23 Uhr 40
Plötzlich schreckte ich hoch.
Ich wusste nicht mehr, wo ich war, und brauchte gut zehn Sekunden, bis ich den Keller wiedererkannte. Ich glaube nicht, dass ich geschlafen hatte, aber ich erwachte wie aus einem Alptraum.
Ich stand auf und blieb stehen, einfach so.
Ich wollte meine Mutter sehen.
Das war doch alles unmöglich.
Wie konnte ich hier sein und sie woanders!
Ich überlegte, ob ich zum Abschiebegefängnis gehen sollte.
Sie würde auf der anderen Seite des Gitters stehen wie meine Kumpels während der großen Pause.
Ich wollte sie nur sehen, wenigstens von weitem. Ihr zuwinken. Ihr zulächeln.
Ich stopfte das Buch von Rimbaud wieder in die Hose, nahm die Rose aus der Bierflasche und verließ den Keller.
Niemand war unterwegs. Weder in der Eingangshalle noch vor dem Wohnturm oder auf der Straße. Alles war verlassen, und so hatte ich weiterhin das Gefühl, im Traum zu sein.
Die Nacht ist der Schatten des Tages.
Man erkennt die Dinge, aber sie sind seltsam. Wohntürme, Grünflächen, Parkplätze, alles ist im Einvernehmen mit der Nacht, so scheint es. Tagsüber gehört das Viertel uns, nachts gehört es niemandem.
Ich ging Richtung Louise-Michel. Vorbei am Shopping-Center. Das war vielleicht seltsam, den Parkplatz ganz leer zu sehen. Nur die Einkaufswagen standen zusammengeschoben da. Die riesige blaue Leuchtschrift Carrefour schien auf den Boden, das war beinahe so, als wäre man am Meer.
Ich rannte los.
Hinter dem Carrefour gibt es Lagerhallen. Fabriken. Gebäude. Und jedes Mal, wenn ich vorbeigehe, sind neue dazugekommen.
Ich rannte in der Mitte der Straße. Bestimmt war ich noch nie so schnell gelaufen. Ich hatte die Fäuste geballt, und meine Brust schmerzte. Ich wollte den Wind spüren. Ganz schnell laufen und einen Sturm entfachen. Ich hätte mir gewünscht, dass es regnet. Dann hätte ich mein T-Shirt ausgezogen und wäre durch den Regen gerannt.
Das Louise-Michel-Viertel wird gerade gebaut. Überall stehen Kräne herum, und die noch nicht fertiggestellten Häuser sehen aus wie Skelette.
Ich sah die Lichter, sie leuchteten wie die Scheinwerfer im Stadion. Ich rannte auf die Lichter zu.
Bis zum Abschiebegefängnis.
Es gab kein Gitter wie in der Schule. Nur Mauern. Mauern, die mindestens hundert Meter hoch waren. In der Mitte führte eine Treppe bis zum Eingangstor. Ein großes Eisentor.
Ich setzte mich auf die Stufen. Mein Herz schlug wie wild, und ich war vollkommen außer Atem.
Ich wollte meine Mutter sehen.
Vielleicht war sie da drin, hinter mir.
Ich schaute auf das Viertel vor mir.
Wie auf ein Bild.
Ich dachte an meine Freunde. Ich sah sie, wie sie jeder in ihrem Zimmer schliefen. Ich dachte an den Riesenkerl in der Cité Berlioz. Ich sah ihn, wie er in einer schmutzigen Ecke lag. Ich dachte an Monsieur Roland. Ich sah ihn auf dem Bett sitzen und seiner Frau die Stirn streicheln. Ich dachte an Mélanie. An ihre rosigen Wangen. An ihre schönen, feinen Hände. Ich sah, wie sie mich küsste. Ich dachte an Henry. An seinen schwarzen Hügel, daran, wie er Erde durch die Finger rieseln ließ. Ich sah ihn, wie er mich sah. Da hob ich den Kopf, als wollte ich ihm zunicken.
Ich dachte an meine Mutter. Und obwohl sie hinter mir war, sah ich sie dort vorne, vor mir. Sie schaut mich an. Gibt mir einen Kuss. Hält mich im Arm. Wäscht mich. Lächelt mir zu. Spricht zu mir. Kämmt mich. Wartet, bis ich schlafe. Holt mich ab. Ich sah sie am Ausgang der Schule. Im Kino. Im Restaurant. Im Bus. Am Fenster ihres Schlafzimmers. An ihrem Frisiertisch. In ihrem Bett. Im Badezimmer. Ich sah sie gehen. Kochen. Einschlafen. Und lächeln. Mir zulächeln.
Und noch einmal.
Ich zog das Buch von Rimbaud heraus
Als ich es aufschlug, fiel die Bibliothekskarte heraus.
Ich hob sie auf.
Henry Traoré – Juli 2003.
Mein Bruder hatte dieses Buch ausgeliehen.
Ich legte die Rose auf eine der Stufen, neben mich.
Ich schlug das Buch auf der ersten Seite auf.
Und begann zu lesen:
Früher, ich weiß es noch genau, da war mein Leben ein Fest, wo alle Herzen aufgingen und der Wein in Strömen floss.
Eines Abends setzte ich mir die Schönheit auf den Schoß. – Und fand sie bitter. – Da verfluchte ich sie.
Ich wappnete mich gegen die Gerechtigkeit.
Ich floh. O Zauberinnen, Leiden, Hass, ausgerechnet euch wurde mein Schatz anvertraut!