Kapitel Neun

Feder.epsIch würde gern ein Experiment mit euch machen. Holt euch ein Stück Papier und schreibt eine 0 darauf. Geht dann in einer geraden Linie nach unten und schreibt da auch eine 0 hin. Wisst ihr, 0 ist die magische Zahl, denn es ist schließlich – na ja – eben 0. Besser gehts nicht! An der nächsten Stelle ist 0 allerdings nicht mehr genug. 7 ist die Zahl, die hier hingehört. Warum die 0 hier nicht mehr gut genug ist? Jetzt ist die 0 nicht mehr magisch. Einst von wahrer Größe, wurde die 0 auf etwas vollkommen Sinnloses reduziert. Jetzt nehmt euer Blatt Papier und werft es weg. Dann nehmt ihr dieses Buch und dreht es um neunzig Grad.

Seht euch den Absatz über diesem hier ganz genau an. (Beziehungsweise, ähm, da ihr das Buch ja gedreht habt, ist es jetzt wohl der Absatz neben diesem hier.) Wie dem auch sei, ihr solltet jetzt dazu in der Lage sein, in den Ziffern dieses Absatzes ein Gesicht zu erkennen – zwei Nullen bilden die Augen, die Sieben ist eine Nase, und eine Reihe von Nullen ergeben den Mund. Es grinst euch an, weil ihr euer Buch seitlich haltet und das – wie jeder weiß – der falsche Weg ist, wenn man ein Buch lesen will. Wie schafft ihr es überhaupt, diesen Abschnitt zu lesen? Dreht das Buch wieder um. Ihr seht lächerlich aus.

O ja, sehr clever. Jetzt haltet ihr es genau falsch rum.

So, jetzt ist es besser. Auf jeden Fall meine ich mich zu erinnern, dass ich in meinem letzten Buch festgestellt habe, wie sehr der erste Eindruck täuschen kann. Vielleicht hattet ihr den Eindruck, dass ich so mit dem Thema Eindrücke abgeschlossen hätte. Ihr habt euch getäuscht. Stellt euch das mal vor.

Es gibt noch so viel Wissenswertes zu diesem Thema. Es sind nämlich nicht nur die ersten Eindrücke, bei denen Menschen sich oft täuschen. Viele Ideen und Dinge, an die wir über lange, lange Zeit glauben, sind eigentlich vollkommen falsch. Ich zum Beispiel habe viele Jahre lang geglaubt, dass Bibliothekare meine Freunde seien. Manche Leute glauben, dass Spargel schmackhaft wäre. Andere weigern sich, dieses Buch zu kaufen, weil sie glauben, es sei uninteressant.

Falsch, falsch und wieder falsch. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, sich kein Urteil über das zu machen, was ich zu sehen glaube, bis ich ausreichend Gelegenheit hatte, es zu untersuchen und etwas darüber zu erfahren. Manches, das auf den ersten Blick überhaupt keinen Sinn zu ergeben scheint, ist in Wahrheit brillant. (Wie etwa mein künstlerisches Konzept im ersten Absatz.)

Behaltet das gut im Gedächtnis. Es könnte an einer anderen Stelle in diesem Buch noch wichtig werden.

Trotz der undurchdringlichen Dunkelheit zwang ich mich aufzustehen. Dann sah ich mich um, was natürlich überhaupt nichts bewirkte. Ich rief noch einmal. Keine Antwort.

Die Dunkelheit ließ mich frösteln. Hier unten war es nicht einfach nur dunkel, es war DUNKEL. So dunkel, als wäre ich von einem Wal verschluckt worden und als wäre dieser Wal dann von einem noch größeren Wal gefressen worden. Und als hätte sich dieser größere Wal dann in einer unglaublich tief gelegenen Unterwasserhöhle verlaufen, die wiederum in ein schwarzes Loch geworfen worden war.

