5

 

Die besten Pläne können missglücken. George Lomax hatte einen Fehler gemacht – in seinen Berechnungen war ein schwacher Punkt, und dieser Punkt hieß Bill Eversleigh.

Bill Eversleigh spielte ausgezeichnet Kricket und Golf, hatte gute Manieren und ein liebenswürdiges Wesen, aber seine Anstellung im Ministerium hatte er nicht seiner Intelligenz zu verdanken, sondern seinen guten Beziehungen. Er war mehr oder weniger der Laufbursche von George Lomax. Kenntnisse oder Verantwortung verlangte sein Posten nicht.

George Lomax hatte ihn zu der Schifffahrtsgesellschaft geschickt, um zu erfahren, wann die «Granarth Castle» fällig war. Nun hatte aber Bill, wie die meisten gut erzogenen jungen Engländer, eine höfliche, aber sehr unklare Aussprache. Seine Version des Wortes Granarth hätte alles und jedes heißen können. Der Angestellte der Schifffahrtsgesellschaft hielt es jedenfalls für Carnfrae. Die «Carnfrae Castle» sollte am Donnerstag einlaufen. Das sagte der Angestellte auch. Bill dankte höflich und verschwand. George Lomax nahm den Bericht entgegen und bereitete seine Pläne vor.

Er wäre allerdings sehr überrascht gewesen, wenn man ihm am Mittwochmorgen, als er Lord Caterham am Rockaufschlag festhielt, erzählt hätte, dass die «Granarth Castle» bereits am Vortag in Southampton eingelaufen sei. Tatsächlich aber verließ Anthony Cade, alias Jimmy McGrath, schon am Dienstag um zwei Uhr den Zug am Waterloo-Bahnhof, winkte ein Taxi heran und gab dem Fahrer nach einigem Zögern das Hotel Blitz als Ziel an.

«Man sollte es sich immer so angenehm wie möglich machen», sagte er zu sich selbst, während er neugierig aus dem Wagenfenster blickte. Es waren genau vierzehn Jahre vergangen, seit Anthony zum letzten Mal in London gewesen war.

Er erreichte das Hotel, nahm ein Zimmer und machte dann einen kurzen Bummel durch die Stadt. Es war doch schön, wieder einmal in London zu sein. Natürlich hatte sich vieles verändert. Hier war früher ein kleines Kaffeehaus gewesen, wo er mit seinen damaligen Freunden oft gesessen hatte.

Er lenkte seine Schritte wieder zum Hotel zurück. Als er eben die Straße überqueren wollte, stieß er mit einem Mann zusammen, sodass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Der Mann murmelte eine Entschuldigung, während seine Augen scharf das Gesicht vor ihm prüften. Es war ein gedrungener, massiger Mann, eher einfach, aber er hatte etwas Fremdartiges an sich.

Anthony ging zurück ins Hotel, während er überlegte, was dieser scharfe Blick wohl zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich gar nichts. Vermutlich fiel nur sein braungebranntes Gesicht diesen bleichen Städtern auf und hatte daher die Neugierde des Mannes erregt.

Als er London verließ, war er erst achtzehn Jahre alt gewesen, ein sanfter, pausbäckiger Junge. Es war nicht anzunehmen, dass dieser Junge in dem mageren, braungebrannten Mann mit dem spöttischen Ausdruck wiedererkannt würde.

Das Telefon neben dem Bett schrillte, und Anthony nahm den Hörer ab.

«Hallo!»

Die Stimme des Empfangschefs antwortete. «Mr James McGrath?»

«Am Apparat.»

«Hier ist ein Herr, der Sie zu sprechen wünscht.»

Anthony war sehr überrascht. «Mich sprechen?»

«Ja, Sir, ein ausländischer Herr.»

«Wie heißt er?»

Es gab eine kleine Pause, dann sagte der Empfangschef: «Ich schicke einen Pagen mit der Karte hinauf.»

