übrigens hat Mr Lomax nach Ihnen gefragt, Battle. Er ist im blauen Frühstückszimmer.»

«Sehr schön, Lord Caterham. Ich gehe sofort hin.»

«Ah, da sind Sie ja endlich, Battle», rief Lomax.

Er ging ungeduldig im Zimmer auf und ab. Außer ihm befand sich noch eine andere Person dort, ein großer Mann, der im Lehnstuhl am Kamin saß. Er hatte ein breites, gelbes Gesicht, und seine schwarzen Augen blickten undurchdringlich wie die einer Kobra. Eine große Hakennase und ein energisches viereckiges Kinn gaben ihm ein besonderes Gepräge.

«Kommen Sie herein, Battle», sagte Lomax gereizt, «und schließen Sie die Tür. Dies ist Mr Herman Isaacstein.»

Battle kannte Mr Isaacstein dem Namen nach, und obgleich der berühmte Finanzmann stumm dasaß, während Lomax wichtigtuerisch auf und ab ging, bestand kein Zweifel, wer wirklich die große Persönlichkeit hier war.

«Jetzt können wir endlich frei sprechen», sagte Lomax. «Vor Lord Caterham und Colonel Melrose durfte ich nicht zu viel sagen. Sie verstehen, Battle – diese Dinge müssen geheim bleiben.»

«Dennoch sprechen sie sich leider herum», meinte Battle unbewegt.

Einen kurzen Moment erschien ein Lächeln auf dem breiten, gelben Gesicht, doch es verschwand so rasch wieder, wie es gekommen war.

«Wie denken Sie über diesen jungen Menschen – Anthony Cade?», fuhr George fort. «Halten Sie ihn wirklich für unschuldig?»

«Seine Geschichte scheint wahr zu sein. Einen Teil davon können wir nachprüfen. Ich werde natürlich nach Südafrika telegrafieren und Auskünfte über sein Vorleben einholen.»

«Sie meinen also, dass er nichts mit der Sache zu tun hat?»

«Nicht so hastig – das habe ich nicht behauptet.»

«Wie denken Sie über das Verbrechen, Inspektor Battle?», ließ sich Mr Isaacstein zum ersten Mal vernehmen.

«Es ist zu früh, um Meinungen zu äußern, Mr Isaacstein. Ich bin noch nicht über die erste Frage hinausgekommen.»

«Und wie lautet diese Frage?»

«Immer die gleiche: das Motiv. Wer zieht Nutzen aus Fürst Michaels Tod? Darauf müssen wir zuerst eine Antwort finden.»

«Die Revolutionäre –» begann George.

Inspektor Battle schnitt ihm etwas respektlos das Wort ab. «Die Bruderschaft von der Roten Hand hat nichts damit zu tun, falls Sie dies im Auge haben.»

«Aber der Zettel mit der roten Hand?»

«Absichtlich hingelegt, um uns zu täuschen.»

«Ich begreife nicht, wie Sie dessen so sicher sein können!»

«Du liebe Zeit, diese Brüder sind uns schließlich nicht unbekannt. Seit der Ankunft von Fürst Michael in London haben wir sie immer im Auge behalten. Das gehört zu unseren primären Aufgaben. Sie konnten niemals auch nur in seine Nähe gelangen.»

«Ich stimme Mr Battle bei», äußerte sich Mr Isaacstein. «Wir müssen anderswo suchen.»

«Sehen Sie», erklärte Battle, durch diese Unterstützung gestärkt, «wir wissen immerhin einiges über den Fall. Jedenfalls ist es uns klar, wer dabei verliert.»

«Wen meinen Sie damit?», fragte Mr Isaacstein.

Seine schwarzen Augen hefteten sich fest auf den Inspektor.

Mehr denn je erinnerte er an eine Kobra.

«Sie und Mr Lomax natürlich – von den Loyalisten in Herzoslowakien ganz zu schweigen. Entschuldigen Sie den Ausdruck, meine Herren, aber Sie sitzen ganz schön in der Tinte.»

«Aber Battle!», unterbrach Lomax, im Innersten getroffen.

«Fahren Sie fort, Inspektor», bemerkte Mr Isaacstein. ‹«In der Tinte› trifft die Lage genau.»

«Sie brauchen einen König – und er ist Ihnen so durch die Finger geschlüpft.» Battle schnippte mit seinen dicken Fingern. «Es wird nicht einfach für Sie sein, rasch einen Ersatz zu finden. Ich brauche keine Einzelheiten Ihres Plans, die Umrisse genügen mir, aber ich darf wohl annehmen, dass es sich um eine große Sache handelt?»

Isaacstein nickte langsam.

«Eine sehr große Sache.»

«Das bringt mich zur zweiten Frage: Wer ist der nächste Thronerbe von Herzoslowakien?»

Isaacstein blickte zu Lomax hinüber. Dieser beantwortete die Frage sehr zögernd und widerwillig:

«Das wird wahrscheinlich – ja, der nächste Thronerbe dürfte bestimmt Prinz Nikolaus sein.»

