15

 

Virginia und Anthony schritten nebeneinander den Weg zum See hinunter. Lange Zeit schwiegen sie. Endlich unterbrach Virginia die Stille mit einem leisen Lachen.

«Du meine Güte», sagte sie. «Ist das nicht schrecklich? Ich bin so vollgestopft mit Neuigkeiten und mit Fragen, dass ich nicht weiß, wo beginnen. Zuallererst», sie senkte die Stimme, «wie sind Sie den Toten losgeworden? Klingt das nicht scheußlich? Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in einen Mord verwickelt würde.»

«Das ist sicherlich eine neue Erfahrung für Sie», stimmte Anthony zu.

«Für Sie nicht?»

«Nun, jedenfalls habe ich bestimmt noch nie zuvor einen Toten beiseite geschafft.»

«Erzählen Sie mir, was Sie taten.»

In kurzen Worten klärte Anthony sie über alle Schritte auf, die er unternommen hatte. Virginia hörte aufmerksam zu.

«Das haben Sie sehr schlau angefangen», lobte sie. «Ich hole den Koffer ab, wenn ich nachhause zurückfahre. Hoffentlich fragt man Sie nicht, wo Sie gestern am frühen Abend waren.»

«Ich glaube kaum, dass diese Frage auftauchen wird. Ein Alibi für die spätere Nacht wäre viel wichtiger für mich.»

«Lord Caterham hat mir alles erzählt. Aber der Mann von Scotland Yard ist jetzt doch von Ihrer Unschuld überzeugt, nicht wahr?»

Anthony antwortete nicht sofort.

«Er sieht nicht sehr scharfsinnig aus», fuhr Virginia fort.

«Das möchte ich nicht behaupten», entgegnete Anthony langsam. «Ich habe den Eindruck, dass sich Inspektor Battle kein X für ein U vormachen lässt. Er tut so, als ob er mir glaubt – aber ich bin dessen keineswegs sicher. Er ist nur stutzig, weil er vorläufig kein Motiv für mich findet.»

«Vorläufig?», rief Virginia aus. «Welchen Grund sollten Sie denn gehabt haben, einen völlig unbekannten Grafen zu ermorden?»

Anthony warf ihr einen scharfen Seitenblick zu.

«Sie haben doch einige Zeit in Herzoslowakien gelebt?», fragte er.

«Ja. Mein Mann arbeitete dort zwei Jahre auf der Gesandtschaft.»

«Das war kurz vor der Ermordung des Königs. Haben Sie jemals den Fürsten Michael getroffen?»

«Michael? Selbstverständlich! Ein schrecklicher Tunichtgut. Er schlug mir sogar vor, ihn morganatisch zu heiraten.»

«Tatsächlich? Und wie wollte er Ihren Mann beiseiteschaffen?»

«Oh, er hatte sich so eine Art David- und Uria-Plan ausgeheckt.»

«Was sagten Sie zu diesem königlichen Angebot?»

«Nun», bemerkte Virginia, «leider musste ich diplomatisch sein. Ich konnte ihm nicht so scharf antworten, wie ich es gern getan hätte. Aber immerhin zog er sich tief gekränkt zurück. Warum interessieren Sie sich so für den guten Michael?»

«Eine kleine Vermutung von mir. Sie haben den Ermordeten wohl nicht gesehen?»

«Nein. Er ‹zog sich gleich nach seiner Ankunft in seine Gemächer zurück›, wie man so schön sagt.»

«Wäre es möglich, dass man Ihnen den Toten zeigt?»

«Wenn ich meine Verbindungen spielen lasse – damit meine ich Lord Caterham –, sollte das wohl zu machen sein. Warum? Ist das ein Befehl?»

«Um Himmels willen, nein!», sagte Anthony entsetzt. «Klang ich denn so diktatorisch? Die Sache ist nur die: Graf Stanislaus war das Inkognito des Fürsten Michael von Herzoslowakien.»

Virginias Augen weiteten sich vor Staunen.

«So ist das also!» Plötzlich lächelte sie. «Sie wollen doch hoffentlich nicht andeuten, dass Fürst Michael nur deshalb auf sein Zimmer ging, um ein Zusammentreffen mit mir zu vermeiden?»

«Etwas Ähnliches», gab Anthony zu. «Sehen Sie: Wenn ich damit recht habe, dass jemand Ihre Anwesenheit auf Chimneys unbedingt verhindern wollte, dann geschah es aus dem Grunde, weil Sie Herzoslowakien kennen. Und Sie sind auch die einzige Person hier, die den Fürsten kannte.»