Anthony legte den Hörer auf und wartete. Nach kurzer Zeit klopfte es, und der Page erschien mit einer Karte auf dem Silbertablett.

Anthony ergriff die Karte. Sie trug, in kunstvoll ziselierten Buchstaben, den Namen:

 

Baron Lolopretjzyl

 

Jetzt verstand Anthony das Zögern des Empfangschefs vollauf. Einen Augenblick studierte er die Karte, dann entschloss er sich:

«Führen Sie den Herrn herauf.»

«Sehr wohl, Sir.»

Kurz darauf wurde Baron Lolopretjzyl ins Zimmer geführt, ein dicker Mann mit einem riesigen, fächerartigen Bart und hoher, kahler Stirn.

Er schlug seine Hacken knallend zusammen und verneigte sich.

«Mr McGrath?», fragte er.

Anthony ahmte seine Bewegungen so gut als möglich nach.

«Baron», sagte er. Dann zog er einen Stuhl heran. «Bitte setzen Sie sich doch. Ich glaube nicht, dass ich das Vergnügen habe, Sie zu kennen.»

«So ist es», bestätigte der Baron, während er sich setzte. «Zu meinem Bedauern», fügte er höflich hinzu.

«Auch ich bedaure das», antwortete Anthony im gleichen Ton.

«Lassen Sie uns kommen sofort zu Geschäft», sagte der Baron. «Ich in London vertrete die Partei der Loyalisten von Herzoslowakia.»

«Sie vertreten sie sicher ausgezeichnet», murmelte Anthony.

Der Baron verneigte sich dankend für das Kompliment.

«Sie zu liebenswürdig sind», sagte er steif. «Mr McGrath, ich will sein ganz offen mit Sie. Der Moment ist gekommen, um wieder zu errichten die Monarchie, die verwaist ist seit dem schrecklichen Mord an Seiner Majestät König Nikolaus IV. Auf den Thron wird gelangen Seine Hoheit Fürst Michael, welcher hat die Unterstützung der englischen Regierung.»

«Großartig», meinte Anthony. «Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mir das alles zu erzählen.»

«Alles sein vorbereitet – und jetzt Sie kommen, um zu machen Unruhe.» Der Baron fixierte Anthony mit starrem Blick.

«Aber mein bester Baron», protestierte Anthony.

«Doch, doch, ich genau weiß, wovon ich spreche. Sie führen bei sich die Memoiren des Grafen Stylptitch.»

«Und selbst wenn dem so wäre – was haben die Memoiren des Grafen mit Fürst Michael zu tun?»

«Es wird geben großen Skandal. Von vielen Staatsgeheimnissen Stylptitch wusste. Ein kleiner Teil davon genügt, um zu bringen neue Revolution in mein Land.»

«Nun, nun», begütigte Anthony, «es wird wohl nicht so schlimm sein.»

«Sie nicht verstehen», gestikulierte der Baron, «Sie gar nicht verstehen. Und meine Lippen, sie sind versiegelt.» Er seufzte.

«Was befürchten Sie eigentlich?», fragte Anthony.

«Bis ich gesehen habe die Memoiren, ich nicht kann sagen genau», erklärte der Baron einfach. «Aber sie sein gefährlich. Diese Diplomaten nie sind verschwiegen. Und das Kartenhaus, es wird einstürzen, wie man hier sagt.»

«Ich bin überzeugt, Baron, dass Sie die Lage zu pessimistisch beurteilen», meinte Anthony freundlich. «Ich kenne diese Zeitungsleute. Sie sitzen auf ihren Manuskripten und brüten sie aus wie Eier. Es vergeht bestimmt mindestens ein Jahr, bis die Sache publiziert wird.»

«Keineswegs! Alles bereits ist vorbereitet, um zu erscheinen in nächste Sonntagsblatt!»

