Kapitel Zehn
Vielleicht fragt ihr euch,
warum ich Fantasyromane so hasse. Oder vielleicht auch nicht. Das
ist egal, denn ich werde es euch so oder so erklären.
(Wenn ihr natürlich nur wissen wollt, wie die Geschichte ausgeht, könnt ihr einfach zur letzten Seite vorblättern – ich würde es euch allerdings nicht empfehlen. Es könnte sich äußerst verstörend auf eure Psyche auswirken.)
Also, lasst uns über Fantasyromane sprechen. Als Erstes müsst ihr euch bewusst machen, dass ich, wenn ich ›Fantasyromane‹ sage, Literatur meine oder Bücher über Diäten oder über Menschen, die während der Zeit der Großen Depression lebten. ›Fantasyromane‹ sind also Bücher, in denen weder Glasdrachen noch untote Kuratoren oder magische Linsen vorkommen.
Ich hasse Fantasyromane. Obwohl, na ja, das stimmt so nicht ganz. Ich hasse sie nicht wirklich, nicht so richtig. Es regt mich nur furchtbar auf, was sie aus den Ländern des Schweigens gemacht haben.
Die Leute lesen nicht mehr. Und wenn sie es doch einmal tun, lesen sie nicht etwa Bücher wie dieses hier, sondern stattdessen etwas, das dafür sorgt, dass sie sich schlecht fühlen. Und zwar weil diese Bücher als wichtig angesehen werden. Irgendwie haben die Bibliothekare es geschafft, die meisten Leute in den Ländern des Schweigens davon zu überzeugen, dass sie nichts lesen sollten, was nicht absolut langweilig ist.
Das hängt alles mit der großen Vision des Schreibers Biblioden zusammen, die vorgibt, wie die Welt sein sollte – eine Vision von Menschen, die nie etwas Ungewöhnliches tun, keine Träume haben und nie irgendwelche seltsamen Dinge erleben. Seine Anhänger bringen die Leute dazu, keine Bücher mehr zu lesen, die Spaß machen, und sich stattdessen ganz auf ›Fantasyromane‹ zu konzentrieren. Ich nenne sie so, weil diese Bücher die Leute in eine Falle locken. Sie halten sie in einer netten kleinen Phantasie gefangen, die die Leser für die ›reale‹ Welt halten. Eine Phantasie, die ihnen sagt, dass sie niemals etwas Neues ausprobieren müssen.
Schließlich kann es problematisch sein, etwas Neues auszuprobieren.
»Wir brauchen einen Plan«, sagte Bastille, während wir durch die Gänge der Bibliothek liefen. »Wir können nicht einfach weiter so hier rumwandern.«
»Wir müssen Grandpa Smedry finden«, betonte ich, »oder meinen Vater.«
»Wir müssen auch noch Kaz und Australia finden, ganz zu schweigen von meiner Mutter.« Bei den letzten Worten verzog sie das Gesicht.
Und … das ist noch nicht alles, dachte ich. Mein Vater ist aus einem bestimmten Grund hierhergekommen. Er hat etwas gesucht.
Etwas sehr Wichtiges.
Einige Monate zuvor hatte ich eine Nachricht von ihm erhalten – sie war in dem Päckchen gewesen, das den Sand von Rashid enthalten hatte. In diesem Brief hatte mein Vater sehr angespannt geklungen. Aufgeregt, aber auch beunruhigt.
Er hatte eine gefährliche Entdeckung gemacht. Der Sand von Rashid – beziehungsweise die Übersetzerlinsen – waren nur der Anfang gewesen, der erste Schritt hin zu der Entdeckung von etwas weit Größerem. Etwas, das meinem Vater Angst gemacht hatte.
Er hatte dreizehn Jahre damit verbracht, dieses Etwas zu suchen. Und die Spur hatte ihn hierhergeführt, zur Bibliothek von Alexandria. Konnte es wahr sein, dass Frustration ihn hergetrieben hatte? Hatte er seine Seele eingetauscht für die Antworten, die er gesucht hatte, nur damit er seine Suche endlich abschließen konnte?
