19 Uhr 20
Es war Monsieur Roland, der mir öffnete.
Er erkannte mich nicht gleich, was mir einen Stich versetzte.
Ich musste ihm erst sagen:
»Guten Abend, Monsieur Roland … Ich bin’s, Charly … Der Sohn von Joséphine.«
Das war ihm dann ganz schön unangenehm. Er hat sich siebenhundert Mal entschuldigt. Das wäre doch nicht so schlimm, meinte ich, in seinem Alter würde ich bestimmt auch niemanden mehr erkennen.
Er bat mich herein und führte mich ins Wohnzimmer. Madame Roland saß auf dem Sofa und schaute fern. Monsieur Roland brüllte seiner Frau zu, dass sie Besuch hätten.
»Der kleine Charly ist hier … Der Sohn von Joséphine!«
Bestimmt hat er ihr das sicherheitshalber zugerufen, damit sie mich auch ja erkannte.
Madame Roland freute sich wie eine Schneekönigin, mich zu sehen, und Monsieur Roland genauso. Sie hätten die beiden sehen sollen, sie waren ganz aufgeregt, als wäre ich gerade aus dem Krieg zurückgekehrt. So wie man es immer im Film sieht.
Sie fragten mich, was ich trinken wollte, und ich antwortete »nichts«, weil ich weiß, dass man das sagen muss, um nicht als Bauernlümmel zu gelten. Aber Monsieur Roland ließ nicht locker, und so bat ich ihn schließlich um ein Glas Wasser, damit er Ruhe gab. Dazu musste er gar nicht in die Küche gehen, weil auf dem niedrigen Tisch ein Tablett mit einer Karaffe und sauberen Gläsern stand. Ich fand es cool, Wasser immer griffbereit zu haben. Das hatte Stil. Monsieur Roland schenkte erst mir ein riesiges Glas ein, dann seiner Frau. Ich sollte doch Platz nehmen, aber ich wusste nicht wo, denn bei den Rolands stehen zweitausend Sessel herum. Er selbst setzte sich neben seine Frau, also entschied ich mich für den Sessel gegenüber. Madame Roland stellte den Fernseher mit der Fernbedienung auf stumm, und ich dachte mir, dass sie sich ziemlich gut mit der Fernbedienung auszukennen schien, wenn sie den Knopf, mit dem man leise stellt, so schnell fand. Ich brauche stundenlang, um ihn zu finden. Jedenfalls waren auf einmal alle still, man kam sich vor wie im Wartezimmer. Monsieur und Madame schauten mich lächelnd an, was mir unangenehm war, es ist schließlich nicht immer leicht, sich auf Anhieb wohl zu fühlen.
»Geht es Ihnen gut, Madame Roland?«
»O ja, Charly, danke der Nachfrage.«
»Das freut mich!«
Sie schauten mich weiterhin an und lächelten und so.
»Und Ihnen, Monsieur Roland, geht es Ihnen auch gut?«
»Sehr gut … Und dir, Charly?«
»Geht schon so … Das Leben ist nicht immer ein Fest …«
»Und die Schule?«
»In der Schule läuft’s ganz gut … Ich habe achtzehn Punkte für meinen Aufsatz bekommen.«
»Gratuliere!«
»Schreibst du gern Aufsätze?«
»Das mache ich am allerliebsten in der Schule … Ich könnte Ihnen über ungefähr jedes Thema mindestens zehn Seiten schreiben!«
»Das ist ja toll!«
»Und in Mathematik?«
»Also, in Mathe bin ich, ehrlich gesagt, keine große Leuchte … Ich finde, dass die Sachen, die wir im Unterricht besprechen, zum Beispiel Brüche und so, gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Ich weiß nicht, was mir das für später bringen soll.«
»Weißt du denn schon, was du einmal werden willst?«
»Noch nicht, aber ich denke die ganze Zeit daran, das können Sie mir glauben! Wahrscheinlich irgendwas, das mit Aufsätzen zu tun hat.«
»Dann tust du gut daran, dich auf Französisch zu konzentrieren.«
»Klar.«
Ich nahm einen Schluck Wasser, nur einen kleinen, ich wollte das Glas nicht in einem Zug hinunterstürzen wie ein Wilder.
»Bist du hergekommen, um uns etwas von deiner Mutter auszurichten?«
Als ich Monsieur Roland das sagen hörte, wurde mir das Herz schwer. Ich brachte kein Wort hervor, ich fühlte mich unfähig, zu sprechen. Ich spürte einen enormen Druck auf der Brust. Als würde ich die Last der Welt tragen.