Es war so dunkel, dass ich Angst bekam, ich könnte plötzlich erblindet sein. Deshalb war ich überglücklich, als ich schließlich einen schwachen Lichtschimmer erkennen konnte. Erleichtert wandte ich mich in diese Richtung.

»Dem Ursand sei Dank!«, rief ich. »Das ist …«

Ich verschluckte mich. Das Licht stammte von zwei Flammen, die in den Augenhöhlen eines blutroten Schädels glommen.

Mit einem Schrei taumelte ich zurück und stieß mit dem Rücken gegen eine raue, staubige Wand. Ich tastete mich daran entlang, stolperte durch die Dunkelheit, rannte dadurch aber nur frontal gegen eine Ecke. Da ich nun in der Falle saß, wirbelte ich herum und sah zu, wie der Schädel auf mich zukam. Das Feuer aus seinen Augen erleuchtete wenig später das robenartige Gewand des Wesens und seine Arme, die nur aus Knochen bestanden. Der ganze Körper – der Schädel, das Gewand, sogar die Flammen – wirkte leicht durchscheinend.

Ich stand zum ersten Mal einem Kurator von Alexandria gegenüber. Unsicher tastete ich nach meiner Tasche, da mir erst jetzt wieder einfiel, dass ich ja Linsen dabeihatte. Unglücklicherweise konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen, welche Tasche welche war, und ich war zu nervös, um sie korrekt abzuzählen.

Also zog ich eine beliebige Brille hervor, beseelt von der Hoffnung, dass es die Sturmbringerlinsen sein mochten. Ich setzte sie auf. Der Kurator begann weiß zu glühen. Großartig, dachte ich. Jetzt weiß ich, wie alt er ist. Vielleicht kann ich ihm ja bei Gelegenheit einen Geburtstagskuchen backen.

Der Kurator sagte etwas, allerdings in einer fremden, rau klingenden Sprache, die ich nicht verstand.

»Äh … das habe ich jetzt nicht so ganz …«, stammelte ich, während ich weiter in meinen Taschen herumwühlte. »Könnten Sie das vielleicht noch einmal wiederholen …?«

Er sagte wieder etwas und kam näher. Ich hatte ein anderes Linsenpaar gefunden und setzte es auf. Dann konzentrierte ich mich ganz auf das Wesen, um es bestenfalls mit einem Windstoß von mir wegzutreiben. Diesmal war ich mir ziemlich sicher, die richtige Tasche erwischt zu haben.

Natürlich täuschte ich mich.

»… Besucher der großen Bibliothek von Alexandria«, zischte das Ding, »musst du das Entgelt für den Eintritt entrichten.«

Die Linsen von Rashid – Übersetzerlinsen. Jetzt wusste ich nicht nur, wie alt das Ding war, sondern konnte auch verstehen, was es mit seiner dämonischen Stimme von sich gab, während es mir die Seele aussaugte. Ich machte mir eine gedankliche Notiz, mit meinem Großvater ein ernstes Wörtchen darüber zu reden, was für Linsen er mir immer aufs Auge drückte.

»Das Entgelt«, forderte das Wesen und machte einen Schritt in meine Richtung.

»Ähm … so wie es aussieht, habe ich meine Geldbörse draußen vergessen …«, murmelte ich und kramte nach anderen Linsen.

»Bargeld ist für uns nicht von Interesse«, flüsterte eine weitere Stimme. Ich schielte zur Seite, wo ein zweiter Kurator – mit brennenden Augen in einem roten Schädel – auf mich zuschwebte. Durch das zusätzliche Licht konnte ich erkennen, dass keiner der beiden Beine hatte. Ihre Roben endeten einfach in gar nichts.

»Was wollt ihr dann?«, fragte ich und schluckte schwer.