«Glauben Sie, dass der Ermordete ein Betrüger war?»

«Jedenfalls ging mir diese Möglichkeit durch den Kopf. Wenn Sie Lord Caterham überreden könnten, Ihnen den Leichnam zu zeigen, dann wüssten wir hierüber Bescheid.»

«Er wurde 23 Uhr 45 erschossen – die gleiche Zeit, die auf dem Zettel stand», meinte Virginia nachdenklich. «Alles ist so schrecklich geheimnisvoll.»

«Noch eine Frage: Ist das Ihr Fenster dort oben? Das zweite von außen, direkt über dem Ratssaal?»

«Nein, mein Zimmer liegt im elisabethanischen Flügel, auf der anderen Seite. Warum fragen Sie?»

«Als ich gestern Nacht nach dem Schuss umkehrte, ging das Licht in diesem Zimmer an.»

«Wie merkwürdig! Ich weiß nicht, wem dieses Zimmer gehört, aber ich werde Bundle danach fragen. Vielleicht hörte man dort den Schuss?»

«Wenn dies der Fall war, so hat sich doch niemand darum gekümmert. Battle sagte mir, dass kein Mensch den Schuss gehört habe. Dies Fenster ist die einzige Spur, die ich besitze, und sie ist sehr schwach. Trotzdem möchte ich sie verfolgen.»

«Es ist wirklich eigenartig», meinte Virginia. Sie waren beim Bootshaus angelangt und hatten sich beim Reden ans Geländer gelehnt.

«Und nun zu meiner Geschichte», sagte Anthony. «Wir wollen auf den See hinausrudern. Dort sind wir sicher vor den gespitzten Ohren von Scotland Yard, vor neugierigen Amerikanern und Dienstbotenaugen.»

«Lord Caterham hat mir bereits einiges erzählt», sagte Virginia, «aber viel zu wenig. Zuerst: Wer sind Sie nun eigentlich – Anthony Cade oder Jimmy McGrath?»

Zum zweiten Mal an diesem Morgen berichtete Anthony über die letzten fünf Wochen seines Lebens, nur mit dem Unterschied, dass er vor Virginia keine Auslassungen zu machen brauchte. Er schloss mit seinem Erkennen von Mr Holmes.

«Übrigens, Mrs Revel», meinte er zuletzt, «ich habe Ihnen noch gar nicht dafür gedankt, dass Sie Ihr Seelenheil aufs Spiel setzten durch die Behauptung, ich sei ein alter Freund von Ihnen.»

«Selbstverständlich sind Sie ein alter Freund!», rief Virginia aus. «Sie glauben doch nicht, dass ich Sie mit einer Leiche aus meinem Hause beladen und dann kühl erklären würde, Sie seien eine ganz flüchtige Bekanntschaft? Nein!»

«Ich möchte noch etwas wissen», sagte Anthony lächelnd.

«Was denn?»

«Weshalb waren Sie so verblüfft, als ich gestern den Namen Jimmy McGrath erwähnte? Hatten Sie ihn früher schon gehört?»

«Ja, ich habe ihn gehört, mein lieber Sherlock Holmes.»

Und nun erzählte sie von Lomax’ Besuch und dessen sonderbarem Anliegen.

«In einem Punkt hat sein Plan immerhin Erfolg gehabt», bemerkte Anthony. «Hier bin ich – der Mann, den er für McGrath hielt –, und hier sind Sie und sind außerordentlich freundlich zu mir.»

«Mit einem Unterschied: keine Memoiren für den armen George! Jetzt möchte ich aber auch eine Frage stellen: Als ich Ihnen sagte, ich hätte diese Briefe nicht geschrieben, antworteten Sie, das wüssten Sie bereits. Sie konnten es aber doch gar nicht wissen!»

«O doch, das konnte ich», lächelte Anthony. «Mein psychologischer Spürsinn arbeitet sehr zuverlässig.»

«Sie glauben, dass meine moralischen Grundsätze –»

«Keineswegs. Ich weiß nichts über Ihre moralischen Grundsätze. Sie könnten vielleicht einen Liebhaber gehabt und ihm auch geschrieben haben. Aber Sie hätten sich niemals erpressen lassen. Die Virginia Revel aus diesen Briefen war völlig außer Fassung. Sie aber hätten gekämpft.»

«Ich möchte nur wissen, wer jene andere Virginia ist und wo sie lebt. Es ist ein unangenehmes Gefühl, irgendwo eine Doppelgängerin zu haben.»

