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Die Briefe waren verschwunden!

Es blieb Anthony nichts übrig, als diese Tatsache hinzunehmen. Es war ihm klar, dass er Giuseppe nicht durch alle Korridore des Riesenhotels verfolgen konnte. Das hätte unliebsames Aufsehen erregt und ihm die Briefe doch nicht zurückgebracht. Er kam zu dem Schluss, dass Giuseppe das Päckchen irrtümlich gestohlen hatte, weil er es für das gesuchte Manuskript hielt. Vielleicht würde er also noch einen zweiten Versuch unternehmen, sobald er seinen Fehler bemerkte. Gegen diesen Versuch aber wollte Anthony sich wappnen.

Als er mit seinen Überlegungen zu Ende war, schlüpfte Anthony wieder ins Bett und schlief ruhig bis in den Morgen hinein. Er glaubte nicht, dass Giuseppe noch in der gleichen Nacht einen zweiten Zusammenstoß wagen würde.

Beim Aufstehen war sich Anthony über sein weiteres Vorgehen völlig klar. Er bestellte ein reichliches Frühstück, überflog die Zeitungen, die über die neuen Ölvorkommen in Herzoslowakien berichteten, und ersuchte dann um eine Unterredung mit dem Direktor.

Dieser, ein Franzose von gewinnendem Wesen, empfing ihn in seinem Arbeitszimmer.

«Sie wünschten mich zu sprechen, Mr McGrath?»

«Ja. Ich bin gestern in Ihrem Hotel eingetroffen und ließ mir das Abendessen auf dem Zimmer servieren – und zwar von einem Kellner namens Giuseppe.»

«Ich glaube, wir haben einen Kellner dieses Namens», bestätigte der Direktor kühl.

«Mir fiel im Benehmen dieses Mannes etwas auf, doch dachte ich nicht weiter darüber nach. Mitten in der Nacht aber wachte ich durch ein Geräusch in meinem Zimmer auf. Ich drehte das Licht an und fand diesen Giuseppe am Boden kniend, wo er meinen ledernen Handkoffer durchsuchte.»

Die Gleichgültigkeit des Direktors verschwand mit einem Schlag.

«Davon habe ich ja gar nichts gehört», rief er entsetzt. «Wieso hat man mich nicht darüber unterrichtet?»

«Ich focht mit dem Kerl einen kleinen Kampf aus – er war übrigens mit einem Messer bewaffnet. Schließlich flüchtete er durch das Fenster.»

«Und was unternahmen Sie dann, Mr McGrath?»

«Ich untersuchte den Inhalt meines Handkoffers.»

«Fehlte etwas?»

«Nichts – Wertvolles», sagte Anthony langsam.

Der Direktor lehnte sich mit einem Seufzer zurück.

«Das beruhigt mich sehr», bemerkte er. «Aber gestatten Sie mir die Bemerkung, Mr McGrath, dass ich Ihre Handlungsweise nicht ganz verstehe. Weshalb taten Sie nichts, um das Hotel zu alarmieren und den Dieb zu verfolgen?»

Anthony zuckte die Schultern.

«Ich erwähnte bereits, dass nichts Wertvolles gestohlen worden war. Natürlich wäre es ein Fall für die Polizei –»

Er hielt inne, und der Direktor murmelte ohne sonderliche Begeisterung:

«Für die Polizei – natürlich –»

«Der Kerl verduftete so rasch, dass sich ohnehin nichts mehr tun ließ, und mir war ja nichts geschehen. Weshalb sollte ich da die Polizei bemühen?»

Der Direktor lächelte erlöst.

«Nun habe ich vorhin gesagt, dass nichts Wertvolles gestohlen wurde, und das stimmt bis zu einem gewissen Grade. Aber der Dieb hat immerhin etwas erwischt, das für mich persönlich Wert hatte.»

«Ach?»

«Ein Bündel Briefe – Sie verstehen?»

Nur ein Franzose bringt diesen Ausdruck höchster Diskretion zu Stande, der jetzt das Gesicht des Direktors überflog.

«Ich verstehe», murmelte er. «Selbstverständlich. Das ist kein Fall für die Polizei.»

«Wir sind da also gleicher Meinung. Andererseits liegt mir viel daran, diese Briefe wiederzuerhalten. Ich erbitte von Ihnen deshalb möglichst genaue Informationen über diesen Kellner Giuseppe.»

«Natürlich, aber ich muss diese Angaben erst heraussuchen, in einer halben Stunde wird alles für Sie bereit sein.»

«Vielen Dank. Das passt mir ausgezeichnet.»

Nach einer halben Stunde kehrte Anthony ins Arbeitszimmer zurück und sah, dass der Direktor Wort gehalten hatte. Auf einem Blatt Papier war alles Wissenswerte über Giuseppe Manelli festgehalten worden.

«Wie Sie sehen, kam er vor etwa drei Monaten zu uns. Ein flinker und gewandter Kellner. Sehr zufriedenstellend. In England seit fünf Jahren.»