»Wir wollen deine … Papiere.«

Ich blinzelte verwirrt. »Wie bitte?«

»Alles Niedergeschriebene, das du bei dir trägst«, erklärte eine dritte Gestalt, während sie näher kam. »Jeder, der die Bibliothek von Alexandria betritt, muss seine Bücher, seine Notizen und alles Schriftliche abgeben, damit wir es kopieren und unserer Sammlung hinzufügen können.«

»Okay …«, sagte ich zögernd. »Das klingt verständlich.«

Mein Herz raste noch immer, als weigerte es sich zu glauben, dass eine Bande von untoten Monstern mit Flammenaugen mich nicht töten würde. Ich zog alles hervor, was ich bei mir hatte – also nur die Nachricht von Grandpa Smedry, ein Kaugummipapier und ein paar Dollarnoten.

Sie nahmen es an sich, rissen es mir aus den Händen, die sich danach eiskalt anfühlten. Kuratoren strahlen nämlich eisige Kälte aus. Deshalb brauchen sie auch nie Eis für ihre Drinks. Blöderweise können sie allerdings, da sie ja untote Geister sind, eigentlich gar keine Limonade trinken. Ist die Welt nicht voller Ironie?

»Mehr habe ich nicht«, sagte ich achselzuckend.

»Lügner«, zischte einer.

So etwas hört man nicht gern von untoten Geistern. »Nein«, wehrte ich mich aufrichtig. »Das ist wirklich alles!«

Ich spürte die kalten Finger auf meiner Haut und schrie auf. Obwohl sie durchscheinend aussahen, konnten die Dinger ganz schön fest zupacken. Sie drehten mich im Kreis und rissen schließlich die Schildchen aus meinem Shirt und meiner Jeans.

Dann zogen sie sich zurück, einfach so. »Die wollt ihr haben?«, fragte ich fassungslos.

»Alles Geschriebene muss abgeliefert werden«, wiederholte eines der Wesen. »Diese Bibliothek dient dem Zweck, sämtliches Wissen zu sammeln, das jemals niedergeschrieben wurde.«

»Nun, das werdet ihr aber nicht sonderlich schnell erreichen, wenn ihr T-Shirt-Schildchen abschreibt«, murmelte ich.

»Wage es nicht, an unseren Methoden zu zweifeln, Sterblicher.«

Ich schauderte, als mir einfiel, dass es wahrscheinlich keine so gute Idee war, seelenraubenden Monstern mit glühenden Schädeln gegenüber schnippisch zu sein. Darin ähneln seelenraubende Monster mit glühenden Schädeln übrigens Lehrern. (Ich kann gut verstehen, dass ihr verwirrt seid; ich verwechsele sie auch manchmal miteinander.)

Die drei Geister machten Anstalten, vondannen zu schweben.

»Wartet«, bat ich drängend, da ich nicht allein in der Dunkelheit zurückbleiben wollte. »Was ist mit meinen Freunden? Wo sind sie?«

Einer der Geister drehte sich um. »Sie wurden von dir getrennt. Jeder muss für sich sein, wenn er die Bibliothek betritt.« Er näherte sich mir. »Bist du gekommen, um nach Wissen zu streben? Wir können es dir beschaffen. Alles, was du dir wünschst. Jedes Buch, jede Fibel, jeden Folianten. Alles, was jemals geschrieben wurde, können wir dir zur Verfügung stellen. Eine Frage genügt …«

Der verhüllte Körper und der glühende Schädel schwebten um mich herum, die Stimme war zu einem sanften Flüstern herabgesunken. »Du kannst alles erfahren. Vielleicht sogar, wo dein Vater ist.«

Ich wirbelte herum und starrte das Wesen an. »Ihr wisst es also?«

»Wir können dir die Information beschaffen«, erwiderte es. »Du musst nur den entsprechenden Band ausleihen.«

»Und der Preis?«

Über den Schädel schien sich ein Lächeln auszubreiten, falls so etwas überhaupt möglich war.

»Geringfügig.«

»Meine Seele?«

Das Lächeln vertiefte sich.

»Nein, danke«, sagte ich schaudernd.

