Kapitel Elf
Für den Anfang des letzten
Kapitels kann ich mich nur entschuldigen. Es ist mein erklärtes
Ziel, ein vollkommen frivoles Buch zu schreiben, denn wenn ich hier
irgendetwas Bedeutendes sage, gehe ich das Risiko ein, dass die
Leute mich hinterher sogar noch mehr verehren oder respektieren.
Deshalb muss ich euch um einen Gefallen bitten. Holt euch eine
Schere und schneidet die folgenden Absätze aus diesem Kapitel aus.
Dann klebt ihr sie über den Anfang des letzten Kapitels und
versteckt ihn dadurch, sodass ihr nie wieder diesen pompösen
Kommentar lesen müsst.
Seid ihr bereit? Dann los.
Es war einmal ein kleines Häschen. Dieses Häschen veranstaltete eine Geburtstagsparty. Das war die allerallerbeste Geburtstagsparty, die es je gegeben hatte. Denn an diesem Tag bekam das kleine Häschen eine Bazooka.
Das Häschen hatte seine Bazooka ganz doll lieb. Es jagte damit alle möglichen Sachen auf dem Bauernhof in die Luft. Es jagte den Stall von Henrietta der Stute in die Luft. Es jagte den Koben von Pugsly dem Schwein in die Luft. Es jagte den Pferch von Chuck dem Hahn in die Luft.
»Ich habe die allerallerbeste Bazooka überhaupt«, freute sich das Häschen. Dann taten sich seine Freunde auf dem Bauernhof zusammen, prügelten das Häschen windelweich und stahlen seine Bazooka. Das war der glücklichste Tag seines Lebens.
Ende.
Epilog: Pugsly das Schwein, das jetzt ohne Koben dastand, war ziemlich verärgert. Als die anderen einmal nicht hinsahen, stahl es die Bazooka. Es wickelte sich ein schickes Band um die Stirn und schwor Rache für das Unrecht, das ihm angetan worden war.
»Von diesem Tag an«, flüsterte es und hob drohend die Bazooka, »nennt mich Hambo.«
So. Jetzt geht es mir viel besser. Nun können wir erfrischt zu unserer Geschichte zurückkehren, beruhigt, dass ihr die richtige Art von Buch lest.
Ich krümmte mich zusammen, spannte alle Muskeln an und schielte zu meinen Füßen auf dem Stolperdraht hinunter. »Und«, meinte ich mit einem Blick zu Bastille, »wird jetzt irgendwas … Grmpf!«
In diesem Moment lösten sich einige Paneele aus der Decke und kippten ungefähr tausend Eimer voll dunklem, klebrigem Schlamm über uns aus. Ich versuchte noch, zur Seite zu springen, war aber zu langsam. Trotz ihrer gesteigerten Crystin-Geschwindigkeit gelang es nicht einmal Bastille, rechtzeitig ausweichen.
Der Schlamm überzog uns mit einer teerähnlichen Flüssigkeit. Ich versuchte zu schreien, brachte aber nur ein Gurgeln heraus, als das dicke, schwarze Zeug in meinen Mund drang. Es schmeckte eher unangenehm. Wie eine Mischung aus Bananen und Teer, mit einer Extraportion Teer.
Ich versuchte mich freizukämpfen, musste aber frustriert feststellen, dass der Schlamm sich plötzlich verhärtete. Also war ich an meinem Platz festgeklebt, ein Auge offen, das andere geschlossen, den Mund voll hartem Teer, die Nase – zum Glück – frei.
»Na großartig«, hörte ich Bastille seufzen. Ich konnte sie nur undeutlich sehen, aber sie stand ganz in meiner Nähe, auch völlig von Schlamm bedeckt, der sie mitten in der Laufbewegung erwischt hatte. Sie war geistesgegenwärtig genug gewesen, ihr Gesicht zu bedecken, sodass ihre Augen und ihr Mund schlammfrei waren – dafür klebte ihr Arm jetzt an ihrer Stirn. »Steckst du auch fest, Kaz?«
»Ja«, erklang eine gedämpfte Stimme. »Ich habe versucht, mich zu verirren, hat aber nicht funktioniert. Wir hatten uns ja schon verlaufen.«
»Alcatraz?«, fragte Bastille nun.