Mir lief ein Schauer über den Rücken, und ich drehte mich kurz zu den Kuratoren um, die hinter uns herschwebten. »Bastille? Du meintest, dass einer von ihnen mit dir gesprochen hat?«
»Ja«, sie nickte. »Hat immer wieder versucht, mich dazu zu bringen, ein Buch auszuleihen.«
»Und er hat in deiner Muttersprache mit dir gesprochen?«
»Na ja, Nalhallisch. Aber das ist ja quasi dasselbe. Warum?«
»Meiner hat eine Sprache gesprochen, die ich nicht verstanden habe.«
»Hat meiner zuerst auch«, erwiderte sie. »Einige von ihnen haben mich eingekreist und meine Sachen durchwühlt. Sie haben sich die Inventarliste und die Schildchen von den Nahrungsmitteln geschnappt. Dann sind sie verschwunden – alle bis auf den einen da hinter uns. Er hat die ganze Zeit in dieser nervtötenden Sprache auf mich eingeredet. Erst nachdem ich in die Falle getappt war, hat er angefangen Nalhallisch zu sprechen.«
Wieder musterte ich die Kuratoren. Sie stellen Fallen auf, dachte ich. Aber keine tödlichen, sondern nur Fallen, die die Leute aufhalten. Sie trennen Besucher voneinander, die in Gruppen ankommen, und schicken sie dann in die Gänge, wo sie umherwandern und sich verlaufen. Sie reden in einer Sprache mit uns, von der sie wissen, dass wir sie nicht verstehen, während sie stattdessen genauso gut unsere Sprache sprechen könnten.
Dieser ganze Ort ist nur darauf ausgelegt, die Leute in den Wahnsinn zu treiben. Die Kuratoren versuchen, uns zu frustrieren. Bis wir schließlich aufgeben und eines der Bücher annehmen, die sie uns die ganze Zeit anbieten.
»Also, wie lautet unser Plan?«, fragte Bastille.
Ich zuckte mit den Schultern. »Warum fragst du mich das?«
»Weil du der Anführer bist, Alcatraz«, sagte sie seufzend. »Wo liegt eigentlich dein Problem? Die Hälfte der Zeit scheinst du gut damit klarzukommen, Befehle zu geben und den Chef zu spielen. Und während der anderen Hälfte beschwerst du dich, dass du nicht derjenige sein willst, der die Entscheidungen treffen muss.«
Ich schwieg. Wenn ich ganz ehrlich sein sollte, war ich mir über meine Gefühlswelt selbst nicht so ganz im Klaren.
»Also?«, hakte sie nach.
»Als Erstes machen wir uns auf die Suche nach Kaz, Australia und deiner Mutter.«
»Warum solltet ihr mich suchen müssen«?«, fragte Kaz. »Ich meine, ich bin doch hier.«
Bastille und ich zuckten zusammen. Natürlich, da stand er. In seiner verschlissenen Jacke, die Melone auf dem Kopf, die Hände in die Taschen gesteckt. Er grinste uns verschmitzt an.
»Kaz! Du hast uns gefunden!«, rief ich überrascht.
»Ihr hattet euch verlaufen«, erklärte er mit einem Achselzucken. »Wenn ich mich verlaufen habe, ist es einfacher für mich, jemanden zu finden, der sich ebenfalls verirrt hat – denn abstrakt gesehen befinden wir uns dann am selben Ort.«
Stirnrunzelnd versuchte ich, den Sinn in dieser Erklärung zu erkennen. Kaz sah sich um, musterte die Säulen und die Bogen unter der Decke. »Ist überhaupt nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.«
»Wirklich nicht?«, wunderte sich Bastille. »Also meinen Vorstellungen entspricht es ziemlich genau.«
»Ich hätte erwartet, dass sie ihre Schriftrollen und Bücher besser pflegen«, erwiderte mein Onkel.
»Kaz«, unterbrach ich die beiden, »du hast uns doch aufspüren können, richtig?«
»Ähm, was habe ich dir gerade eben erklärt, Kleiner?«
»Kannst du auch Australia finden?«
Wieder zuckte er mit den Schultern. »Ich kann es versuchen. Aber wir müssen vorsichtig sein. Da hinten wäre ich fast in eine Falle getappt. Ich bin über einen Draht gestolpert, und plötzlich kam eine große Schlinge aus der Wand und wollte mich schnappen.«
»Was ist dann passiert?«, fragte Bastille.
Er lachte. »Sie ist direkt über meinen Kopf hinweggeflogen. Argument Nummer fünfzehn, Bastille: Kleine Menschen sind kleinere Ziele!«
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Ich gehe voraus«, beschloss Bastille nun, »und halte Ausschau nach Trittfallen. Ihr zwei folgt mir in einigem Abstand. Bei jeder Weggabelung wird Kaz sein Talent einsetzen und entscheiden, wo wir weitergehen. Mit etwas Glück wird sein Talent uns so zu Australia führen.«
»Das klingt nach einem guten Plan«, sagte ich.
