17 Uhr 20

 
 

Als Madame Renoir in ihrem Haus verschwand, war ich plötzlich traurig. Ich hätte mich gerne noch weiter mit ihr unterhalten. Ich war schüchtern in ihrer Gegenwart, aber ich fühlte mich auch wohl. Sie war ein Stückchen Mélanie.

Das Stückchen, das ihr am nächsten war.

Ich blieb auf dem Bürgersteig sitzen. Wollte nicht aufstehen. Die Straße ist nicht schön, aber ich fühlte mich geborgen. Wie in der elektrischen Hütte mit Freddy Tanquin oder wenn ich den Kopf zwischen die Knie zwänge, damit es komplett dunkel wird.

Ich zog die Knie an und steckte den Kopf dazwischen. Es ging kein Wind mehr wie vorhin oben am Berg mit Henry. Trotzdem hab ich geschnauft.

»Hallo.«

Ich hob überrascht den Kopf.

Vor mir stand – Mélanie.

»Meine Mutter hat mir gesagt, dass du hier bist.«

»Ja, ich … Ich war gerade in der Nähe.«

»Was treibst du hier?«

»Nichts … Wie gesagt, ich war in der Nähe und bin hier vorbeigekommen, auf dem Weg nach Hause … Ich mache gerade eine Pause.« Heuchlerisch erkundigte ich mich: »Wohnst du dort?«

»Ja, genau. In dem Haus da drüben.«

Sie deutete auf das Einfamilienhaus, das ich in- und auswendig kannte, und um meine Blödheit noch zu toppen, stand ich auf, damit ich es besser sehen konnte.

»Das ist aber ein schönes Haus!«

»Ich habe schon immer dort gewohnt … Und mein Großvater, der wohnt da.«

Sie deutete auf das Einfamilienhaus gegenüber, aber ich wusste natürlich längst, dass der alte Mann zu ihrer Familie gehörte.

»Ja, ich habe ihn vorhin gesehen, als er die Äste von dem Baum abgeschnitten hat.« Ich traute mich nicht, abzweigen zu sagen. »Das muss super sein, wenn der Großvater gleich nebenan wohnt.«

»Ja … aber er ist jetzt schon sehr alt.«

Es klang traurig. Bestimmt hing sie sehr an ihm.

»Bei mir lebt niemand von der Familie gleich um die Ecke … Na ja, mein Bruder und meine Mutter, aber wir wohnen zusammen.«

»Ich lebe mit meiner Mutter und meiner Schwester zusammen …«

»Hast du keinen Vater?«

»Nein … Na ja, doch … Aber der ist vor langer Zeit abgehauen.«

»Meiner ist auch vor langer Zeit abgehauen … Verstehst du dich gut mit deiner Schwester?«

»Nicht so sehr … Sie ist älter und glaubt immer, dass sie sich deswegen alles herausnehmen kann.«

»Das kenn ich, mein Bruder macht mich dauernd zur Schnecke.«

»Wie gemein.«

»Find ich auch.«

Mélanie war wirklich super. So wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Oft bin ich nämlich enttäuscht. Ich denke mir einen ganzen Film über die Leute aus, und wenn ich fünf Minuten mit ihnen geredet habe, merke ich, dass es nur Fernsehen war.

Aber Mélanie war anders. Besonders. Vor allem, als sie zu mir sagte:

»Warum bist du heute nicht zur Schule gekommen?«

Ich war völlig perplex.

»Weil … Woher weißt du, dass ich heute nicht da war?«

»Ich hab dich gar nicht mit deinen Freunden in der Kantine gesehen.«

Stimmt schon, wir setzten uns jeden Tag an denselben Tisch. Aber es war trotzdem schön, dass ihr meine Abwesenheit aufgefallen war.

Ich hatte Lust, sie zu fragen, ob sie mich in der Kantine manchmal beobachtete. Ob sie tagsüber an mich dachte. Und was für ein Bild ihr dabei zuerst vor Augen kam.

»Ich hatte ein Problem heute Morgen, ich konnte nicht zur Schule kommen.«

Mélanie schaute zu ihrem Großvater hinüber, der mit einer Gießkanne aus dem Haus trat.

»Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.«

Ich hatte keine Lust, ihr zu erzählen, was mir passiert war. In meinem Herzen geschahen gerade so viele Dinge. Und ich wollte nicht, dass sie sich mit all dem anderen vermischten. Alles sollte an seinem Platz bleiben.

»Nein, es ist nichts weiter.«

»Sollen wir eine kleine Runde drehen?«

»Ja, gern, wenn du möchtest.«

Wir liefen ein Stück die Straße entlang. Die schönste Runde meines Lebens war das. Vor allem, weil wir sehr langsam gingen. Ich stellte fest, dass ich Mélanie noch nie so nahe gekommen war – im Stehen. Die wenigen Male, die wir miteinander geredet hatten, saßen wir. Mélanie war so groß wie ich, vielleicht sogar ein oder zwei Zentimeter größer. Die meisten Jungs finden das doof. Ich finde es besser so.

»In zwei Wochen feiere ich meinen Geburtstag … Am übernächsten Samstag … Du kannst kommen, wenn du magst.«

»Okay, dann komme ich …«

Eine Frau lief uns entgegen, die offenbar gerade nach Hause zurückkehrte.