Zum Glück sagte Madame Roland gleich etwas:
»Ja, sie ist heute nicht gekommen, wir machen uns Sorgen … Es ist das erste Mal … und gar nicht ihre Art, uns nicht zu verständigen … Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes?«
»Nein … Es ist nur … Sie ist krank … Ja, genau. Sie ist echt krank. Sie liegt im Bett und hat mindestens fünfzig Grad Fieber.«
»Habt ihr einen Arzt gerufen?«
»Ja, der ist auch gekommen.«
»Und?«
»Er sagt, sie hätte … eine richtige … eine sehr seltene Grippe … Deswegen kann sie auch nicht sprechen … oder anrufen …«
»Die Ärmste!«
»Genau … Sie hat nur für fünf Sekunden die Augen aufgemacht und gesagt: ›Charly … Mein Sohn … Geh zu den Rolands … Benachrichtige sie … Und sei nett zu ihnen … Sie sind schon sehr alt …‹«
Die Rolands haben vielleicht ein Gesicht gemacht, als ich das gesagt habe. Wieso ich auch immer so übertreiben muss, ich kann es einfach nicht lassen.
»Es ist wirklich nett, dass du uns benachrichtigst, Charly.«
»Ach, das ist doch selbstverständlich. Sobald es ihr besser geht, kommt sie wieder zu Ihnen, oder sie ruft Sie an.«
»Sag ihr gute Besserung!«
»Mach ich … Und wie kommen Sie so lange ohne sie klar?«
»Unsere Tochter sucht jemanden für uns.«
»Wenn Sie wollen … heute Abend könnte ich Ihnen helfen.«
»Nein, mach dir keine Sorgen, wir kommen schon zurecht.«
»Vielleicht haben Sie ja Hunger … Ich kann kochen wie ein Weltmeister.«
Monsieur Roland hat sich kaputtgelacht.
»Aha, und was kannst du kochen?«
»Alles Mögliche, Monsieur Roland … Meine Mutter hat es mir oft gezeigt.«
»Na schön, wenn du etwas zu essen machen willst, freuen wir uns, aber unter einer Bedingung!«
»Und die wäre?«
»Dass du zum Essen bei uns bleibst.«
»Gern!«
Die Rolands schienen sich wirklich sehr zu freuen, dass ich bei ihnen zum Essen bleiben wollte. Dass ich ihnen etwas kochen würde, war gar nicht das Entscheidende. Ich glaube, sie fanden es ziemlich gut, dass ein Junge in meinem Alter sich genau dann um sie kümmerte, wenn seine Mutter es nicht konnte.
Madame Roland stellte den Fernseher wieder laut, und ihr Mann nahm mich mit in die Küche, damit ich loslegen konnte.
»So, Charly, die Sachen sind hier im Kühlschrank und in den Schränken da.«
»Okay.«
»Wenn du eine Schürze umbinden möchtest, um dich nicht schmutzig zu machen – es hängen welche in der Speisekammer.«
Ich wusste nicht, was eine Speisekammer war, aber ich begriff, dass er von dem kleinen Raum am Ende der Küche sprach. Ich nahm eine Schürze vom Haken und band sie mir um, so gut es ging – ich konnte mich zwei Mal hineinwickeln.
»Ich geh mal in den Keller und hole einen Wein, Charly.«
»Soll ich gehen, Monsieur Roland?«
»Sehr lieb, aber das ist etwas, das ich selbst sehr gern tue!«
»Verstehe.«
»Was für einen Wein magst du?«
Ich war platt, denn Wein hatte ich noch nie getrunken, er musste ziemlich gaga sein, einen Jungen in meinem Alter so was zu fragen. Andererseits wollte ich nicht als Stoffel gelten und sagte daher:
»Was Sie mögen, mir schmeckt alles.«
Jetzt war ich allein in der Küche. Blöd war nur, dass ich ihnen vorhin den Bären aufgebunden hatte, ich könnte kochen und so. In Wirklichkeit habe ich keine Ahnung davon. Ehrlich gesagt schaffe ich es nicht mal, Milch über meine Frühstücksflocken zu gießen.