Bastille setzte ihre Kriegerlinsen auf und bewegte sich dann sehr vorsichtig den Gang entlang. Kaz und ich blieben zurück und standen dumm rum.
Da fiel mir etwas ein. »Kaz, wie lange hat es gedauert, bis du richtig mit deinem Talent umgehen konntest?«
»Ha! Bei dir klingt das so, als könnte ich damit umgehen, Kleiner.«
»Aber du hast deins besser im Griff als ich meins.«
Unwillkürlich starrte ich zu der zerlegten Säule hinüber, die hinter uns gerade noch zu erkennen war.
»Die Talente sind schwierig, das gebe ich zu«, sagte Kaz und folgte meinem Blick. »Warst du das?«
Ich nickte.
»Weißt du, ich habe erst durch das Geräusch der einstürzenden Säule entdeckt, dass ich in eurer Nähe war. Manchmal scheint etwas zunächst ein Fehler zu sein, stellt sich dann aber als nützlich heraus.«
»Das weiß ich doch, aber ich habe trotzdem immer wieder Schwierigkeiten. Jedes Mal, wenn ich glaube, mein Talent endlich durchschaut zu haben, mache ich irgendetwas kaputt, ohne es zu wollen.«
Der kleine Mann lehnte sich an eine der Säulen, die den Gang säumten. »Ich weiß, was du meinst, Al. Ich habe mich den Großteil meiner Jugend über ständig verirrt. Man ließ mich noch nicht mal allein auf die Toilette gehen, weil es sein konnte, dass ich stattdessen in Mexiko rauskam. Einmal habe ich deinen Vater und mich für zwei Wochen auf einer einsamen Insel ausgesetzt, weil ich einfach nicht dahintergekommen bin, wie ich das verdammte Talent dazu bringe, zu tun, was ich will.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es ist so: Je mächtiger ein Talent ist, desto schwieriger ist es zu kontrollieren. Du und ich – ebenso wie dein Vater und dein Großvater – haben Primärtalente. Sehr rein, direkt auf dem Schöpfungsrad angesiedelt. Es ist nur natürlich, dass sie uns jede Menge Schwierigkeiten machen.«
Ich legte den Kopf schief. »Schöpfungsrad?«
Er schien überrascht zu sein. »Das hat dir niemand erklärt?«
»Ich habe bisher nur mit meinem Großvater länger über die Talente gesprochen.«
»Ja gut, aber was ist mit der Schule?«
»Äh … nein«, sagte ich. »Ich bin auf eine Schule der Bibliothekare gegangen, Kaz. Ich habe allerdings jede Menge über die Große Depression gelernt.«
Kaz schnaubte empört. »Fantasygeschichten. Diese Bibliothekare …« Er seufzte, hockte sich auf den Boden und zog einen Stock hervor. Dann nahm er sich aus der nächsten Ecke eine Handvoll Staub, verteilte sie über den Boden und zeichnete mit dem Stock einen Kreis hinein.
»Im Lauf der Jahrhunderte hat es eine Menge Smedrys gegeben«, begann er, »und eine Menge Talente. Viele von ihnen weisen langfristig große Ähnlichkeiten auf. Es gibt vier Arten: Talente, die Einfluss haben auf den Raum, die Zeit, das Wissen oder die physische Welt.« Er unterteilte den Kreis auf dem Boden in vier Quadranten.
»Nimm zum Beispiel mein Talent«, fuhr er fort. »Ich verändere Dinge im Raum. Ich kann mich verirren und dann wiedergefunden werden.«
»Was ist mit Grandpa Smedry?«
»Zeit«, erklärte Kaz. »Er kommt zu spät. Australia wiederum hat ein Talent, das die physische Welt verändert – in ihrem Fall das eigene Aussehen.« Er schrieb ihren Namen auf das Rad im Staub. »Aber ihr Talent ist ziemlich speziell, nicht so vielseitig wie das deines Großvaters. Vor einigen Jahrhunderten gab es zum Beispiel einen Smedry, der jederzeit hässlich sein konnte, nicht nur, wenn er morgens aufwachte. Andere hatten die Fähigkeit, das Aussehen jedes beliebigen Menschen zu verändern, nicht bloß ihr eigenes. So weit klar?«
Ich zuckte die Schultern. »Denke schon.«
»Je mehr das Talent seiner reinsten Form gleicht, desto mächtiger ist es«, fuhr Kaz fort. »Das Talent deines Großvaters ist sehr rein – er kann die Zeit unter vielen verschiedenen Bedingungen manipulieren. Dein Vater und ich haben sehr ähnliche Talente – ich kann mich verlaufen, und Attica kann Dinge verlieren –, und beide sind wir sehr flexibel. Geschwister verfügen oft über ähnliche Kräfte.«
»Und wie ist das bei Sing?«, wollte ich wissen.