»Nun gut«, erwiderte der Kurator und schwebte davon.

Im nächsten Moment flackerten an den Wänden Lampen auf und erhellten den Raum. Es waren kleine Öllampen, die an arabische Märchen erinnerten, wo sie meistens einen Dschinn enthielten. Aber das war mir ziemlich egal; ich war einfach nur froh um das Licht. So konnte ich sehen, dass ich in einem staubigen Raum mit alten Ziegelwänden stand. Mehrere Korridore zweigten von ihm ab, und es gab keine Türen in den Durchgängen.

Na großartig, dachte ich. Da gebe ich einmal meine Fährtenspürlinsen aus der Hand

Ich entschied mich wahllos für einen der Durchgänge und trat in den Korridor hinaus. Seine Größe überwältigte mich. Er schien sich ewig hinzuziehen. Ich entdeckte Säulen, an denen Lampen hingen, sodass das Ganze in seiner enormen Länge wie ein flackerndes, gespenstisches Rollfeld aussah, das verlassen dalag. Rechts und links von mir erstreckten sich Regale, in denen sich Schriftrollen stapelten.

Es gab Tausende und Abertausende davon, und sie vermittelten allesamt die staubige Atmosphäre alter Katakomben. Ich empfand es als ein klein wenig einschüchternd. Sogar meine Schritte schienen wahnsinnig laut zu sein, da sie in dem riesigen Raum widerhallten.

Ich ging eine Weile, möglichst leise, den Korridor entlang und musterte dabei die vielen aufgereihten, mit Spinnweben überzogenen Pergamente. Es kam mir fast so vor, als befände ich mich in einer gewaltigen Gruft – nur dass dies der Ort war, wo nicht Körper, sondern Manuskripte ihre letzte Ruhestätte fanden.

»Das scheint endlos so weiterzugehen«, flüsterte ich mit einem Blick nach oben. Die Fächer mit den Schriftrollen zogen sich die Wände hinauf, bis sie in ungefähr sechs Metern Höhe an die Decke stießen. »Ich frage mich, wie viele es wohl sind.«

»Du kannst es erfahren, wenn du willst«, flüsterte eine Stimme. Ich drehte mich um und entdeckte direkt hinter mir einen Kurator, der abwartend in der Luft hing. Wie lange war er schon dort?

»Wir haben eine Liste«, flüsterte er und schwebte näher heran. Jetzt, wo die Lichtverhältnisse besser waren, zeichneten sich auf seinem Knochengesicht dunkle Schatten ab. »Du kannst sie lesen, wenn du willst. Leih sie dir einfach aus.«

»Nein, danke«, wehrte ich ab und ging vorsichtig ein paar Schritte zurück.

Der Kurator rührte sich nicht von der Stelle. Er machte auch keinerlei Anstalten, mich anzugreifen, also drehte ich mich um und setzte meinen Weg fort, wobei ich allerdings immer wieder über die Schulter zurückblickte.

Vielleicht fragt ihr euch, wie die Kuratoren behaupten können, jedes Buch zu besitzen, das jemals geschrieben wurde. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass sie ihre ganz eigenen Mittel und Wege haben, um Bücher aufzuspüren und ihrer Sammlung einzuverleiben. Zum Beispiel haben sie ein – wenn auch brüchiges – Abkommen mit den Bibliothekaren geschlossen, die die Länder des Schweigens kontrollieren.

Allein in den Vereinigten Staaten werden jedes Jahr viele Tausend Bücher veröffentlicht. Die meisten davon sind entweder »literarisch«, handeln also von Leuten, die rein gar nichts erleben, oder es sind dumme erfundene Geschichten zu furchtbar langweiligen Themen wie zum Beispiel Diäten.