Ich öffnete die Schränke, um zu sehen, ob ich etwas fand. Ich nahm eine Packung Nudeln und eine Packung Reis heraus. Das schien nicht so kompliziert zu sein, stand ja alles drauf. Man musste nur das Wasser zum Kochen bringen, nach Geschmack ein wenig Salz hinzugeben, die Nudeln und den Reis reinschütten und ein paar Minuten warten, bis alles gar war. Danach konnte man Käse dazugeben, Tomaten und einen Haufen anderer Sachen, stand auf der Packung.
Es gibt nichts Blöderes, als darauf zu warten, dass das Wasser kocht.
Ich hatte es nicht fertiggebracht, den Rolands zu sagen, was meiner Mutter wirklich zugestoßen war. Mit meinen Kumpels war es mir genauso gegangen. Und mit Mélanie. Ich verstand, was Henry mir eben oben auf dem Berg hatte sagen wollen. Das mit der Angst und der Scham. Genau die empfand ich nämlich. Wie ein Holzsplitter in der Haut, der mir keine größeren Beschwerden bereitete, den ich aber ständig spürte. Im Bauch saß die Angst und im Herzen die Scham. Und bei jedem Herzschlag wurde ein bisschen von dieser Scham in meinen übrigen Körper geschwemmt.
Mélanie hatte den Schmerz ein wenig betäubt, sie war sozusagen mein Gegenmittel. Mir fiel ein, dass ich mir ein Wort ausdenken musste, um auszudrücken, wenn einem jemand die Aufregung nimmt.
Das andere war, dass meine Mutter der Frau auf dem Amt von niemandem erzählt hatte. Sie ist stolz, sagt Henry immer. Und auf dem Sofa der Rolands war mir nicht danach gewesen, sie zu verraten. Oder ich hatte nicht den Mut dazu gehabt. Vielleicht würde man sie ja morgen aus dem Abschiebegefängnis entlassen, oder in ein paar Tagen.
Gerade so lange, wie es brauchte, um diese schlimme Grippe auszukurieren.
Ich schüttete die Nudeln und den Reis ins sprudelnde Wasser, was ich sofort bereute, als ich merkte, dass beides nicht dieselbe Kochzeit hatte. Ich überlegte, was ich tun sollte. Es bot sich nicht gerade an, den Reis als Erstes herauszunehmen. Ich hatte wenig Lust, konnte ja schlecht jedes Reiskorn einzeln herausklauben. Ich wählte die goldene Mitte und entschied mich für eine Zeit dazwischen. Da ich weder eine Armbanduhr noch sonst was dabeihatte, zählte ich im Kopf. Das mache ich oft: Ich schaue auf eine Wanduhr und übernehme den Takt des Sekundenzeigers. Dann schließe ich die Augen, zähle eine Minute lang, mache die Augen nach neunundfünfzig Sekunden wieder auf und schaue, ob ich da bin, wo der Sekundenzeiger ist. Meistens liege ich nur zwei, drei Sekunden daneben. Wenn ich es genau treffe, finde ich mich großartig.
Ich ging ins Wohnzimmer, wo Madame Roland noch immer vor dem Fernseher saß und die Nachrichten schaute.
»Verzeihung, Madame Roland, wo soll ich den Tisch decken?«
»Hier, Charly, Besteck findest du in der Anrichte.«
»Danke schön.«
Ich zählte im Stillen weiter.
»Soll ich dir zur Hand gehen?«
»Bleiben Sie nur sitzen, ich mach das schon.«
Ich nahm drei Teller, das Besteck, Servietten und drei Gläser.
»In zwei Minuten können wir essen.«
»Sehr gut, Charly, ich rufe Georges, dann können wir uns zu Tisch setzen.«
Ich ging wieder in die Küche, um nach den Nudeln zu sehen. Ich zählte weiter, aber es war gar nicht so einfach, sich zu konzentrieren, weil ich gerade erfahren hatte, dass Monsieur Roland Georges hieß und ich Lust hatte, darüber nachzudenken.
Ich holte ein Päckchen geriebenen Käse und zwei Tomaten aus dem Kühlschrank. Die Tomaten schnitt ich in Viertel. Als ich aufhörte zu zählen, hatte ich das Gefühl, mich um eine Minute geirrt zu haben. Es hätten sieben sein sollen, aber ich wusste nicht mehr, ob ich bis sechs gekommen war. Oder bis acht. Ich entschied mich wieder für den goldenen Mittelweg und ließ alles noch dreißig Sekunden kochen.