»Stolpern. So etwas nennen wir ein Wissenstalent – er verfügt über das nötige Wissen, um etwas ganz Normales mit außerordentlicher Kunstfertigkeit auszuführen. Solche Fälle siedeln wir am Rand des Rades an, nahe dem äußeren Bogen. Machtvollere Talente wie die meines Vaters werden näher am Zentrum platziert.«
Ich nickte langsam. »Und … was hat das alles mit mir zu tun?«
Bastille war zu uns zurückgekehrt und sah uns interessiert zu.
»Schwierig zu sagen«, meinte Kaz. »Damit begeben wir uns in eine tiefe philosophische Diskussion, Kleiner. Manche behaupten, das Bruchtalent sei einfach ein Talent der physischen Welt, aber eben ein sehr vielseitiges und mächtiges.«
Er sah mir in die Augen und stach dann mit seinem Stock genau in die Mitte des Kreises. »Und es gibt andere, die sagen, das Bruchtalent sei viel mehr als das. Es scheint Dinge bewirken zu können, die mit allen vier Bereichen zusammenhängen. Der Legende nach konnte einer deiner Vorfahren – einer von nur zwei anderen, die dieses Talent hatten – Zeit und Raum gleichzeitig zerbrechen und hat so eine kleine Blase geschaffen, in der nichts alterte.
Andere Aufzeichnungen berichten von ebenso herausragenden Beschädigungen, und zwar solchen, durch die die Erinnerungen oder die Fähigkeiten von Menschen verändert wurden. Was bedeutet es, etwas zu ›beschädigen‹? Was kann man dadurch verändern? Wie weit kann ein solches Talent gehen?«
Er hob den Stock und zeigte damit auf mich. »So oder so, das ist der Grund, warum es so schwer für dich ist, es unter Kontrolle zu kriegen. Ehrlich gesagt sind wir selbst nach Jahrhunderten der Forschung immer noch nicht so weit, dass wir die Talente verstehen. Ich habe keine Ahnung, ob es uns jemals gelingen wird, auch wenn dein Vater sehr darauf aus war, es zu versuchen.« Kaz stand auf und wischte sich den Staub von den Fingern. »Deswegen bin ich wohl auch hierhergekommen.«
»Woher weißt du so viel darüber?«, fragte ich ihn.
Kaz hob überrascht eine Augenbraue. »Was denkst du denn? Dass ich meine gesamte Zeit damit verbringe, clevere Listen aufzustellen und mich auf dem Weg zur Toilette zu verlaufen? Ich habe einen Beruf, Kleiner.«
»Lord Kazan ist ein Gelehrter«, erklärte Bastille. »Spezialisiert auf arkane Geschichte.«
»Na großartig«, stöhnte ich und verdrehte die Augen. »Noch ein Professor.« Nach Grandpa Smedry, Sing und Quentin war ich inzwischen schon fast der Meinung, dass jeder Bewohner der Freien Königreiche irgendeine Art von Akademiker war.
Kaz erklärte mit einem Achselzucken: »Es ist ein Wesenszug der Smedrys, Kleiner. Wir sind alle sehr interessiert an Wissen. Allerdings war dein Vater das wahre Genie – ich bin nur ein bescheidener kleiner Philosoph. So, Bastille, wie sieht der Weg aus?«
»Sauber«, erwiderte sie. »Ich habe keine Trittfallen entdeckt.«
»Großartig«, murmelte er.
»Du klingst ein wenig enttäuscht.«
Wieder zuckte Kaz mit den Schultern. »Fallen sind interessant. Sie sind immer eine Überraschung, ein bisschen wie Geburtstagsgeschenke.«
»Wenn man davon absieht, dass diese Geschenke dich köpfen können«, gab Bastille trocken zurück.
»Das gehört zum Spaß dazu, Bastille.«
Sie seufzte schwer und warf mir über ihre dunklen Brillengläser hinweg einen genervten Blick zu. Smedrys, schien er zu sagen, sie sind alle gleich.
Ich lächelte sie aufmunternd an und bedeutete ihr, dass wir uns auf den Weg machen sollten. Kaz übernahm die Führung. Während wir uns entfernten, bemerkte ich noch, dass einige Kuratoren damit beschäftigt waren, Kaz’ Zeichnung zu kopieren. Ich drehte mich wieder nach vorn und zuckte zusammen, als ich dabei direkt neben mir einen Kurator schweben sah.