«Wissen Sie, dass einer der Briefe von Chimneys aus abgesandt wurde?», fragte Anthony schließlich.

«Wie?» Virginia fuhr überrascht auf. «Wann wurde er denn geschrieben?»

«Er trägt kein Datum. Aber die Sache ist merkwürdig, nicht wahr?»

«Ich bin ganz sicher, dass niemals eine andere Virginia Revel auf Chimneys war. Bundle oder Lord Caterham hätten mir bestimmt etwas über das Zusammentreffen dieser Namen gesagt.»

«Ja, es ist mehr als verblüffend. Wissen Sie, Mrs Revel, dass ich beginne, an der Existenz dieser zweiten Virginia zu zweifeln?»

«Sie scheint sehr unwirklich», stimmte Virginia zu.

«Ich glaube beinahe, dass sich jemand absichtlich Ihres Namens bediente.»

«Aber warum?», rief Virginia aus.

«Das ist die Frage. Es muss noch verteufelt viel geklärt werden.»

«Gehen wir an die Arbeit», meinte Virginia. «Dort sehe ich Lord Caterham mit Bundle spazieren. Zuerst müssen wir herausfinden, ob der Tote wirklich Fürst Michael ist.»

Anthony ruderte zum Ufer, und ein paar Minuten später begegneten sie Lord Caterham und seiner Tochter.

«Hier ist ein Freund von mir, Bundle», sagte Virginia. «Sei nett zu ihm.»

Bundle schaute Anthony ernsthaft an und wandte sich dann mit einer Bemerkung an Virginia, als ob er gar nicht anwesend wäre.

«Wo gabelst du bloß immer diese netten Männer auf, Virginia?»

«Ich überlasse ihn dir», lachte Virginia großmütig. «Ich ziehe Lord Caterham vor.»

Sie strahlte den erfreuten Lord an, ergriff seinen Arm und wandelte mit ihm davon.

«Können Sie auch reden?», fragte Bundle. «Oder spielen Sie immer den großen Schweiger?»

«Reden?», sagte Anthony. «Ich klatsche, ich schwatze wie ein Wasserfall. Manchmal stelle ich sogar Fragen.»

«Zum Beispiel?»

«Wer bewohnt das zweite Zimmer von rechts im ersten Stock?»

«Sie enttäuschen mich sehr», rief Bundle aus. «Das ist das Zimmer der französischen Erzieherin, Mademoiselle Brun. Sie macht den fruchtlosen Versuch, meine kleinen Schwestern Dolly und Daisy in Zucht und Ordnung zu halten.»

«Mademoiselle Brun», murmelte Anthony. «Wie lange ist sie schon hier?»

«Zwei Monate. Sie kam zu uns, als wir in Schottland waren.»

«Ah», meinte Anthony, «ich rieche etwas.»

«Ich wünschte, ich könnte das Mittagessen riechen», lächelte Bundle. «Muss ich die Herren von Scotland Yard zum Essen einladen, Mr Cade? Sie sind ein Mann von Welt und wissen in solchen Dingen sicher Bescheid. Wir hatten noch nie einen Mord im Hause. Aufregend, nicht wahr? Es tut mir aufrichtig leid, dass Ihre Unschuld bereits so klar zu Tage trat. Es wäre interessant gewesen, einen Mörder kennen zu lernen. – Mein Gott, was ist das?»

«Das» entpuppte sich als ein Taxi, das die Auffahrt emporfuhr.

Einer der Insassen war ein großer Mann mit kahlem Kopf und einem schwarzen Bart, der andere schien jünger und kleiner und trug einen schwarzen Schnurrbart. Den ersten erkannte Anthony sogleich.

«Wenn ich mich nicht sehr täusche», bemerkte er, «ist das mein alter Freund Baron Lollipop.»

«Baron L…?»

«Ich nenne ihn der Bequemlichkeit halber Lollipop. Seinen wirklichen Namen kann man nur gurgeln.»

«Das ist also dieser Baron?», lachte Bundle. «Er hat heute früh so gebrüllt, dass unser Telefon beinahe platzte. Ich sehe schon kommen, dass man ihn wieder auf mich abschieben wird, und ich habe bereits den halben Vormittag Mr Isaacstein unterhalten dürfen. George soll doch seine schmutzige Arbeit selbst tun! – Entschuldigen Sie mich bitte, Mr Cade. Ich muss meinem armen Vater zu Hilfe eilen.»