«Oh!» Jetzt war Anthony selbst etwas erschrocken. «Aber Sie können doch jederzeit alles dementieren», meinte er dann.

«Sie Unsinn reden! Wir müssen kommen zu Geschäft. Tausend Pfund Sie sollen erhalten, nicht wahr? Sie sehen, ich weiß Bescheid.»

«Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Geheimdienst.»

«Ich Ihnen biete tausendfünfhundert Pfund.»

Anthony starrte ihn verblüfft an, dann schüttelte er betrübt den Kopf.

«Es tut mir leid, aber das kann ich nicht annehmen», sagte er.

«Gut. Ich Ihnen biete zweitausend.»

«Sie führen mich in Versuchung, Baron, aber trotzdem ist es nicht möglich.»

«Nennen Sie selbst mir Ihren Preis.»

«Sie scheinen leider die Situation nicht zu verstehen, Baron. Ich will Ihnen gern glauben, dass Sie aufseiten aller Gerechten sind und dass diese Memoiren Ihrer Sache schaden könnten. Aber ich habe nun einmal ein Versprechen gegeben und werde es auch halten. Begreifen Sie das? Ich kann mich nicht von der Gegenseite bestechen lassen. Das tut man einfach nicht.»

Der Baron hörte aufmerksam zu. Als Anthony geendet hatte, nickte er mehrmals mit dem Kopf.

«Ich gut verstehe. Das gegen Ihr englisches Ehrgefühl verstößt, nicht wahr?»

«Ich würde es vielleicht nicht so ausdrücken», erwiderte Anthony.

«Aber jedenfalls meinen wir das Gleiche.»

Der Baron erhob sich.

«Für englisches Ehrgefühl ich habe viel Respekt», verkündete er. «Wir also müssen versuchen einen anderen Weg. Ich wünschen Ihnen einen guten Morgen.»

Er klappte seine Hacken zusammen, verneigte sich und marschierte steif aus dem Zimmer.

«Möchte wissen, was er damit gemeint hat», überlegte Anthony. «Sollte das eine Drohung sein? Ich fürchte mich aber nicht im Mindesten vor dem alten Lollipop. Guter Name übrigens für ihn, dabei werde ich bleiben.»

Er ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab und überlegte, was er nun unternehmen sollte. Der Termin für die Ablieferung des Manuskripts war erst in einer Woche. Heute schrieb man den 5. Oktober, und Anthony hatte nicht vor, das Manuskript früher als nötig auszuhändigen. Wenn er ehrlich sein wollte, musste er zugeben, dass er jetzt selbst neugierig war, diese Memoiren zu lesen, und er war fest entschlossen, herauszufinden, weshalb man so viel Aufhebens davon machte.

Aber da war auch noch die Geschichte mit den Briefen.

Kurz entschlossen nahm er das Telefonbuch zur Hand und suchte den Namen Revel. Es gab sechs Revels: Edward Henry Revel, Chirurg in der Harley Street; James Revel & Co, Sattler; Lennox Revel im Herrenhaus Abbotbury, Hampstead; Miss Mary Revel mit einer Adresse in Ealing; Hon. Mrs Timothy Revel in Pont Street 487; und Mrs Willis Revel in Cadogan Square Nr. 42. Wenn er die Sattler und Miss Mary Revel ausschloss, blieben immer noch vier Adressen übrig – ganz abgesehen davon, dass er keine Ahnung hatte, ob Mrs Virginia Revel überhaupt in London wohnte. Er klappte das Buch kopfschüttelnd zu.

«Ich überlasse es dem Zufall, er wird mir schon helfen.»

Menschen wie Anthony Cade haben meistens Glück, weil sie einfach daran glauben. Tatsächlich fand Anthony die gesuchte Adresse eine halbe Stunde später, als er eine Illustrierte durchblätterte. Da waren Aufnahmen von lebenden Bildern bei einem Fest, das die Duchess of Perth organisiert hatte. Unter der Hauptfigur, einer jungen Dame in orientalischem Gewand, stand der Vermerk:

 

«Die Hon. Mrs Timothy Revel als Cleopatra.