Monsieur Roland kam in die Küche und suchte nach einem Korkenzieher für seinen Superwein.
»Na, was gibt es denn zu essen, Charly?«
»Sie werden sehen, eine Köstlichkeit – eine meiner Spezialitäten!«
Ich muss immer noch einen drauflegen.
Ich suchte nach dem Dingsbums, um die Nudeln abtropfen zu lassen.
»Monsieur Roland, wo bewahren Sie denn den Durchstoß auf?«
»Den Durchstoß? Du meinst wohl den Durchschlag!«
»Ja, genau!«
»In dem Schrank da.«
Ich nahm das Sieb, stellte es in die Spüle und kippte die Nudeln und den Reis hinein. Was mir nicht so gefiel, war, dass alles zusammenpappte. Es ähnelte mehr einer dicken Pampe als dem, was ich beim Kochen eigentlich im Sinn gehabt hatte. Ich nahm eine Platte aus dem Schrank, die ich ganz schön fand, und breitete die Pampe darauf aus, damit nicht alles als fetter Klumpen in der Mitte lag. Nur, als ich den geriebenen Käse darüberstreute, wurde es richtig übel. Es bildete sich wieder ein Klumpen, und der sah scheußlich aus. Ich rammte die Tomatenviertel hinein und ging ins Wohnzimmer hinüber.
Die Rolands saßen schon am Tisch. Als sie mich mit der Platte hereinkommen sahen, riefen sie freudig:
»Ah, unser kleiner Meisterkoch!«
»Riecht ja köstlich!«
Als ich die Platte auf den Tisch stellte, verstummten sie. Wahrscheinlich fragten sie sich, was das wohl war. Ich sagte es ihnen daher gleich:
»Das sind Nudeln mit Reis …«
Den Namen des Gerichts laut auszusprechen hatte gereicht, um mir klarzumachen, dass es grauenhaft schmecken würde. Ich hatte das Gefühl, ich müsste meinem Gericht unbedingt einen Namen geben. Sie wissen ja, wie das läuft: Wenn etwas einen super Namen hat, finden alle es großartig, nur weil der Name super ist. Ich fand auch gleich einen.
»Es heißt Neis.«
»Nice? So wie im Englischen?«
»Ja, genau. Nice! Das ist im Moment sehr in Mode, die Leute wollen nichts anderes.«
Ich tat den Rolands auf und gab ihnen je eine Tomate. Ich bediente mich auch, nahm aber etwas weniger, damit noch etwas übrigblieb. Monsieur Roland schenkte seiner Frau Wein ein, und was mich beinahe umgehauen hat, war, dass er auch mein Glas vollmachte.
Madame Roland war ganz genauso verblüfft:
»Glaubst du nicht, dass er noch ein wenig zu jung ist, um Wein zu trinken?«
»Ein Gläschen hat noch niemandem geschadet!«
Ich wollte nicht, dass sie dachten, ich hätte Bammel.
»Lassen Sie nur, Madame Roland, ich trinke öfters mal ein bisschen Wein.«
»In seinem Alter habe ich jeden Tag Wein getrunken!«
»Georges!«
»Und oft war ich so breit, dass ich nicht mehr ins Bett passte!«
»Das bist du heute noch, in deinem Alter!«
Die beiden Rolands lachten wie verrückt. Wären Sie dabei gewesen, Sie hätten sich auch schiefgelacht.
Die beiden begannen zu essen, und ich beobachtete sie ein wenig aus den Augenwinkeln, um zu sehen, ob es ihnen schmeckte. Sie machten kein angewidertes Gesicht oder so. Das bestärkte mich wieder ein wenig. Ich aß selbst einen Bissen und stellte fest, dass die Rolands wirklich die nettesten Menschen der Welt waren: Es schmeckte einfach zum Kotzen. Als würde man weiches Plastik mit Salz und einer Tomate essen. Ich bemerkte, dass die Rolands nach jedem Bissen einen Schluck Wein tranken. Das machte ich auch, um das Plastikzeug runterzubekommen. Ehrlich gesagt schämte ich mich und warf mir vor, die beiden Alten zu vergiften.
Nach einer Weile begann Monsieur Roland zu husten. Er hörte gar nicht mehr auf, also sagte seine Frau zu ihm, er sollte doch was trinken, aber er hustete immer weiter, und die Tränen stiegen ihm in die Augen. Es war wirklich beeindruckend. Und dann ging er vom Husten zum Lachen über. Mann, er krepierte förmlich vor Lachen. Da fing Madame Roland ebenfalls an zu lachen. Es dauerte gut zwei Minuten, und schließlich konnte auch ich mich nicht mehr halten. Sie wissen, wie das ist, wenn andere wie blöd lachen, stecken sie einen oft selber an.