«Und wer ist Prinz Nikolaus?»

«Ein Vetter von Fürst Michael.»

«Ah!», sagte Battle. «Ich wüsste gern mehr über diesen Nikolaus, vor allem, wo er sich zurzeit aufhält.»

«Man weiß wenig von ihm», erklärte Lomax. «Als junger Mann verkehrte er viel mit den Sozialisten und kümmerte sich keinen Deut um seine gesellschaftliche Stellung. In Oxford hat er tolle Streiche verübt. Zwei Jahre später hörte man Gerüchte, dass er im Kongo umgekommen sei. Aber vor ein paar Monaten tauchte er plötzlich wieder auf, als die royalistische Reaktion sich bemerkbar machte.»

«Tatsächlich?», fragte Battle. «Und wo tauchte er auf?»

«In Amerika.»

Battle wandte sich an Mr Isaacstein. Seine Frage war ein einziges Wort: «Öl?»

Der große Finanzmann nickte.

«Er glaubte, dass er den Herzoslowaken willkommener wäre als Fürst Michael, weil er modernere Ansichten vertrat und demokratische Ideale hatte. Zum Dank für die finanzielle Unterstützung seiner Thronansprüche erklärte er sich bereit, einer gewissen Gruppe amerikanischer Finanzleute die Ölkonzessionen zu übertragen.»

Inspektor Battle vergaß sich so weit, dass er einen schrillen Pfiff ausstieß.

«So ist das also», murmelte er. «Gleichzeitig unterstützten die Loyalisten Fürst Michael und rechneten bestimmt damit, dass er sein Ziel erreichen würde. – Und jetzt geschieht dieser Mord!»

«Sie glauben doch nicht –» begann George.

«Es finden sich überall skrupellose Werkzeuge, mit denen man rechnen muss», sagte Isaacstein ruhig. «Im Augenblick hat Wall Street gewonnen. Aber ich bin noch längst nicht besiegt. Finden Sie den Mörder, Inspektor, und Sie leisten Ihrem Vaterland einen großen Dienst!»

«Eine Tatsache scheint mir sehr verdächtig», warf George ein. «Warum kam dieser Adjutant, Captain Andrassy, gestern nicht mit dem Fürsten hierher?»

«Ich habe mich bereits erkundigt», erklärte Battle. «Die Sache ist sehr einfach. Andrassy blieb in der Stadt zurück, um für Fürst Michael eine Verabredung mit einer gewissen Dame zu treffen – fürs nächste Wochenende. Der Baron schätzte solche Eskapaden des Fürsten gar nicht, besonders nicht zu diesem wichtigen Zeitpunkt. Daher musste Seine Hoheit zu Heimlichkeiten Zuflucht nehmen. Er war, wenn man so sagen darf, ein etwas ausschweifender junger Mann.»

«Leider», seufzte George, «leider!»

«Dann ist noch ein anderer Punkt zu bedenken», sagte Battle mit leichtem Zögern. «König Victor soll sich in England befinden.»

«König Victor?»

George forschte stirnrunzelnd in seinem Gedächtnis.

«Bekannter französischer Einbrecher – die Sûreté in Paris hat uns vor ihm gewarnt.»

«Natürlich», nickte George, «ich erinnere mich jetzt. Juwelendieb, nicht wahr? Das ist doch der Mann –»

Er brach plötzlich ab. Isaacstein, der nachdenklich ins Feuer geblickt hatte, schaute auf. Er bemerkte jedoch den warnenden Blick nicht mehr, den Inspektor Battle dem anderen zuwarf. Aber er war sensibel für atmosphärische Schwingungen und spürte daher sofort die plötzliche Spannung.

«Sie brauchen mich nicht mehr, Lomax?», fragte er kühl.

«Nein, danke, mein Bester», versicherte George rasch.

«Würde es Ihre Pläne stören, wenn ich nach London zurückkehrte, Inspektor?»

«Leider ja, Sir», antwortete Battle höflich. «Wenn Sie fortgehen, werden es die anderen auch wollen, und das ist unmöglich.»

«Begreiflich.» Der große Finanzmann verließ das Zimmer.

«Prächtiger Kerl», murmelte George Lomax nachlässig.

«Sehr eindrucksvolle Persönlichkeit», stimmte der Inspektor bei.

George begann seinen ruhelosen Gang aufs Neue.

«Ihre Bemerkung macht mich sehr unruhig», seufzte er. «König Victor! Ich glaubte ihn im Gefängnis.»

«Er wurde vor ein paar Monaten entlassen. Die französische Polizei wollte ihm auf den Fersen bleiben, aber er ist ihnen entwischt. Kein Wunder! Einer der kaltblütigsten Menschen, die jemals gelebt haben. Aus irgendeinem Grunde vermutet ihn die Sûreté in England und hat uns daher benachrichtigt.»

«Was soll er denn in England zu tun haben?»

«Das müssen Sie besser wissen als ich.»