Anthony blickte ihr einen Augenblick nach und zündete sich nachdenklich eine Zigarette an. Da hörte er ein leises Geräusch in seiner Nähe. Er stand vor dem Bootshaus, und das Geräusch kam von der anderen Seite her. Doch konnte er den Mann nicht erblicken, der dort vergeblich einen Niesreiz zu unterdrücken versuchte.

Er warf sein Streichholz weg und eilte leichtfüßig und lautlos um die Ecke des Bootshauses herum.

Dort sah er einen Mann, der offensichtlich auf dem Boden gekniet hatte und sich jetzt hastig zu erheben versuchte. Er war schlank, trug einen hellen Überzieher, eine Brille und sah im Übrigen wie ein schwarzbärtiger Geck aus. Sein Alter schätzte Anthony zwischen dreißig und vierzig, und alles in allem bot er einen respektablen Anblick.

«Was tun Sie denn da?», fragte Anthony. Er war ziemlich sicher, dass der Mann nicht zu Lord Caterhams Gästen gehörte.

«Ich bitte um Verzeihung», sagte der Fremde mit ausländischer Betonung und einem Lächeln, das entwaffnend sein sollte. «Es ist, dass ich möchte zum Gasthaus zurückkehren und verloren habe den Weg. Will Monsieur so gut sein, mir zu helfen?»

«Sicherlich», meinte Anthony kühl. «Aber der Weg dorthin führt nicht über das Wasser.»

«Ich bin sehr betrübt», sagte der andere. «Ich habe die Richtung verloren und wollte mich nur hier erkundigen.»

Anthony fasste den Fremden freundlich am Arm.

«Gehen Sie hier herum, dem Ufer entlang und dann geradeaus – Sie können den Weg nicht verfehlen. Dort halten Sie sich links, dann kommen Sie direkt zum Dorf. Sie wohnen im ‹Cricketer›, nehme ich an?»

«Jawohl, Monsieur, seit heute Morgen. Vielen Dank für Ihre freundliche Bemühung.»

«Nichts zu danken», murmelte Anthony. «Hoffentlich haben Sie sich nicht erkältet.»

«Eh?», meinte der Fremde.

«Beim Knien auf dem feuchten Boden», erläuterte Anthony liebenswürdig. «Ich glaubte, Sie niesen zu hören.»

«Vielleicht ich habe geniest», gab der andere zu.

«Ganz richtig», sagte Anthony. «Aber Sie sollten das Niesen nicht so krampfhaft zu unterdrücken suchen. Das ist sehr ungesund.»

«Guten Morgen, Monsieur, vielen Dank für die Begleitung.»

«Zweiter Verdächtiger im Gasthof», brummte Anthony, als er dem anderen nachschaute. «Noch dazu einer, der nirgends hinpasst. Sieht aus wie ein französischer Handlungsreisender. Sicher kein Bruder von der Roten Hand. Sollte noch eine dritte Partei im Spiele sein? Die französische Erzieherin hat das zweite Fenster von rechts. Ein geheimnisvoller Franzose treibt sich spionierend herum und horcht Gespräche ab, die nicht für ihn bestimmt sind. Ich wette, dahinter steckt etwas!»

Mit diesen Überlegungen beschäftigt, schritt Anthony langsam zum Haus zurück. Auf der Terrasse begegnete er Lord Caterham und den zwei Neuankömmlingen. Das Gesicht des Lords erhellte sich bei Anthonys Anblick.

«Wie nett, dass Sie hier sind», bemerkte er. «Darf ich Sie mit Baron – hm – hm – und Captain Andrassy bekannt machen? – Dies ist Mr Anthony Cade.»

Der Baron starrte Anthony mit wachsendem Argwohn an.

«Mr Cade?», fragte er trocken. «Kaum!»

«Kann ich ein Wort mit Ihnen sprechen, Baron?», sagte Anthony. «Ich werde Ihnen alles erklären.»

Der Baron verneigte sich steif, und die beiden Männer schlenderten zusammen über die Terrasse.

«Baron», erklärte Anthony, «ich muss mich in Ihre Hände geben. Ich habe die englische Korrektheit insofern verletzt, als ich unter dem Namen meines Freundes McGrath aufgetreten bin. Aber Sie werden selbst zugeben müssen, dass diese Täuschung harmlos war. Sie wollten einfach den Mann sprechen, der im Besitz der Memoiren war. Dieser Mann war ich. Sie wissen ebenfalls – leider nur zu genau –, dass diese Memoiren nicht mehr in meinen Händen sind. Ein geschickter Trick, Baron, ein sehr geschickter Trick. Wer hat ihn ausgeheckt, Sie oder Ihr Fürst?»