Monsieur Roland versuchte mir etwas zu sagen:
»Mein kleiner Charly … Ich … Ich wäre nicht … dein Freund … wenn ich dir nicht gestehen würde … dass dieses Essen … abscheulich schmeckt!«
Und sie fielen bald vom Stuhl vor Lachen.
Madame Roland prustete:
»Es ist … widerlich!«
Sie schütteten sich aus vor Lachen.
Ich lachte auch und spürte, wie mir die Tränen kamen. Sie waren mir nicht böse, das sah ich, im Grunde gefiel es ihnen sogar, dass ich das Essen derart versaut hatte. Sie hatten nicht viel zu lachen, und so kosteten sie die Gelegenheit voll aus.
Madame Roland stand auf, immer noch lachend.
»Ich hole uns etwas Käse.«
Monsieur Roland rief ihr hinterher:
»Und vergiss nicht, den Reis dazuzutun!«
Sie haben wirklich einen unglaublichen Humor, nur allzu sensibel darf man da nicht sein.
Wir beendeten das Essen, das uns dann doch noch schmeckte, weil es superleckeren Käse gab. Monsieur Roland bestellt ihn von einem Bauernhof in der Normandie. Am liebsten mag ich Ziegenkäse. Wenn der so cremig ist, wie er sein soll, könnte ich eine ganze Tonne davon essen.
Danach ging ich in die Küche, um Obst zu holen. Es gab einen ganzen Korb voll. Orangen. Bananen. Äpfel. Birnen. Und Clementinen. Auch das Obst schmeckte superlecker. Süß wie Bonbons. Allerdings mag ich Obst zum Nachtisch nicht so sehr. Mir ist Kuchen lieber, oder Crêpes, oder ein Joghurt. Aber ich habe festgestellt, dass alte Leute oder Eltern nach dem Essen oft Obst zu sich nehmen. Vielleicht mache ich das ja eines Tages auch so.
Madame Roland ging Kaffee machen, und sie fuhren ein wunderbares Service auf. Auf jede Tasse war ein Miniaturwald gepinselt. Es war so supergut gemacht, dass man sich fragte, wie der Typ wohl so kleine Blätter hatte malen können. Monsieur Roland bestand darauf, dass ich eine Tasse Kaffee trank. Seine Frau war nicht so überzeugt, aber er sagte zu ihr, in meinem Alter hätte er mindestens einen Liter pro Tag getrunken. Ich glaube, es machte ihm Spaß, mich Erwachsenensachen picheln zu sehen.
»Er wird keinen Kaffee trinken, er hat doch schon Wein gehabt!«
»Eben drum, das bringt ihn wieder auf die Beine!«
»Machen Sie sich keine Gedanken, Madame Roland, ich mag Kaffee sehr gern.«
Noch dazu fing ich allmählich an, den Wein zu spüren. Mir war ein wenig schwindlig, und ich musste ständig den Wald anstarren, der auf die Tasse gemalt war, und an Kaspar Hauser denken.
Die Rolands beratschlagten, was sie im Fernsehen anschauen wollten. Madame Roland war für einen alten Film, der auf Kanal 5 lief, und Monsieur Roland für eine Reportage über Wale auf Kanal 3. Sie haben ganz schön miteinander gezetert. Monsieur Roland wollte nichts von dem Film wissen, den hatte er angeblich schon hundert Mal gesehen, und Madame Roland waren Wale und sonstiges Fischzeugs schnuppe.
Sie einigten sich schließlich auf den alten Film. Monsieur Roland maulte noch ein wenig vor sich hin, aber nicht sehr. Dann fragte er mich, ob ich den Film mit ihnen zusammen anschauen wollte. Seine Frau meinte jedoch, es wäre schon spät und meine Mutter würde sich bestimmt Sorgen machen. Ich antwortete, die läge sowieso im Koma, ich könnte schon noch ein bisschen bleiben. Und so einen alten Schinken würde ich mir gern mit ihnen anschauen.