Ich versuchte, mit meiner Nase ein Grummeln zu erzeugen.
»Er ist in Ordnung, so weit ich das sehen kann«, meinte Kaz. »Allerdings wird er in der nächsten Zeit nicht sonderlich eloquent sein, fürchte ich.«
»Als wäre er das jemals«, brummte Bastille, während sie sich zu befreien versuchte.
Das reicht jetzt, dachte ich genervt und schickte mein Talent in den Schleim. Nichts geschah. Bedauerlicherweise gibt es in den Freien Königreichen eine Menge Dinge, die resistent sind gegen Smedry-Talente.
Einige Kuratoren kamen auf uns zugeschwebt; sie sahen ziemlich selbstzufrieden aus. »Wir würden euch ein Buch zur Verfügung stellen, in dem erklärt wird, wie ihr euch befreien könnt«, sagte einer von ihnen.
»Das wird euer Interesse finden«, ergänzte ein anderer.
»Zersplittert euch doch einfach«, fauchte Bastille und grunzte dann, während sie einen weiteren Versuch machte, sich loszureißen. Das Einzige, was dabei in Bewegung geriet, war ihr Kinn.
»Was soll das denn für ein Angebot sein?«, empörte sich Kaz. »Wir könnten das Buch ja nicht einmal lesen, solange wir in dieser Zwangslage stecken!«
»Es wäre uns eine Freude, es euch vorzulesen«, bot ein weiterer Kurator an. »Damit ihr versteht, wie ihr entkommen könntet, bevor eure Seelen eingezogen würden.«
»Außerdem«, flüsterte ein anderer, »hättet ihr dann die ganze Ewigkeit Zeit, um Forschung zu betreiben. Das ist doch sicherlich sehr reizvoll für dich, wo du doch ein Gelehrter bist. Endlos viel Zeit und das gesamte Wissen der Bibliothek. Alles zu deiner Verfügung.«
»Und nie wieder gehen können«, ergänzte Kaz. »Für immer in diesem Loch gefangen und gezwungen, andere in die Falle zu locken.«
»Dein Bruder war der Meinung, es sei das alles wert«, flüsterte eines der Wesen.
Was?, dachte ich. Mein Vater!
»Ihr lügt«, wehrte Kaz ab. »Attica würde nie auf einen eurer Tricks reinfallen!«
»Wir brauchten gar keine Tricks«, flüsterte es weiter und schwebte auf mich zu. »Er kam bereitwillig zu uns. Und alles für ein Buch. Ein einziges, ganz spezielles Buch.«
»Welches Buch?«, fragte Bastille.
Die Kuratoren hüllten sich in Schweigen, doch auf ihren Schädeln lag ein Grinsen. »Bist du bereit, für diese Information deine Seele einzutauschen?«
Bastille fluchte und kämpfte noch heftiger gegen den Schleim an. Die Kuratoren umkreisten sie und unterhielten sich in einer Sprache, bei der es sich, wie meine Linsen mir verrieten, um Altgriechisch handelte.
Wenn ich doch bloß an meine Sturmbringerlinsen herankäme, dachte ich. Vielleicht könnte ich etwas von dem Schleim wegblasen.
Aber ich war noch nicht einmal in der Lage, meine Finger zu bewegen, geschweige denn in meine Tasche zu greifen.
Wenn wenigstens mein Talent funktionieren würde! Ich konzentrierte mich, bündelte sämtliche Kräfte, die ich in mir spürte, und schickte sie in den Schleim. Doch er weigerte sich zu zerbrechen oder auch nur nachzugeben.
Ich hatte eine Idee. Der Schleim war unnachgiebig, aber was war mit dem Boden unter meinen Füßen? Wieder fokussierte ich mein Talent und entließ es nach unten.