«Sie glauben…? Sie meinen…? Natürlich kennen Sie die traurige Geschichte – ach so, ich habe verstanden. Ich war selbstverständlich damals noch nicht im Amt, aber der verstorbene Lord Caterham hat mir davon erzählt. Eine Katastrophe!»

«Der Koh-i-noor», murmelte Battle nachdenklich.

«Still, Battle!» George blickte sich misstrauisch um. «Nennen Sie um Himmels willen keine Namen. Wenn Sie schon davon sprechen müssen, so sagen Sie einfach ‹der K›.»

Der Inspektor blickte wieder einmal unbewegt.

«Sie halten doch König Victor nicht für beteiligt an diesem gestrigen Verbrechen, Battle?»

«Nur eine Möglichkeit, Sir. Wenn Sie zurückdenken, gab es damals vier Stellen, wo ein – hm – königlicher Besuch den Diamanten verstecken konnte. Chimneys war eine dieser Stellen. König Victor wurde drei Tage nach dem – Verschwinden des K in Paris verhaftet. Seither hoffte man immer, dass er uns einmal zu dem Juwel führen werde.»

«Aber Chimneys ist mindestens dutzendmal untersucht und durchstöbert worden.»

«Ja», meinte Battle trocken, «aber ein Durchstöbern ist selten erfolgreich, wenn man keine Ahnung hat, wo man suchen soll. Es ließe sich nun zum Beispiel vermuten, dass König Victor das Ding holen wollte – dass er dabei von Fürst Michael überrascht wurde und ihn deshalb erschoss.»

«Das wäre möglich», meinte George. «Ja, das scheint eine sehr gute Erklärung zu sein.»

«Ich möchte nicht so weit gehen, das zu behaupten. Es ist nur eine Möglichkeit, aber nicht mehr.»

«Warum?»

«Weil König Victor bisher noch nie einen Menschen getötet hat», erklärte Battle ernsthaft.

«Aber ein Kerl wie er, ein so gefährlicher Verbrecher…»

Battle schüttelte unbefriedigt den Kopf. «Verbrecher bleiben sich immer treu, Mr Lomax. Immerhin…»

«Ja?»

«Ich möchte mit dem Diener des Fürsten reden. Absichtlich habe ich ihn bis zuletzt aufgespart. Ich lasse ihn jetzt hierherkommen.»

Der Inspektor klingelte und gab dem eintretenden Butler seine Instruktionen. Nach kurzer Zeit kam Tredwell zurück und mit ihm ein großer, blonder Mann mit hochstehenden slawischen Backenknochen, tiefliegenden blauen Augen und starrem Ausdruck.

«Boris Anchoukoff?»

«Ja.»

«Sie waren Fürst Michaels persönlicher Diener?»

«Ich war Kammerdiener bei Seiner Hoheit.»

Der Mann sprach ein gutes Englisch, aber mit deutlich spürbarem fremdem Akzent.

«Sie wissen, dass Ihr Herr gestern Abend ermordet wurde?»

Ein tiefes Knurren wie von einem wilden Tier war die einzige Antwort. Es erschreckte George so, dass er sich schleunigst zum Fenster zurückzog.

«Um welche Zeit sahen Sie Ihren Herrn zuletzt?»

«Seine Hoheit zog sich um halb elf Uhr zurück. Ich schlief wie immer im Vorraum zu seinem Schlafzimmer. Er muss durch die andere Tür das Zimmer verlassen haben, durch die zum langen Korridor. Ich habe ihn nicht gehört. Ich bin ein ungetreuer Diener gewesen, ich schlief, während mein Herr wachte. Ich bin verflucht.»

George starrte ihn fasziniert an.

«Sie waren Ihrem Herrn sehr ergeben?», fragte Battle, indem er den Mann scharf beobachtete.

Boris schien zusammenzuschrumpfen. Er schluckte zweimal schwer. Dann wurde seine Stimme schrill vor Aufregung.

«Ich sage Ihnen, meine Herren von der englischen Polizei, ich hätte mich für ihn umbringen lassen. Und weil er nun tot ist und ich lebe, werde ich nicht mehr schlafen und ruhen, bis ich ihn gerächt habe. Wie ein Hund werde ich seinem Mörder nachspüren, und wenn ich ihn gefunden habe – ah!» Seine Augen glänzten fanatisch.

Plötzlich zog er ein langes Messer unter seiner Jacke hervor und schwang es in der Luft. Dann steckte er es wieder ein, drehte sich um und verließ das Zimmer. George Lomax starrte auf die geschlossene Tür, und die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf. «Reinblütiger Herzoslowake», murmelte er, «unzivilisiertes Volk – eine Bande von Briganten.»

Inspektor Battle erhob sich rasch.

«Entweder ist der Mann ehrlich», bemerkte er, «oder er ist der beste Heuchler, der mir jemals begegnet ist. Und ist er das Erstere, dann mag Gott dem Mörder beistehen, falls dieser menschliche Bluthund ihn zu fassen bekommt.»