(Diese ganzen scheinbar nutzlosen Bücher, die in den USA produziert werden, erfüllen allerdings in Wirklichkeit einen bestimmten Zweck. Sie sollen natürlich dafür sorgen, dass die Menschen sich unsicher fühlen, damit die Bibliothekare sie besser unter Kontrolle halten können. Ich bin der Meinung, die effektivste Methode, um sich schlecht zu fühlen, ist, ein Selbsthilfebuch zu lesen. Der zweitschnellste Weg besteht in der Lektüre eines deprimierenden literarischen Werkes, das darauf abzielt, dass man die Menschheit an sich verabscheuen soll.)

Wie auch immer, wichtig ist nur, dass die Bibliothekare jedes Jahr Hunderttausende von Büchern veröffentlichen. Was passiert mit all diesen Büchern? Logisch betrachtet, müssten wir doch von ihnen erschlagen werden. Ertrinken in einem Tsunami aus Texten, verzweifelt nach Luft schnappend, während wir langsam untergehen in einem endlosen Meer aus Geschichten über Mädchen mit Essstörungen.

Die Antwort liegt in der Bibliothek von Alexandria. Die Bibliothekare verschiffen ihre überschüssigen Bücher dorthin und haben den Kuratoren im Gegenzug das Versprechen abgenommen, dass diese nicht in die Länder des Schweigens kommen, um dort selbst nach ihnen zu suchen. Das ist wirklich schade. Immerhin könnten wir von den Kuratoren – da sie ja Skelette sind – sicher eine Menge über das Abnehmen lernen.

Ich wanderte weiter durch die muffigen Gänge der Bibliothek und fühlte mich beim Anblick der massigen Säulen und der Reihen und Reihen und Reihen und Reihen und Reihen und Reihen und Reihen und Reihen und Reihen und Reihen und Reihen und Reihen von Schriften klein und unbedeutend.

Hin und wieder kam ich an anderen Korridoren vorbei, die von dem ersten abzweigten. Sie sahen alle genauso aus wie der, in dem ich mich befand, und bald wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, wohin ich eigentlich ging. Ich sah über die Schulter zurück und musste enttäuscht feststellen, dass es in dieser Bibliothek überall staubig war, nur auf dem Boden nicht. Es gab also keine Fußspuren, denen ich folgen könnte, um den Weg zurück zu finden, und ich hatte auch keine Brotkrumen, mit denen ich eine Spur hätte legen können. Kurz überlegte ich, ob ich stattdessen die Flusen aus meinem Bauchnabel dafür hernehmen sollte, kam aber dann zu dem Ergebnis, dass das nicht nur äußerst unfein, sondern auch die reinste Verschwendung gewesen wäre. (Habt ihr auch nur die geringste Ahnung, wie wertvoll das Zeug ist?)

Außerdem würde es sowieso nicht besonders viel Sinn machen, eine Spur zu legen. Ich wusste nicht, wohin ich ging, aber ich wusste genauso wenig, wo ich eigentlich losgegangen war. Ich seufzte. »Es gibt nicht zufällig irgendwo eine Übersichtskarte von diesem Ort?«, fragte ich und drehte mich zu dem Kurator um, der in einiger Entfernung hinter mir schwebte.

»Selbstverständlich gibt es eine«, hauchte er mit Phantomstimme.

»Wirklich? Und wo kann ich sie finden?«

»Ich kann sie für dich holen.« Der Schädel grinste. »Du müsstest sie allerdings ausleihen.«

»Phantastisch«, sagte ich trocken. »Ich kann euch also meine Seele überlassen, um einen Weg hier rauszufinden, um den Weg hier raus dann aber nicht nehmen zu können, weil ihr im Besitz meiner Seele seid.«

»Einige vor dir haben es schon getan«, erwiderte der Geist. »Es kann dir den Verstand rauben, ewig zwischen den Regalreihen umherzuwandern. Viele geben ihre Seele freiwillig auf, um endlich einen Ausweg zu finden.«

Ich wandte mich ab. Der Kurator fuhr jedoch fort: »Es würde dich überraschen, was für Menschen hierherkommen auf der Suche nach Antworten auf die simpelsten Fragen.« Die Stimme des Wesens wurde lauter, während es sprach, und es kam näher herangeschwebt. »Viele alte Frauen entwickeln eine ausgeprägte Leidenschaft für eine moderne Freizeitbeschäftigung, die sich ›Kreuzworträtsel‹ nennt. Wir hatten schon einige, die hier nach den Antworten gesucht haben. Jetzt haben wir ihre Seelen.«

Stirnrunzelnd musterte ich das Ding.