Als die Energie durch meinen Körper und meine Füße floss, spannte ich mich an. Ich spürte, wie meine Schuhe sich auflösten, die Gummisohlen abrissen und der Stoff in seine Einzelteile zerfiel. Und ich spürte, wie der Stein unter meinen Füßen zu bröckeln begann. Das war allerdings vollkommen nutzlos, da mein Körper noch immer von dem Schleim festgehalten wurde. Der Boden unter mir würde nachgeben, aber ich nicht fallen.
Der Kurator, der mir am nächsten war, drehte sich um. »Bist du sicher, dass du das Buch über die Talente nicht doch willst, junger Okulator? Vielleicht könnte es dabei helfen, dich zu befreien.«
Konzentrier dich, ermahnte ich mich, während die anderen Kuratoren damit fortfuhren, Bastille zu quälen. Sie haben gesagt, es gäbe ein Buch, in dem steht, wie man sich von dem Schleim befreit. Das bedeutet, dass es einen Weg geben muss.
Ich zappelte herum, aber das war offensichtlich vollkommen nutzlos. Wenn man sich mit reiner Muskelkraft befreien könnte, würde Bastille das wesentlich schneller schaffen als ich.
Stattdessen konzentrierte ich mich auf den Schleim selbst. Was konnte ich über das Zeug herausfinden? Die Masse in meinem Mund schien ein wenig weicher zu sein als die an der Außenseite meines Körpers. Gab es dafür einen Grund? Mein Speichel? Vielleicht konnte der Schleim nicht aushärten, wenn er nass wurde.
Ich begann meinen Speichel zu sammeln und versuchte, ihn auf den Schleim zu bringen. Der Sabber lief mir aus dem Mund und verteilte sich über den Schleimklumpen, der mein Gesicht bedeckte.
»Ähm … Alcatraz?«, fragte Bastille vorsichtig. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Ich versuchte, ein beruhigendes Grunzen auszustoßen. Bei dieser Gelegenheit fand ich allerdings heraus, dass es sehr schwer ist, aussagekräftig zu grunzen, während man sabbert.
Einige Minuten später kam ich zu dem unangenehmen Ergebnis, dass der Schlamm sich nicht durch Speichel auflösen ließ.
Jetzt steckte ich also dummerweise nicht nur in einer Schicht aus gehärtetem schwarzem Teer fest, sondern hatte mir auch noch das T-Shirt vollgesabbert.
»Ist es nicht langsam ein wenig frustrierend?«, erkundigte sich ein Kurator und umkreiste mich. »Wie lange willst du noch dagegen ankämpfen? Du musst nicht sprechen. Blinzele einfach dreimal, wenn du deine Seele gegen eine Befreiungsmöglichkeit eintauschen möchtest.«
Ich riss die Augen so weit wie möglich auf. Sie begannen schnell auszutrocknen, was wunderbar ironisch war, wenn man den Zustand meines Shirts bedachte.
Der Kurator wirkte enttäuscht, schwebte aber weiterhin um mich herum. Warum machen sie sich die Mühe, uns so zu triezen?, fragte ich mich. Wir sind ihnen ausgeliefert. Warum töten sie uns nicht einfach? Oder warum entreißen sie uns nicht einfach unsere Seelen?
Dieser Gedanke ließ mich innehalten. Wenn sie das bisher nicht getan hatten, bedeutete das wahrscheinlich, dass sie es nicht konnten. Was wiederum möglicherweise daran lag, dass sie an irgendeine Art von Gesetz oder einen Kodex oder dergleichen gebunden waren.
Langsam ermüdete mein Kiefer. Was ein seltsamer Gedanke war. Ich steckte mit meinem gesamten Körper in dieser Masse fest und machte mir Sorgen um meinen Kiefer? Ermüdete er, weil er nicht so festsaß wie der Rest von mir? Aber das hatte ich ja schon festgestellt. Der Schleim in meinem Mund war weicher.
Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, biss ich zu. Fest. Überraschenderweise glitten meine Zähne ohne Hindernis durch das Zeug und trennten in meinem Mund einen Teil des Teers ab. Plötzlich ging ein Zittern durch die gesamte Masse – durch die ganze Schicht, die mich, Bastille, Kaz und den Boden bedeckte.
Was war das?, dachte ich. Der Teil, den ich abgebissen hatte, wurde schnell wieder flüssig, und ich wäre fast erstickt, als ich mich gezwungen sah, das Zeug runterzuschlucken. Das Stück vor meinem Gesicht zog sich nach dem Biss ein klein wenig zurück, und ich konnte deutlich sehen, wie es sich bewegte. Es war fast so, als ob das ganze Ding … lebendig wäre.
Ich schauderte. Trotzdem hatte ich nicht viele Optionen. Indem ich ein bisschen mit dem Kopf wackelte – der jetzt, wo sich das Zeug von meinem Gesicht zurückgezogen hatte, nicht mehr ganz so fest saß – gelang es mir, mit dem Kinn vorzuschießen und noch einmal in das Zeug zu beißen. Wieder erbebte es und zog sich zurück. Ich lehnte mich weiter vor und nahm – nachdem ich den BananenTeerklumpen ausgespuckt hatte – einen weiteren Bissen.
Diesmal gab die Schleimdecke mich vollständig frei und zog sich wie ein geprügelter Hund zurück. Diese Metapher schien mir so passend, dass ich wirklich darauf einschlug.
Der Klumpen zitterte, zog sich auch von Bastille und Kaz zurück und flüchtete den Gang hinunter. Ich verzog das Gesicht wegen des ekligen Geschmacks und spuckte ein paar Mal kräftig aus. Dann musterte ich die Kuratoren.
»Vielleicht solltet ihr eure Fallen ein bisschen besser erziehen.«
Sie sahen nicht glücklich aus. Kaz hingegen grinste breit. »Junge, ich bin stark in Versuchung, dich offiziell zu einem kleinen Menschen zu erklären!«
»Vielen Dank«, erwiderte ich artig.
»Dazu müssten wir dir natürlich auf Kniehöhe die Beine abschneiden«, fuhr er fort. »Aber das wäre nur ein geringer Preis!« Er blinzelte mir zu. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das nicht ernst gemeint hat.
Kopfschüttelnd machte ich einen Schritt, um nicht mehr in der zerbröckelten Kuhle zu stehen, die ich durch mein Talent auf dem Boden geschaffen hatte. Die Schuhe hingen nur noch lose an meinen Füßen, und ich streifte sie ab, auch wenn ich dadurch gezwungen war, barfuß zu laufen.
Aber immerhin, ich hatte uns befreit. Lächelnd drehte ich mich zu Bastille um. »Das wären dann schon zwei Fallen, aus denen ich dich gerettet habe.«
»Ach ja?«, erwiderte sie. »Wollen wir dann vielleicht auch anfangen zu zählen, in wie viele du mich reingeritten hast? Wer ist noch gleich auf den Stolperdraht getreten?«
Ich wurde rot.
»Jeder von uns hätte die Falle auslösen können, Bastille«, kam Kaz mir zu Hilfe. »Und auch wenn das wirklich lustig war, denke ich so langsam, dass es eine gute Idee wäre, wenn wir so etwas nicht wiederholen. Wir müssen vorsichtiger sein.«
»Meinst du wirklich?«, entgegnete sie trocken. »Das Problem ist, dass ich den Weg nicht überprüfen kann. Nicht, solange du uns mit deinem Talent führst.«
»Dann müssen wir eben einfach noch umsichtiger sein«, beschloss Kaz. Ich musterte den Stolperdraht und versuchte die Gefahr abzuschätzen. Wir konnten es uns nicht leisten, in jede nur mögliche Falle zu tappen. Wer wusste schon, ob uns bei der nächsten wieder eine Möglichkeit einfallen würde, uns zu befreien?