Die Blicke der beiden Männer glitten über die lange Liste von Hotels, in denen der Italiener gearbeitet hatte. Dabei machte Anthony eine Beobachtung, die vielleicht von Bedeutung sein konnte. In zwei Hotels waren schwere Diebstähle vorgekommen, während Giuseppe dort arbeitete, doch war er niemals in Verdacht geraten. War Giuseppe nur ein geschickter Hoteldieb? Dann würde auch ein Einbruch bei Anthony nichts anderes zu bedeuten haben. Vielleicht hatte er das Paket mit den Briefen einfach in dem Augenblick in der Hand, als Anthony das Licht anknipste, und er steckte es in die Tasche, um die Hände frei zu bekommen. In diesem Fall wäre das Ganze nichts anderes als ein einfacher Diebstahl.

Dazu passte jedoch keineswegs die Aufregung, die den Mann ergriffen hatte, als er die Memoiren auf dem Tisch erblickte.

Nein, Anthony spürte genau, dass Giuseppe im Auftrag eines anderen gehandelt hatte.

«Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Mühe. Es ist wohl überflüssig zu fragen, ob Giuseppe sich noch im Hotel aufhält?»

«Sein Bett war unbenutzt, seine sämtlichen Anzüge sind zurückgeblieben. Er muss sofort nach dem Einbruch geflohen sein. Ich glaube kaum, dass wir ihn jemals Wiedersehen werden.»

«Wahrscheinlich nicht. Besten Dank jedenfalls.»

«Hoffentlich haben Sie Erfolg mit Ihren Nachforschungen.»

Als Anthony eben im Begriff war, auszugehen und das Hotel aufzusuchen, in dem Giuseppe zuletzt gearbeitet hatte, läutete das Telefon. Anthony nahm den Hörer ab.

«Hallo.»

Eine unpersönliche Stimme antwortete. «Spreche ich mit Mr McGrath?»

«Jawohl, wer ist am Apparat?»

«Sie sind mit der Firma Balderson & Hodgkins verbunden. Einen Augenblick, Mr Balderson möchte Sie sprechen.»

Unser ehrenwerter Verlag, dachte Anthony. Anscheinend werden die Leute dort auch bereits nervös.

«Mr McGrath? Balderson von Balderson & Hodgkins. Was können Sie mir über das Manuskript berichten?»

«Was gibt es da zu berichten?»

«Eine ganze Menge, Mr McGrath. Wie ich höre, sind Sie eben aus Südafrika eingetroffen. Daher können Sie wohl unsere Lage nicht so ganz verstehen. Es gibt Schwierigkeiten wegen dieses Manuskripts, Mr McGrath, große Schwierigkeiten. Hätte ich nur die Finger davon gelassen!»

«Was bedrückt Sie denn?»

«Momentan ist es meine größte Sorge, die Memoiren so rasch wie möglich in die Hände zu bekommen, um ein paar Kopien davon herstellen zu lassen. Falls dann das Original abhanden kommt, ist der Schaden nicht mehr so groß.»

«Du liebe Zeit», sagte Anthony.

«Für Sie mag das absurd klingen, Mr McGrath. Aber Sie kennen eben die Sachlage nicht. Es werden die größten Anstrengungen gemacht, dieses Manuskript nicht in unsere Hände gelangen zu lassen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass Sie selbst unser Haus wohl nie erreichen würden, falls Sie den Versuch machen wollten, uns die Papiere zu bringen.»

«Das bezweifle ich stark», meinte Anthony kühl. «Wenn ich etwas will, dann setze ich es gewöhnlich auch durch.»

«Sie stehen allein einer ganzen Gruppe von höchst gefährlichen Männern gegenüber. Noch vor einem Monat hätte ich selbst so etwas nicht für möglich gehalten. Man versuchte uns von allen Seiten zu bestechen, auszutricksen und schließlich zu bedrohen, bis wir kaum mehr aus noch ein wussten. Ich schlage Ihnen deshalb vor, dass Sie uns das Manuskript nicht selbst bringen. Einer unserer Vertreter wird im Hotel vorsprechen und die Papiere dort von Ihnen in Empfang nehmen.»

«Wenn aber Ihr Vertrauensmann von der Bande beseitigt wird?», fragte Anthony.

«Dann liegt die Verantwortung bei uns und nicht mehr bei Ihnen. Sie hätten die Memoiren ausgehändigt und eine schriftliche Empfangsbestätigung dafür erhalten. Der Scheck über tausend Pfund, den wir Ihnen zu übergeben haben, ist gemäß unserer Vereinbarung mit dem verstorbenen Autor zwar erst am nächsten Mittwoch fällig. Aber wenn Sie es wünschen, wird Ihnen mein Angestellter diesen Scheck gleich mitbringen.»

Anthony überlegte einen Moment. Er hatte eigentlich die Memoiren bis zum letzten Augenblick behalten wollen, um zu erfahren, weshalb so viel Aufhebens davon gemacht wurde. Doch die Argumente des Verlegers leuchteten ihm ein.