»Viele Menschen ziehen es vor, ihr Leben aufzugeben, anstatt in Unwissenheit weiterzuleben«, erklärte es. »Das ist einer der vielen Wege, wie wir an Seelen gelangen. Einigen ist es sogar egal, welches Buch sie bekommen, denn wenn sie erst einmal einer von uns geworden sind, können sie auch die anderen Bücher der Bibliothek lesen. Dann ist ihre Seele allerdings an diesen Ort gebunden, und sie können ihn nie wieder verlassen oder ihr Wissen mit anderen teilen. Trotzdem übt das grenzenlose Wissen einen großen Reiz auf sie aus.«

Warum sprach das Ding so laut? Und es schien mich irgendwie zu bedrängen, mich mit seiner Kälte vor sich hertreiben zu wollen. Als wollte es mich zwingen, schneller zu gehen. In diesem Moment wurde mir klar, was hier vor sich ging. Der Kurator war ein Fisch. Wenn das so war, was waren dann die Schuhe? (Im übertragenen Sinne natürlich. Blättert ein paar Kapitel zurück, falls ihr es vergessen haben solltet.)

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Und dann hörte ich es. Eine leise Stimme, die um Hilfe rief. Es klang nach Bastille.

Ich riss die Augen auf und stürmte in einen der abzweigenden Gänge. Der Geist fluchte in einer fremdartigen Sprache – die Übersetzerlinsen übermittelten mir freundlicherweise die Bedeutung des Wortes, und ich werde sie ebenso freundlicherweise hier nicht wiederholen, da sie wirklich sehr, sehr obszön ist – und folgte mir.

Als ich sie fand, hing sie kopfüber zwischen zwei Säulen an der Decke und fluchte ebenfalls herzerfrischend. Sie hatte sich in einem seltsamen Geflecht aus Seilen verfangen; einige waren um ihre Beine geschlungen, andere fixierten ihre Arme. Und anscheinend machten ihre Bemühungen die Sache nur noch schlimmer.

»Bastille?«, fragte ich.

Sie verharrte in der Bewegung, sodass ihre silbernen Haare wie ein Vorhang nach unten fielen. »Smedry?«

»Wie bist du denn da raufgekommen?«, wollte ich wissen und bemerkte nun, dass neben ihr ein Kurator kopfüber in der Luft hing. Seine Robe schien der Schwerkraft zu trotzen – aber ich denke, das ist bei Geistern nicht ungewöhnlich.

»Spielt das irgendeine Rolle?«, fauchte Bastille und begann wieder wild um sich zu schlagen, offenbar in dem Versuch, so ihre Fesseln abzustreifen.

»Hör auf rumzuzappeln. Du machst es nur noch schlimmer.«

Sie grunzte, hielt dann aber still.

»Wirst du mir jetzt erzählen, was passiert ist?«, fragte ich.

»Falle«, sagte sie knapp und wand sich noch ein bisschen. »Ich habe einen Stolperdraht berührt, und im nächsten Moment hing ich hier. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, hört dieser Freak mit den Flackeraugen einfach nicht auf, mir zuzuflüstern, dass er mir ein Buch geben kann, in dem steht, wie ich entkommen kann. Es würde mich lediglich meine Seele kosten!«

»Wo ist dein Dolch?«, fragte ich weiter.