»Kaz, Bastille, wartet mal eine Sekunde.« Ich griff in meine Tasche und zog meine Linsen hervor. Unter Auslassung der Sturmbringerlinsen suchte ich die Sichtungslinsen heraus und setzte sie auf – die Linsen, die Grandpa Smedry oben für mich zurückgelassen hatte.
Sofort begann alles um mich herum sanft zu glühen und zeigte mir damit, wie alt es war. Ich sah zu Boden. Wie ich es vermutet hatte, leuchtete der Stolperdraht wesentlich heller als die Steine und die Schriftrollen um uns herum. Er war neuer als das ursprüngliche Gebäude. Lächelnd sah ich hoch. »Ich denke, ich habe einen Weg gefunden, um dieses Problem zu umgehen.«
»Sind das Sichtungslinsen?«, erkundigte sich Bastille.
Ich nickte.
»Wo, bei allen Sanden, hast du die denn her?«
»Grandpa Smedry hat sie für mich dagelassen«, erklärte ich. »Draußen, zusammen mit einer Nachricht.« Ich runzelte die Stirn und sah die Kuratoren missmutig an. »Wo wir gerade davon sprechen, hieß es nicht, ihr würdet mir die Schriftstücke zurückgeben, die ihr mir abgenommen habt?«
Die Kreaturen warfen sich irritierte Blicke zu. Dann kam eine von ihnen auf mich zu, wobei sie eine eindeutig verdrießliche Miene zur Schau trug. Der Untote bückte sich und legte einige Gegenstände auf dem Boden ab: Kopien meiner Kleiderschildchen, des Kaugummipapiers, das sie mir abgenommen hatten, und der Nachricht von Grandpa Smedry. Außerdem noch Kopien von dem Geld, das ich ihnen gegeben hatte – es waren perfekte Nachbildungen, abgesehen davon, dass sie vollkommen farblos waren.
Großartig, dachte ich. Aber das hätte ich wahrscheinlich sowieso nicht mehr gebraucht.
Ich beugte mich runter und hob die Sachen auf, die alle hell leuchteten, da sie erst kürzlich gemacht und damit noch brandneu waren. Bastille nahm die Nachricht an sich, überflog sie stirnrunzelnd und reichte sie dann an Kaz weiter.
»Dein Vater treibt sich also tatsächlich irgendwo hier unten herum«, wandte sie sich an mich.
»Sieht ganz so aus.«
»Und … die Kuratoren behaupten, dass er bereits seine Seele aufgegeben hätte.«
Ich verfiel in Schweigen. Sie haben mir meine Schriftstücke zurückgegeben, als ich danach gefragt habe, dachte ich, und versuchen immer wieder, uns dazu zu überreden, unsere Seelen aufzugeben, nehmen sie aber nicht mit Gewalt. Sie sind an bestimmte Regeln gebunden.
Das hätte mir früher klar werden müssen. Denn wisst ihr, alles folgt bestimmten Regeln. Die Gesellschaft hat Regeln, genauso die Natur und die Menschen. Viele gesellschaftliche Regeln haben etwas mit Erwartungen zu tun – womit ich mich an späterer Stelle noch beschäftigen werde – und können deshalb flexibel ausgelegt werden. Die meisten Naturgesetze hingegen sind eindeutig festgelegt.
Von diesen gibt es wesentlich mehr als ihr glaubt. Es gibt sogar Naturgesetze, die sich auf dieses Buch hier beziehen, darunter mein Favorit, das ›Gesetz der reinen Großartigkeit‹. Dieses Gesetz besagt schlicht und einfach, dass jedes Buch, das aus meiner Feder stammt, einfach großartig ist. Tut mir leid, aber das ist nun mal eine Tatsache.
Und wer bin ich schon, dass ich mich mit der Wissenschaft anlegen würde?