»Die Inkarna kannten sich mit den Smedry-Talenten aus«, flüsterte das Wesen. »Wir haben hier eines ihrer Bücher, es wurde vor Jahrtausenden geschrieben. Darin wird ganz genau erklärt, wie die Talente entstanden sind. Wir verfügen über das letzte noch existierende Exemplar.«
Es schwebte näher an mich heran.
»Du kannst es haben«, hauchte die Kreatur. »Leih es dir aus, wenn du willst.«
Ich schnaubte. »So neugierig bin ich nicht. Ich wäre ja blöd, wenn ich euch meine Seele überlassen würde für eine Information, die ich dann nie anwenden könnte.«
»Ah, aber vielleicht könntest du sie ja doch anwenden«, widersprach der Kurator. »Was könntest du nicht alles bewirken, wenn du dein Talent völlig durchschauen würdest, junger Smedry? Wärst du dann vielleicht in der Lage, deine Freiheit wiederzuerlangen? Deine Seele zurückzubekommen? Aus unserem Gefängnis auszubrechen …«
Das ließ mich zögern. Auf eine erschreckende, verdrehte Art ergab das einen Sinn. Vielleicht konnte ich meine Seele eintauschen und dann durch das Buch, das ich dafür bekam, lernen, wie ich mich befreien könnte. »Dann ist es also möglich?«, fragte ich. »Man kann sich befreien, nachdem man in einen Kurator verwandelt wurde?«
»Alles ist möglich«, hauchte der Kurator und starrte mich mit seinen brennenden Augenhöhlen an. »Warum probierst du es nicht einfach aus? Du könntest so viel lernen. Wissen erlangen, das seit Jahrtausenden als verloren galt …«
Es ist ein Beweis für die Effektivität der subtilen Tricks der Kuratoren, dass ich tatsächlich einen Moment lang darüber nachdachte, meine Seele gegen ein Buch über arkane Theorien einzutauschen.
Doch dann setzte mein Verstand wieder ein. Ich konnte mein Talent noch nicht einmal jetzt kontrollieren. Wie kam ich also auf den Gedanken, dass ausgerechnet ich dazu in der Lage sein könnte, es so einzusetzen, dass ich damit derart erfahrene und mächtige Wesen wie die Kuratoren von Alexandria überlisten könnte?
Kichernd schüttelte ich den Kopf, was den Kurator in offensichtlichem Missfallen zurückweichen ließ. Ich beschleunigte meine Schritte, um die anderen wieder einzuholen. Kaz ging voraus und führte uns wie schon zuvor – ganz auf sein Talent konzentriert, das uns zu Australia bringen würde. Theoretisch.
Und während wir immer weitergingen, hätte ich tatsächlich schwören können, dass ich eine Veränderung in den Schriftrollen um uns herum wahrnehmen konnte. Es war nicht so, dass sie sich verwandelt hätten oder dergleichen – aber wenn ich aus dem Augenwinkel eines der Regale musterte, mich dann abwandte und sofort wieder hinsah, war ich mir nicht sicher, ob es noch dieselben Rollen waren oder nicht. Kaz’ Talent führte uns durch die Gänge, ohne dass wir einen eindeutigen Unterschied hätten ausmachen können.
Das brachte mich auf einen Gedanken. »Kaz?«
Der kleine Mann drehte sich um und hob eine Augenbraue.
»Durch dein Talent haben wir uns jetzt … verlaufen, richtig?«
»Jepp«, bestätigte er munter.
»Während wir gehen, bewegen wir uns also durch die Bibliothek und springen von einem Punkt zum anderen, auch wenn es sich anfühlt, als wanderten wir einfach nur einen Gang entlang.«
»Du hast es erkannt, Kleiner. Das muss ich dir zugestehen – du bist doch ein wenig cleverer als du aussiehst.«
Ich runzelte die Stirn. »Was hatte es dann für einen Sinn, Bastille den Weg vor uns prüfen zu lassen? Haben wir diesen Gang nicht verlassen, sobald du dein Talent aktiviert hast?«
Kaz erstarrte.
Im selben Moment hörte ich ein Klicken unter meinen Füßen. Entsetzt sah ich auf den Boden und musste feststellen, dass ich direkt auf einen Stolperdraht getreten war.
»Ach, zur Flügelnuss noch mal«, fluchte Kaz.