Sie setzten sich aufs Sofa, und ich deckte den Tisch ab. Sie waren ganz aus dem Häuschen, weil ich so nett war. Ich selber war ja auch ganz aus dem Häuschen. Wenn man Sitzreihen aufgestellt und alle Leute, die ich kenne, daraufgesetzt hätte – ganz vorne natürlich meine Mutter –, dann hätte man mir garantiert applaudiert.
Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, hatten sie das Licht ausgemacht, man hätte meinen können, man wäre im Kino. Es sah aus, als würden sie das öfter so machen: Monsieur Roland saß im Sessel, und seine Frau hatte sich mit einer Wolldecke auf dem Sofa ausgestreckt.
Der Film hatte schon begonnen, und daher kann ich Ihnen den Titel nicht sagen. Es war ein Schwarzweißfilm, der vor einer Ewigkeit spielte, wie es schien. Grob gesagt ging es um eine Frau, die mit einem Offizier verheiratet war und sich in einen italienischen Baron verliebte. Ihre Liebe konnte aber nichts werden, weil der Offizier ein wahnsinnig mächtiger Mann war und die Jungs aus der Armee damals wie Stars behandelt wurden.
Der Offizier wollte sich den Baron vorknöpfen, doch der war nicht so scharf darauf. Angeblich, weil er Pazifist war, doch ich glaube eher, weil er ein Heuchler war. Jedenfalls ging er wieder zurück in sein Land.
Am Ende zerbricht die Frau an ihrem Kummer, und das ging uns doch ziemlich an die Nieren.
Der Film war ehrlich gesagt super, ich hätte mich wahrscheinlich ein bisschen geschämt, ihn zusammen mit meinen Kumpels anzuschauen, aber ich bin sicher, er hätte ihnen genauso gefallen.
Nach dem Abspann hat Monsieur Roland das Licht wieder angemacht, und da sah man, dass Madame Roland auf dem Sofa eingeschlafen war.
»Glauben Sie, dass sie schon lange eingeschlafen ist?«
»Oh, von Anfang an … Sie schläft gern hier ein … Kannst du mir helfen, sie ins Schlafzimmer zu bringen?«
Ich stand auf, um Monsieur Roland zu helfen. Mir war bloß nicht klar, wie ich ihm beim Tragen helfen sollte. Wir konnten sie ja schlecht an Armen und Beinen packen.
»Ich werde sie tragen, und du, Charly, machst mir die Türen auf.«
Monsieur Roland hob seine Frau hoch, und ich staunte Bauklötze, dass er das in seinem Alter schaffte. Und selbst wenn sie nicht so schwer war, musste er Bärenkräfte haben. Ich ging voraus, und Monsieur Roland flüsterte mir zu, welche Tür ich öffnen sollte.
Im Zimmer angekommen, knipste ich eine kleine Lampe auf dem Nachttisch an.
»Schlag die Laken zurück, Charly.«
Monsieur Roland legte seine Frau ganz sanft aufs Bett. Man sah genau, dass er das oft machte. Er deckte sie zu und gab ihr ein Küsschen auf die Stirn. Ich sagte mir, dass ich sie jetzt wohl besser allein ließ.
Ich war schon an der Tür, als Madame Roland murmelte:
»Charly …«
Ich flüsterte auch:
»Was denn, Madame Roland?«
»Nimm eine Rose mit für Joséphine, sie wachsen an der Veranda.«
»Mach ich. Gute Nacht!«
Ich verließ das Zimmer, blieb aber noch kurz im Flur stehen, um Monsieur Roland und seiner Frau zuzusehen.
Er streichelte ihr die Wange und gab ihr viele Küsschen auf die Stirn.
Als ich die beiden so sah, musste ich an meine Mutter denken und daran, wie sie mich abends ins Bett brachte. Ich bekomme auch immer ein paar Streicheleinheiten. Früher erzählte mir meine Mutter außerdem noch eine Geschichte. Es waren Geschichten, die sie in Mali gehört hatte, als sie klein war, und die sie etwas abänderte, damit sie in unsere Cité passten. Meistens handelten sie von einem kleinen Jungen, der seine Familie vor einem grausamen Mann beschützen musste.
Als ich älter wurde, haben wir darüber geredet, was wir erlebt hatten oder was am nächsten Tag anstand, oder über den Film, den wir am darauffolgenden Samstag anschauen wollten. Meine Mutter hatte nämlich im Fernsehen gehört, dass man seinen Kindern etwas Positives vor dem Einschlafen erzählen soll, und dann noch mal beim Aufwecken. Den Mann könnte ich heute noch umarmen, denn selbst wenn ich etwas angestellt habe und meine Mutter mir den ganzen Tag böse ist, weiß ich, dass sie mir am Abend etwas Schönes erzählen wird.