»He du«, wandte ich mich an einen der Kuratoren. »Ihr Leute habt Regeln, ist es nicht so?«
Der Kurator zögerte. »Doch«, antwortete er schließlich. »Willst du sie lesen? Ich könnte dir ein Buch geben, in dem jedes Detail darüber erläutert wird.«
»Nein«, wehrte ich ab. »Ich will nichts darüber lesen. Aber ich will alles darüber hören, und zwar von euch.«
Der Kurator runzelte irritiert die Stirn.
»Ihr seid dazu verpflichtet, es mir zu sagen, stimmt’s?«, hakte ich grinsend nach.
»Es ist mir eine Ehre, dies zu tun«, erwiderte das Wesen gestelzt. Dann breitete sich ein Lächeln über seinen Schädel aus. »Aber natürlich werde ich sie euch in der Sprache mitteilen müssen, in der sie verfasst wurden.«
»Wir sind wirklich beeindruckt, dass du Altgriechisch sprichst«, ergänzte ein zweiter Kurator. »Du bist gut vorbereitet zu uns gekommen. Heutzutage tun das nur noch sehr wenige.«
»Jedoch«, flüsterte ein dritter, »bezweifeln wir, dass du auch des Alt-Faxdarianischen mächtig bist.«
Altgriechisch …, dachte ich verwirrt. Dann ging mir ein Licht auf. Sie wissen nichts von meinen Übersetzerlinsen! Weil ich sie von Anfang an verstanden habe, denken sie, dass ich die Sprache beherrsche.
»Oh, ich weiß nicht«, sagte ich lässig und vertauschte die Sichtungslinsen gegen meine Übersetzerlinsen. »Stellt mich doch auf die Probe.«
»Ha«, triumphierte einer von ihnen in einer seltsamen fremdartigen Sprache, die hauptsächlich aus Zischlauten zu bestehen schien. Aber wie immer sorgten die Übersetzerlinsen dafür, dass ich mir bekannte Worte hörte. »Der Schwachkopf denkt, er kenne unsere Sprache.«
»Dann erkläre ihm jetzt die Regeln«, zischte ein anderer.
»Regel eins«, begann der Kurator, der direkt vor mir schwebte. »Wann immer jemand unser Reich betritt und etwas Niedergeschriebenes bei sich trägt, dürfen wir ihn von seiner Gruppe trennen und verlangen, dass uns die Schriftstücke ausgehändigt werden. Sollte der Betroffene Widerstand leisten, steht es uns frei, ihm die Schriftstücke gegen seinen Willen abzunehmen; wir sind jedoch dazu verpflichtet, sie ihm in Form von Kopien wieder zukommen zu lassen. Diese können wir bis zu einer Stunde zurückhalten, müssen sie nach Ablauf dieser Frist jedoch aushändigen, wenn danach verlangt wird.
Regel zwei: Wir können die Seelen der Bibliotheksbesucher einziehen, jedoch nur, falls uns diese freiwillig und regelgerecht angeboten werden. Nötigung zur Aufgabe der Seele ist erlaubt, gewaltsamer Raub nicht.
Regel drei: Es steht uns frei, das Angebot eines Seelenvertrages anzunehmen oder abzulehnen. Ist der Vertrag unterzeichnet, sind wir verpflichtet, dem Vertragspartner das Buch, nach dem verlangt wurde, auszuhändigen und ihm die Seele erst nach Ablauf der im Vertrag festgelegten Frist abzunehmen. Diese Zeitspanne darf zehn Stunden nicht überschreiten. Sollte jemand ohne einen gültigen Vertrag eines der Bücher von seinem Platz im Regal entfernen, sind wir berechtigt, seine Seele innerhalb von zehn Sekunden einzuziehen.«
Ich schauderte. Zehn Sekunden oder zehn Stunden, das schien keinen großen Unterschied zu machen. So oder so verlor man seine Seele. Gut, meiner Erfahrung nach gibt es auf der Welt sowieso nur ein einziges Buch, das zu lesen seine Seele wert wäre – und das haltet ihr gerade in Händen.
Ich akzeptiere die meisten gängigen Kreditkarten.