»Guten Tag, Mélanie.«

»Guten Tag, Madame Levanter.«

Ich sagte ebenfalls guten Tag.

Und Mélanie:

»Charly … Madame Levanter.«

Beinahe wäre ich in Ohnmacht gefallen. Sie hatte meinen Namen gesagt. Und noch dazu den richtigen. Diesen Augenblick zusammen mit Mélanie verbringen zu dürfen gab mir das Gefühl, an ihrem Leben teilzuhaben. Er hätte ewig dauern können.

Wir liefen bis zu einem kleinen Platz, den ich nicht kannte. Es war nicht die Place des Vosges, aber verglichen mit all den anderen in der Cité war er trotzdem sehr schön.

Wir setzten uns auf eine Bank.

Da ich einerseits nicht wollte, dass der Augenblick zu Ende war, ich andererseits jedoch ein Problem damit habe, für immer in der Gegenwart zu verharren, musste ich sie fragen:

»Darfst du raus, wann und wie lange du willst?«

»Na ja, nicht wirklich, vor allem, wenn wir am nächsten Tag Schule haben.«

»Aber ein bisschen kannst du noch bleiben?«

»Ein bisschen schon, aber dann muss ich wieder nach Hause.«

Das tat mir weh. Und ich hasste mich dafür, dass ich gefragt hatte. Immer muss ich diese bescheuerten Fragen stellen.

»Und du, lässt deine Mutter dich raus?«

»Na ja, geht so … Aber auch nicht allzu oft.«

Es war schrecklich. Weil ich doch wusste, dass ich nicht nach Hause zurückkehren konnte. Bestimmt musste ich die Nacht irgendwo anders verbringen. Vielleicht die ganze Woche. Meine ganze Kindheit.

Außerdem hatte ich gelogen, meine Mutter wollte nicht, dass ich nach der Schule auch nur eine einzige Minute irgendwo herumhing. Sie hatte meinen Tagesablauf immer fest im Griff.

Da Mélanie nach Hause musste und ich es hasse, mit jemandem zu sprechen, wenn ich weiß, dass man sich gleich von ihm verabschieden muss, versuchte ich cool zu sein. Auch um die bescheuerten Fragen wieder auszubügeln, die ich zuvor gestellt hatte:

»Sollen wir gehen?«

»Okay.«

Wir standen auf. Ich war ganz und gar nicht glücklich, denn ich wusste, dass sie in ein paar Minuten nicht mehr da sein würde. Ich würde allein durch diese Straße gehen und wahrscheinlich allein zu diesem Platz zurückkehren.

Sie hatte mich zwar zu ihrem Fest eingeladen, aber das kam mir tausend Jahre weit weg vor. Ich wollte mich mit vollem Herzen von ihr verabschieden – voll mit neuen Bildern und den Dingen, die wir einander erzählt hatten.

Nur noch wenige Meter trennten uns von ihrem Haus. Deshalb dachte ich an meine Mutter. Um traurig zu sein. Um Mut zu fassen. Kummer macht einen stark. Sonst wäre ich an diesem Nachmittag niemals zu Mélanie gegangen.

»Hast du einen Freund?«

Sie lächelte. So als hätte sie gewusst, dass ich sie das fragen würde.

»Wie meinst du das, einen Freund?«

»Einen festen Freund.«

»Nein.«

»Es gibt niemanden, der dir gefällt?«

»Warum fragst du mich das?«

»Nur so.«

»Ich habe keine Lust, darauf zu antworten.«

Ich sagte nichts mehr, weil das eh schon eine Frage zu viel gewesen war. Und weil mir ihre Antwort gefallen hatte. Es war weder ein Nein noch ein Ja.

»Und du?«

»Was?«

»Hast du eine feste Freundin?«

»Nein.«

»Aber es gibt jemanden, der dir gefällt.«

»Ich habe keine Lust, darauf zu antworten.«

Also ehrlich, manchmal bin ich nicht ganz dicht.

»Du machst es dir ja einfach!«

»Womit?«

»Indem du mir nur alles nachplapperst.«

»Und warum sollte ich antworten, wo du es ja auch nicht tust?!«

»Du hast recht.«

Mélanie ist fünfzig Jahre älter als ich. Sie fragt nie etwas, oder erst, nachdem ich es sie gefragt habe.

Inzwischen standen wir am Gitterzaun ihres Hauses.

Wir sahen uns an, und mir fiel auf, dass ihre Wangen noch nie so rosafarben waren.

»So, ich geh jetzt wieder rein.«

»Klar.«

Wir gaben uns einen Kuss auf die Wange. Unsere Wangen glühten.

»Salut.«

»Salut.«

Sie hatte mir schon den Rücken zugekehrt.

»Mélanie …«

»Ja …?«

»Weißt du, gerade, als wir darüber gesprochen haben, ob … Na ja … es gibt da jemanden, der mir gefällt.«

Sie lächelte.

»Bei mir auch … Es gibt da jemanden, der mir gefällt.«

Und da wusste ich, dass ich es bin.

Ich wusste es. Ich wusste es. Ich wusste es.

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman
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