Vor ihrer Verheiratung hieß, Mrs Revel

Virginia Cawthorn; sie ist die Tochter

von Lord Edgbaston.»

 

Anthony betrachtete das Bild einige Zeit und spitzte dabei die Lippen, als ob er pfeifen wollte. Dann riss er die ganze Seite heraus, faltete sie zusammen und steckte sie in seine Tasche. Er ging wieder in sein Zimmer, öffnete einen Handkoffer und entnahm ihm die gebündelten Briefe, zog dann die Illustration aus seiner Tasche und schob sie unter die Schnur.

Plötzlich hörte er ein Geräusch hinter sich und schnellte herum. Ein Mann stand in der geöffneten Tür – der typische Bösewicht aus der komischen Oper. Eine finstere Gestalt mit einem kantigen, brutalen Gesicht und zu bösem Grinsen verzogenen Lippen.

«Was zum Teufel suchen Sie hier?», fragte Anthony. «Und wer hat Sie hereingelassen?»

«Ich komme, wie ich will», sagte der Fremde. Seine Stimme war kehlig, und er hatte einen fremdländischen Akzent.

«Verschwinden Sie gefälligst – sofort, verstanden?», fuhr Anthony ihn an.

Die Blicke des Mannes hefteten sich auf das Paket Briefe, das Anthony noch immer in der Hand hielt.

«Ich gehe, wenn ich das habe, wofür ich gekommen bin.»

«Und was ist das, wenn ich fragen darf?»

«Die Memoiren des Grafen Stylptitch», zischte er.

«Man kann Sie einfach nicht ernst nehmen», sagte Anthony.

«Sie spielen Ihre Rolle als Bühnenbösewicht ausgezeichnet. Wer hat sie geschickt? Baron Lollipop?»

Der Mann spuckte eine lange Reihe von Konsonanten aus.

«So wird also der Name ausgesprochen? Eine Kreuzung zwischen Gurgeln und Bellen. Das brächte ich nie fertig, meine Kehle gibt das nicht her. Ich werde ihn eben weiterhin Baron Lollipop nennen müssen. Er hat Sie also hergeschickt?»

Der Mann leugnete heftig. Er ging sogar so weit, auf diese Anschuldigung in höchst realistischer Weise zu spucken. Dann zog er einen Zettel aus seiner Tasche und warf ihn auf den Tisch.

«Sieh her», schrie er, «sieh her und zittere, verdammter Engländer!»

Anthony sah sich den Zettel an, ohne jedoch den zweiten Befehl auszuführen. Auf dem Papier war die rohe Zeichnung einer roten Hand zu sehen.

«Sieht aus wie eine Hand», bemerkte er. «Aber wenn Sie wollen, bin ich auch bereit zu erklären, dass es sich um die kubistische Darstellung eines Sonnenuntergangs am Nordpol handelt.»

«Es ist das Zeichen der Bruderschaft von der Roten Hand. Ich bin ein Bruder von der Roten Hand.»

«Was Sie nicht sagen!», lächelte Anthony kühl, indem er den Mann aufmerksam ansah. «Sind die anderen Brüder ähnlich wie Sie?»

«Hund», bellte er, «bezahlter Sklave einer überlebten Monarchie! Gib mir die Memoiren, und du wirst ungeschoren davonkommen. So lautet die Forderung der Bruderschaft.»

«Das ist sehr liebenswürdig von ihr», meinte Anthony freundlich. «Aber leider geht die Bruderschaft von einer falschen Voraussetzung aus. Mein Auftrag geht nicht dahin, das Manuskript Ihrer geehrten Bruderschaft, sondern einem Verlag auszuhändigen.»