»Regel vier«, fuhr der Kurator fort. »Es ist uns nicht erlaubt, den Besuchern einen direkten Schaden zuzufügen.«
Daher diese Fallen, dachte ich. Technisch gesehen fügen wir uns nur selbst Schaden zu, wenn wir da reintappen. Ich starrte unbewegt geradeaus und tat so, als verstünde ich kein Wort von dem, was der Geist von sich gab.
»Regel fünf: Gibt eine Person seine oder ihre Seele auf und wird ein Kurator, sind wir verpflichtet, seine Besitztümer auszuhändigen, sollte ein Familienmitglied in die Bibliothek kommen und danach fragen.
Regel sechs, die wichtigste von allen: Wir sind die Hüter des Wissens und der Wahrheit. Wir können nicht lügen, wenn man uns eine direkte Frage stellt.«
Der Kurator verstummte.
»War’s das?«, fragte ich.
Falls ihr noch nie gesehen habt, wie eine Horde untoter Kuratoren mit brennenden Augenhöhlen unisono vor Überraschung zusammenzuckt … okay, ich gehe einfach mal davon aus, dass ihr noch nie gesehen habt, wie eine Horde untoter Kuratoren mit brennenden Augen unisono vor Überraschung zusammenzuckt. Lasst euch einfach sagen, dass es eine ziemlich amüsante Erfahrung ist, wenn auch auf die unheimliche Art amüsant.
»Er spricht unsere Sprache!«, zischte einer.
»Das ist unmöglich«, widersprach ein anderer. »Niemand außerhalb der Bibliothek beherrscht sie.«
»Könnte er Tharandes sein?«
»Dann wäre er schon vor Tausenden von Jahren gestorben!«
Bastille und Kaz beobachteten mich aufmerksam. Ich zwinkerte ihnen zu.
»Übersetzerlinsen«, zischte einer der Kuratoren plötzlich, »seht doch!«
»Unmöglich«, behauptete wieder einer. »Niemand kann den Sand von Rashid sammeln.«
»Aber er hat …«, stammelte ein dritter Kurator. »Doch, es müssen die Linsen von Rashid sein!«
Die drei Geister wirkten jetzt noch überraschter als zuvor.
»Was geht hier vor sich?«, flüsterte Bastille.
»Ich erkläre es euch gleich.«
Gemäß den Regeln der Kuratoren gab es einen Weg, um herauszufinden, ob mein Vater tatsächlich in die Bibliothek von Alexandria gekommen war und seine Seele aufgegeben hatte. »Ich bin der Sohn von Attica Smedry«, erklärte ich der untoten Gruppe. »Und ich bin gekommen, um seine persönlichen Sachen abzuholen. Eure Regeln besagen, dass ihr sie mir aushändigen müsst.«
Einen Moment lang herrschte Stille.
»Das können wir nicht«, gab einer der Kuratoren schließlich zu.
Ich seufzte erleichtert. Falls mein Vater wirklich in die Bibliothek gekommen war, dann hatte er zumindest nicht seine Seele aufgegeben. Die Kuratoren verfügten nicht über seine persönlichen Sachen.
»Das können wir nicht«, wiederholte der Kurator und verzog die Zähne in seinem nackten Schädel zu einem hässlichen Grinsen, »da wir sie bereits jemandem ausgehändigt haben.«
Entsetzen ergriff mich. Nein. Das kann nicht wahr sein!
»Ich glaube euch nicht«, flüsterte ich.
»Wir können nicht lügen«, erklärte ein anderer. »Dein Vater ist zu uns gekommen und hat uns seine Seele verkauft. Er wollte nur drei Minuten Zeit, um das Buch zu lesen, und dann haben wir ihn zu einem von uns gemacht. Seine Habseligkeiten wurden bereits beansprucht – jemand fragte danach, heute erst.«
»Wer?«, forderte ich. »Wer hat sie beansprucht? Mein Großvater?«
»Nein«, erwiderte der Kurator, und sein Grinsen wurde breiter. »Sie wurden von Shasta Smedry abgeholt. Deiner Mutter.«