»In meinem Rucksack.«

Ich entdeckte den Sack einige Schritte weiter auf dem Boden. Vorsichtig, immer auf der Hut vor Trittfallen, ging ich hinüber. In dem Rucksack fand ich ihren crystinischen Dolch, ein paar Vorräte und – ich war überrascht, denn ich hatte sie schon ganz vergessen – die Stiefel mit den Krallenglassohlen. Ich grinste breit.

»Ich bin gleich bei dir«, sagte ich, zog die Stiefel an und aktivierte das Glas. Dann machte ich mich daran, die Wand hinaufzulaufen.

Solltet ihr das noch nie versucht haben, würde ich sehr empfehlen, es einmal zu tun. Eine erfrischende Brise umweht euch, kombiniert mit einem äußerst einladenden Schwindelgefühl, wenn ihr rückwärts umkippt und auf den Boden knallt. Außerdem seht ihr dabei ziemlich idiotisch aus – aber das ist für die meisten von uns ja nichts Neues.

»Was machst du denn da?«, fragte Bastille scharf.

»Ich versuche, zu dir hochzulaufen«, erklärte ich, setzte mich auf und rieb mir den Kopf.

»Krallenglas, Smedry. Es haftet nur an anderem Glas.«

Ach ja, richtig, dachte ich. Es mag sein, dass ihr es für ziemlich dämlich haltet, dieses Detail zu vergessen, aber es war wirklich nicht meine Schuld. Immerhin war ich hart auf dem Boden gelandet und hatte mir dabei den Kopf angeschlagen.

»Tja, und wie soll ich dann zu dir raufkommen?«

»Du könntest mir einfach den Dolch zuwerfen.«

Skeptisch blickte ich nach oben. Sie schien ziemlich fest eingewickelt zu sein. Aber die Seile waren mit den Säulen verbunden.

»Bleib dran«, meinte ich, während ich zu einer der Säulen hinüberging.

»Alcatraz …«, erwiderte sie unsicher. »Was hast du vor?«

Ich drückte meine Hand gegen die Säule und schloss die Augen. Ich hatte den Jet zerstört, indem ich einfach die Rauchwolke berührt hatte. Würde mir hier auch so etwas gelingen? Könnte ich mein Talent durch die Säule nach oben leiten, sodass es die Seile erreichte?

»Alcatraz!«, protestierte Bastille. »Ich habe keine Lust, von umstürzenden Säulen erschlagen zu werden. Fass sie nicht …«

Ich setzte einen Schub von Bruchkraft frei.

»Grmpf!«

Dieser Laut entrang sich Bastille, als ihre Fesseln – die ja an den Säulen hingen – sich erst in ihre einzelnen Fasern auflösten und dann zerrissen. Ich öffnete gerade noch rechtzeitig die Augen, um zu sehen, wie sie sich an eines der Seile klammerte und daran zu Boden glitt. Leicht keuchend landete sie neben mir. Dann sah sie nach oben. Die Säule stürzte nicht auf uns nieder. Ich zog meine Hand zurück.

Mit schräg gelegtem Kopf musterte sie mich. »Hm.«

»Nicht schlecht, was?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ein echter Mann wäre hochgeklettert und hätte mich mit Hilfe des Dolchs befreit. Jetzt komm, wir müssen die anderen finden.«

Ich rollte mit den Augen, nahm ihre Bemerkung aber als »Dankeschön«. Während sie die Stiefel und den Dolch wieder im Rucksack verstaute und ihn sich über die Schulter warf, setzte auch ich mich in Bewegung. Wir hatten uns gerade auf den Weg durch den Korridor gemacht, als ein donnerndes Geräusch uns herumwirbeln ließ.

Die Säule hatte sich nun doch noch entschlossen umzufallen und verteilte Steinsplitter um sich herum, als sie auf dem Boden aufschlug. Der Aufprall ließ den ganzen Gang beben.

Eine Staubwolke stieg auf und zog über uns hinweg. Bastille warf mir einen leidgeprüften Blick zu, seufzte und ging weiter.