«Pah», rief der andere. «Und du glaubst wirklich, du wirst diesen Verlag lebend erreichen? – Genug mit dem Geschwätz! Her mit den Papieren, oder ich schieße!»

Aber da kannte er Anthony Cade schlecht. Anscheinend hatte er keine Erfahrung mit Menschen, die ebenso schnell handelten, wie sie dachten. Anthony wartete nicht, bis der Revolver auf ihn gerichtet war. Kaum hatte der andere ihn aus der Tasche gezogen, war Anthony auch schon mit einem Sprung bei seinem Gegner und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Die Kraft dieses Schlages ließ den Mann herumfahren, sodass er seinem Angreifer den Rücken zuwandte.

Die Gelegenheit war zu günstig, um nicht genutzt zu werden. Mit einem kräftigen, gut gezielten Fußtritt flog der Mann durch die Tür und landete als schlappes Bündel im Korridor. Anthony folgte ihm, aber der tapfere Bruder von der Roten Hand hatte genug. Er erhob sich schwankend und suchte das Weite. Anthony ließ ihn laufen und kehrte ins Zimmer zurück.

«Soviel über die Bruderschaft von der Roten Hand», murmelte er. «Malerische Erscheinungen, aber leicht außer Gefecht zu setzen. Wie zum Teufel kam der Kerl eigentlich rein? Mir wird langsam klar, dass dieser Auftrag nicht so einfach ist, wie ich dachte. Die Royalisten und die Revolutionspartei habe ich nun schon kennen gelernt. Eines ist sicher: Heute Nacht werde ich diese Memoiren studieren.»

Anthony blickte auf seine Uhr, und da er sah, dass es schon fast neun war, entschloss er sich, auf dem Zimmer zu speisen. Er erwartete zwar keine weiteren Überraschungen, aber er wollte doch lieber auf der Hut bleiben. So läutete er und verlangte die Karte, wählte ein paar Gerichte aus und bestellte eine Flasche Bordeaux. Der Kellner notierte die Bestellung und verschwand.

Während er auf sein Essen wartete, nahm Anthony das Manuskript aus dem Koffer und legte es neben die Briefe auf den Tisch. Es klopfte, und ein Kellner kam mit einem Rolltischchen, auf dem sich das Essen befand. Anthony war zum Kaminsims gegangen und stand dort mit dem Rücken zum Zimmer, direkt vor dem Spiegel. Ganz in Gedanken blickte er hinein und sah etwas Merkwürdiges.

Die Augen des Kellners starrten wie gebannt auf das Manuskript-Paket. Mit einem Seitenblick auf den unbeweglichen Rücken ging er sachte um den Tisch herum. Seine Hände zitterten, und seine Zunge fuhr über die trockenen Lippen. Anthony betrachtete ihn genauer. Es war ein kleiner Mensch, geschmeidig wie alle Kellner, mit glattem, beweglichem Gesicht. Ein Italiener, dachte Anthony, kein Franzose.

Im kritischen Moment schnellte Anthony herum. Der Kellner schrak zusammen, gab sich aber den Anschein, ruhig den Tisch zu decken.

«Wie heißen Sie?», fragte Anthony kurz. «Giuseppe, Monsieur.»

«Italiener?»

«Jawohl, Monsieur.»

Anthony redete ihn in dieser Sprache an, und der Mann antwortete fließend. Endlich entließ Anthony ihn mit einem Nicken, aber während des Essens verfolgte ihn der Gedanke an diesen Giuseppe.

Sollte er sich geirrt haben? War das Interesse dieses Menschen an dem Manuskript nur reine Neugier? Das wäre möglich; aber wenn Anthony an die nervöse Spannung im Gesicht Giuseppes dachte, glaubte er nicht daran.

«Zum Kuckuck», murmelte er vor sich hin, «schließlich kann doch nicht jedermann hinter diesem verwünschten Manuskript her sein. Ich muss an Wahnvorstellungen leiden.»