Und es stimmt übrigens, dass es immer etwas Schönes gibt, das einen am nächsten Tag erwartet.
Monsieur Roland kam aus dem Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu.
»Komm, Charly …«
Wir gingen zurück ins Wohnzimmer. Er setzte sich in seinen Sessel, und ich nahm wieder ihm gegenüber Platz.
»Ist es nicht schon zu spät, um zurückzufahren?«
»Och, machen Sie sich keine Sorgen, die Bahnen fahren noch bis Mitternacht.«
»Es ist gut, wenn man sich durchschlagen kann, obwohl man noch klein ist – je früher, desto besser.«
»Mussten Sie sich auch durchschlagen, als Sie so alt waren wie ich, Monsieur Roland?«
»Damals war Krieg … Paris war besetzt … Man musste schon ganz schön auf Draht sein damals …«
»Und kannten Sie Madame Roland schon?«
»Nein, aber ich habe sie bald danach kennengelernt.«
»Wie alt waren Sie da?«
»Damals war ich sechzehn. Das ist jetzt achtundfünfzig Jahre her.«
Ich versuchte mir auszurechnen, wie alt er jetzt war, aber wir waren mitten in einem Gespräch, und daher war das gar nicht so einfach.
»Und haben Sie sie sofort geliebt?«
»O ja! Sie kam vom Land, ihre Tante wohnte bei uns im Haus, und sie verbrachte ihre Ferien bei ihr und ihren beiden Cousinen … Das Problem war nur, dass ihre Cousinen mich nicht besonders mochten …«
»Weshalb?«
»Weil … ich ein kleines Abenteuer mit ihnen gehabt hatte.«
»Mit beiden?«
»Ganz genau.«
»O Mann, Sie haben ja nichts anbrennen lassen, Monsieur Roland!«
»Aber ich schwöre dir, als ich Sonia gesehen hatte, war ich nicht mehr derselbe!«
»Ach, das verstehe ich.«
Monsieur Roland ergriff meine Hand.
»Weißt du, Charly, man muss lieben … Im Leben muss man lieben, und zwar sehr. Man darf niemals Angst haben, zu sehr zu lieben. Das ist wahrer Mut! Sei niemals egoistisch, was dein Herz angeht. Wenn es voller Liebe ist, dann zeig das auch. Lass dein Herz aus dir heraus und zeig es aller Welt … Es gibt nicht genügend mutige Herzen … Es gibt nicht genügend Herzen, die ganz nach außen gekehrt sind. Ich rede hier von deinem persönlichen Glück … Damit dein Leben schön wird, musst du so stark wie möglich lieben. Und habe niemals Angst zu leiden. Verachte diejenigen, die dich warnen wollen. Sie werden weniger glücklich sein als du. Diejenigen, die den Schmerz fürchten, glauben nicht an das Leben … Wenn du jedoch einem liebenden Herzen begegnest, folge ihm, mach es zu deinem Freund, lerne von seinem Beispiel, damit dein eigenes erfüllt wird! Verstehst du, Charly … Was auch geschieht, sieh zu, dass dein Herz immer voll ist. Pass auf dein Herz auf …«
»Mach ich, Monsieur Roland.«
Er stand auf.
»Du solltest jetzt besser nach Hause gehen.«
»Ja, stimmt, ich muss dann mal los.«
Ich stand ebenfalls auf.
»Nimm deiner Mutter eine Rose von der Veranda mit. Ich warte in der Diele, um hinter dir abzuschließen.«
Ich trat auf die Veranda, da blühten mindestens fünftausend Rosen, in allen Farben.
Ich suchte diejenige aus, die am rötesten war.
Dann ging ich in die Diele, wo Monsieur Roland wartete, im ganzen Haus brannte nur noch hier das Licht.
»Auf Wiedersehen, Charly.«
»Auf Wiedersehen, Monsieur Roland.«
»Sag Joséphine, sie soll auf sich aufpassen!«
»Mach ich.«
»Bist du sicher, dass noch Bahnen fahren?«
»Ganz sicher.«
»Ich kann dich auch nach Hause begleiten, weißt du.«
»Nein, machen Sie sich keine Umstände, wir sind ja schließlich nicht im Krieg!«