«Seiner Hoheit eigene Idee es war. Er auch nicht erlaubte einem anderen, sie auszuführen. Er selbst es wollte tun.»

«Er machte seine Sache sehr gut», gab Anthony zu. «Ich hätte ihn jederzeit für einen waschechten Engländer gehalten.»

«Die Erziehung eines englischen Edelmannes der Fürst erhielt. Das immer ist üblich in Herzoslowakien.»

«Kein Berufsverbrecher hätte diesen Diebstahl besser ausführen können», lächelte Anthony harmlos. «Darf ich fragen, ohne indiskret zu sein, was aus den Papieren geworden ist?»

«Ich glaube, sie verbrannt sind worden.»

«Sie glauben – aber Sie wissen es nicht sicher?»

«Seine Hoheit in eigener Person bewahrte die Papiere. Sein Gedanke war zu lesen sie und dann zerstören durch Feuer.»

«Ich verstehe», murmelte Anthony. «Immerhin sind diese Memoiren nicht die Art von leichter Literatur, die man in einer halben Stunde flüchtig durchblättert.»

«Unter den Effekten meines gemarterten Herrn sie haben sich nicht befunden. Es daher ist klar, dass sie müssen verbrannt sein.»

«Hm», meinte Anthony, «ich möchte wissen –» Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: «Ich habe Ihnen diese Fragen gestellt, Baron, weil ich selbst – wie Sie sicher gehört haben – in dieses Verbrechen verwickelt bin. Ich muss dafür Sorge tragen, mich von jedem Verdacht zu reinigen.»

«Zweifellos», sagte der Baron. «Das verlangt Ihre Ehre.»

«Genau das ist es», erwiderte Anthony. «Sie erfassen sofort den wichtigen Punkt. Ich kann mich nie so klar ausdrücken. Aber Sie verstehen, dass ich mich selbst nur entlasten kann, indem ich den wirklichen Mörder entdecke. Hierzu benötige ich natürlich so viele Anhaltspunkte wie möglich. Diese Memoiren sind äußerst wichtig. Es erschiene mir durchaus denkbar, dass das Verbrechen nur aus dem Grunde begangen wurde, um an diese Memoiren zu gelangen. Sagen Sie mir bitte, Baron, ob das zu weit hergeholt ist?» Der Baron zögerte ein paar Sekunden. «Sie selbst haben gelesen die Memoiren?», fragte er endlich vorsichtig.

«Diese Antwort genügt mir», lächelte Anthony. «Nun, Baron, noch eine andere Sache. Ich muss Ihnen ehrlich gestehen, dass ich nichts unversucht lassen werde, um diese Papiere dennoch am nächsten Mittwoch, den 13. Oktober, dem Verlag zu übergeben.»

Der Baron starrte ihn an. «Aber sie nicht in Ihrem Besitz sind!»

«Ich sagte, am nächsten Mittwoch. Heute ist Freitag. Das gibt mir fünf Tage Spielraum.»

«Aber wenn sie sind verbrannt?»

«Daran glaube ich nicht, und ich habe gute Gründe dafür.» Bei diesen Worten waren sie am Ende der Terrasse angelangt und wandten sich um. Eine massige Gestalt näherte sich ihnen. Anthony hatte Mr Isaacstein noch nicht gesehen und betrachtete ihn interessiert.

«Ah, Baron», sagte Isaacstein und wedelte mit seiner dicken Zigarre, «das ist eine böse Geschichte, eine ganz böse Geschichte!»

«Mein lieber Freund Isaacstein, so es ist wirklich!», rief der Baron. «Unser ganzes Gebäude in Scherben ist.»

Taktvoll überließ Anthony die beiden Herren ihren Klagen und nahm seinen Weg über die Terrasse wieder auf. Plötzlich hielt er inne. Ein leichtes Rauchwölkchen schwebte in die Luft empor, augenscheinlich aus der Mitte der dichten Eibenhecke kommend.

Anthony blickte nach links und nach rechts. Lord Caterham befand sich am entferntesten Ende der Terrasse mit Captain Andrassy. Beide drehten Anthony den Rücken zu. Dieser bückte sich rasch und bahnte sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp. In der Mitte befand sich eine Lichtung, nach allen Seiten gut abgeschirmt. Dicht vor sich gewahrte Anthony einen Mann in einem Korbstuhl. Eine angerauchte Zigarre lag auf der Lehne und glimmte – der Mann selbst schien eingeschlafen zu sein.

«Hm», meinte Anthony zu sich selbst, «Mr Hiram Fish scheint sich im Schatten halten zu wollen.»