Nachdem das Essen abgeräumt war, machte sich Anthony über die Memoiren. Die Schrift war so unleserlich, dass er nur langsam vorwärtskam, und er gähnte immer häufiger. Am Ende des vierten Kapitels gab er es auf.

Bis dahin hatte er die Memoiren tödlich langweilig und ohne jede Spur eines politischen Skandals gefunden.

Er ergriff die Briefe und den Umschlag des Manuskripts, die auf dem Tisch herumlagen, und verstaute beides in seinem Handkoffer. Dann verschloss er die Tür und stellte als zusätzliche Sicherheit noch einen Stuhl dagegen. Auf den Stuhl kam die Wasserflasche aus dem Badezimmer.

Seine Maßnahmen mit einigem Stolz betrachtend, zog er sich aus und ging zu Bett. Er nahm noch einmal die Memoiren zur Hand, doch als er merkte, dass ihm die Augen darüber zufielen, stopfte er die Blätter unter sein Kissen, löschte das Licht und schlief sofort ein.

Er mochte etwa vier Stunden geschlafen haben, als er mit einem Ruck auffuhr. Er hätte nicht sagen können, was ihn geweckt hatte – vielleicht ein Geräusch, vielleicht auch nur das Gefühl einer nahenden Gefahr, wie es vielen Menschen eigen ist, die ein abenteuerliches Leben führen.

Einen Augenblick lag er still und versuchte, seine Eindrücke zu sammeln. Er konnte ein leises Rascheln im Zimmer feststellen, und dann empfand er auch eine verstärkte Dunkelheit irgendwo zwischen seinem Bett und dem Fenster – am Boden neben seinem Handkoffer.

Mit einem plötzlichen Sprung war er aus dem Bett und zündete gleichzeitig das Licht an. Eine kniende Gestalt fuhr in die Höhe: der Kellner Giuseppe. Er stürzte sich auf Anthony, der sich erst jetzt der Gefahr richtig bewusst wurde. Er war unbewaffnet, und Giuseppe wusste mit dem Messer umzugehen.

Anthony warf sich zur Seite, und das Messer verfehlte sein Ziel. In der nächsten Sekunde wälzten sich die beiden Männer eng umklammert auf dem Boden. Anthony konzentrierte sich darauf, den rechten Arm Giuseppes festzuhalten, damit dieser keinen Gebrauch von dem Messer machen konnte. Langsam drehte er den Arm des Italieners nach hinten. Gleichzeitig aber fühlte er an seiner Kehle den Griff des andern, der ihm die Luft abzudrücken drohte. Doch immer noch hielt er verzweifelt den Arm fest.

Man hörte ein scharfes Klicken, als das Messer zu Boden fiel.

Doch im gleichen Moment befreite sich der Italiener von Anthonys Griff und sprang auf. Auch Anthony fuhr in die Höhe, aber er machte den Fehler, sich gegen die Türe zu wenden, um dem andern den Rückzug abzuschneiden. Zu spät sah er, dass Stuhl und Wasserflasche noch genauso dastanden wie zuvor. Giuseppe war durchs Fenster eingedrungen, und zum Fenster wandte er sich auch jetzt wieder. In der kurzen Frist, die Anthonys Bewegung zur Tür ihm gab, sprang er auf den Balkon, schwang sich zum nächsten Zimmer hinüber und verschwand durch das Fenster.

Anthony war klar, dass es keinen Zweck hatte, ihn zu verfolgen. Der Italiener hatte seinen Rückzug gut vorbereitet. Anthony hätte sich nur selbst in neue Schwierigkeiten gebracht.

Er ging zum Bett, steckte seine Hand unter das Kissen und zog die Memoiren hervor. Ein Glück, dass sie dort lagen und nicht im Koffer! Er ging zu diesem zurück und wollte die Briefe hervorholen.

Aber dann fluchte er leise.

Die Briefe waren verschwunden!