«Nun gut», erklärte er mit einem leisen Seufzer, «wie Sie wünschen. Schicken Sie also Ihren Mann her. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich es begrüßen, den Scheck gleich zu erhalten.»

«Das geht in Ordnung, Mr McGrath. Unser Mann wird Sie also morgen Früh aufsuchen. Es ist besser, wenn er nicht direkt vom Verlagshaus zu Ihnen kommt. Unser Mr Holmes wohnt in Südlondon. Er wird auf seinem Weg hierher bei Ihnen vorsprechen und Ihnen die Empfangsbescheinigung aushändigen. Ich schlage vor, dass Sie heute Abend eine möglichst ähnliche Attrappe im Hotelsafe deponieren. Unsere Gegner werden bestimmt davon hören, und Sie vermeiden dadurch einen nächtlichen Überfall in Ihrem Zimmer.»

«Sehr gut, das werde ich tun.»

Anthony legte nachdenklich den Hörer auf.

Dann machte er sich auf den Weg, um Auskünfte über Giuseppe einzuholen. Er zog aber eine völlige Niete. Giuseppe hatte wohl in dem betreffenden Hotel gearbeitet, doch schien dort niemand Näheres über sein Privatleben oder seine Bekannten zu wissen.

«Und ich erwische dich doch, mein Junge», knurrte Anthony zwischen den Zähnen. «Es ist nur eine Frage der Zeit.»

Seine zweite Nacht in London verlief völlig ruhig.

Um neun Uhr früh wurde ihm die Karte eines Mr Holmes von Balderson & Hodgkins heraufgebracht, und Mr Holmes selbst folgte auf dem Fuße. Er war ein kleiner blonder Mann mit gemessenen Bewegungen. Anthony überreichte ihm das Manuskript und erhielt dafür seinen Scheck. Mr Holmes packte die Papiere in seine kleine Ledertasche, wünschte Anthony einen schönen Tag und entfernte sich. Das Ganze schien sehr harmlos und einfach.

«Aber vielleicht wird er auf dem Weg zum Verlag ermordet», murmelte Anthony vor sich hin, als er gedankenlos aus dem Fenster starrte. Er steckte den Scheck in einen Umschlag, fügte ein paar Zeilen bei und versiegelte ihn sorgfältig.

«Damit wäre der eine Auftrag erledigt – der andere aber noch keineswegs. Ich glaube, jetzt ist der Moment gekommen, um in der Pont Street aufzukreuzen.»

Er packte seine Sachen zusammen, ging hinunter und bezahlte seine Rechnung. Auf seinen Wink fuhr ein Taxi vor, und er war eben im Begriff abzufahren, als ein kleiner Boy aus dem Hotel stürzte und ihm einen Brief überreichte.

Das Auto summte und schoss mit einem Ruck vorwärts, während Anthony den Brief öffnete.

Es war ein merkwürdiges Schriftstück. Er musste es viermal lesen, ehe er ganz sicher war, um was es sich handelte. Der Brief war in dem gewundenen und verwickelten Stil aller Regierungsbeamten abgefasst. In einfaches Englisch übertragen stand da, dass Mr McGrath heute, Donnerstag, aus Südafrika eintreffen werde, samt den Memoiren des Grafen Stylptitch, und man drückte die Bitte aus, Mr McGrath möge in dieser Sache nichts unternehmen, ehe er eine vertrauliche Unterredung mit Mr George Lomax und anderen Persönlichkeiten gehabt hatte, die im Schreiben nur angedeutet waren. Schließlich folgte eine formelle Einladung für Mr McGrath, sich als Gast von Lord Caterham am folgenden Tage, also Freitag, auf dem Herrensitz Chimneys einzufinden.

Eine mysteriöse Mitteilung, die Anthony amüsierte.

«Gutes altes England», murmelte er liebevoll. «Zwei Tage hinter der Zeit zurück, wie üblich. Eigentlich schade. Aber ich kann natürlich nicht unter falscher Flagge nach Chimneys gehen. Trotzdem möchte ich wissen, ob sich dort ein Gasthof befindet. Mr Anthony Cade könnte dort absteigen, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.»

Er lehnte sich aus dem Fenster und gab dem Fahrer neue Anweisungen. Der Wagen fuhr vor einem der obskursten Gasthöfe von London vor.

Nachdem Anthony sich ein Zimmer unter dem Namen Anthony Cade gemietet hatte, begab er sich in das schmutzige Schreibzimmer, nahm einen Bogen mit dem Briefkopf des Blitz-Hotels und schrieb rasch ein paar Zeilen.

Er erklärte Mr George Lomax, dass er schon am Dienstag in London eingetroffen sei, dass er das fragliche Manuskript bereits der Firma Balderson & Hodgkins übergeben habe und mit größtem Bedauern auf die liebenswürdige Einladung von Lord Caterham verzichten müsse, da er London sofort wieder verlasse. Er unterzeichnete mit «Ihr sehr ergebener James McGrath».

«Und nun», sagte Anthony, nachdem er den Brief frankiert hatte, «an die Arbeit! Abgang Mr James McGrath und Auftritt Anthony Cade!»