12 Uhr 15
Als ich die Bibliothek betrat, sah der Mann hinter dem Tresen nicht einmal auf. Das ist dort so. Bibliotheken sind wie Kirchen, man hat still zu sein.
Ich steuerte direkt auf den großen Lesesaal zu, wo die meisten Bücher stehen. Vor dem Mann am Eingang wollte ich so tun, als ginge ich hier täglich ein und aus. Er ist ein städtischer Angestellter, und auch wenn die einen nicht festnehmen können, haben sie auf mich eine Wirkung wie Polizisten. Ich legte mir also zurecht, dass ich, sollte er nachhaken, weshalb ein Junge in meinem Alter um diese Zeit nicht in der Schule ist, ihm antworten würde, dass ich in der Mittagspause lieber hierher käme als in der Kantine zu essen. Um mir Bücher anzugucken, so unersättlich wäre ich nämlich, was das Lesen angeht.
Von dem großen Lesesaal führen viele Türen in weitere kleine Räume, wo Tische und Stühle stehen, damit die Leute sich hinsetzen und in ihre Lektüre vertiefen können. In jedem Raum war eine andere Rubrik von Büchern untergebracht. Historische Atlanten. Normale Atlanten. Politik. Medizin. Philosophie. Religion. Naturwissenschaften. Comics.
Ich glaube, es kommen vor allem Gymnasiasten her. In der näheren Umgebung gibt es mehrere Gymnasien. Das Blaise-Pascal. Das Victor-Hugo. Das Jacques-Prévert. Wenn ich eines Tages aufs Gymnasium gehe, dann aufs Prévert.
Im Hauptsaal sind die französische und die ausländische Literatur untergebracht. Mindestens eine Million Bücher. Wahnsinn, was Menschen so geschrieben haben. Ich finde das gut, einerseits, aber es deprimiert mich auch. Ich habe mal ausgerechnet, wie lange es dauern würde, all diese Bücher zu lesen. Ich habe nicht zu Ende gerechnet, ich glaube, ein ganzes Leben reicht da nicht aus. Ich würde gern mal den Menschen kennenlernen, der die meisten Bücher auf der Welt gelesen hat. Der sieht bestimmt komisch aus, seine Augen stehen wahrscheinlich hervor oder sind explodiert oder so. Vielleicht ist es Monsieur Roland. Ich habe mir vorgenommen, ihn danach zu fragen, wenn ich ihn sehe.
Zum letzten Mal war ich mit der Schule in der Bibliothek, Madame Boulin, die Direktorin, war auch dabei.
Sie sagte die ganze Zeit:
»Ihr werdet nie so viele Bücher besitzen, wie es hier gibt …«
Es schien ihr Spaß zu machen, das immer wieder zu betonen. Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Es kommt doch nicht darauf an, dass man ganz viele Bücher besitzt, sondern dass man sie liest! Mein Bruder Henry, der ein unermüdlicher Leser ist, hat zum Beispiel nie ein Buch behalten, er hatte immer den Drang, es weiterzugeben, sogar an wildfremde Menschen. Er sah jemanden auf der Straße, drückte ihm das Buch in die Hand und sagte, er hätte es gelesen, es wäre ganz super. Na gut, Henry ist auch ein Spezialfall. Was ich meine, ist: Es gibt bestimmt Typen, die eine große Bibliothek besitzen, aber in ihrem Leben noch nie die Nase in ein Buch gesteckt haben. Und diese Art von Angeberei finde ich mies.
Ich streifte an den Regalen entlang. Sie sind hier streng alphabetisch nach Autoren geordnet. A beginnt ganz oben links, um diese Werke zu finden, muss man auf eine Leiter steigen.
Auf meiner Augenhöhe standen die Bücher mit P… Pagnol … Pascal … Péguy … Pennac … Perec … Perrault … Prévert … Proust … Dann kam R… Rabelais … Racine … Radiguet … Renart … Rimbaud … Vor Rimbaud hielt ich inne. Es gab drei Bücher. Zwei kleine, Illuminationen und Eine Zeit in der Hölle. Und ein dickes: Gesammelte Werke. Ich zog das erste kleine heraus und schlug es wahllos auf. Ich könnte Ihnen nicht mehr sagen, was ich gelesen habe, aber an einen Satz erinnere ich mich trotzdem, und wenn Sie Rimbaud kennen, wissen Sie Bescheid.
Du schreitest aus, und neue Menschen folgen deinen Spuren.
Wenn ich ein Buch oder ein Gedicht lese, versuche ich immer, mir ein oder zwei Sätze daraus zu merken. An die denke ich später oft, wenn ich mich langweile, oder vor dem Einschlafen. Auch wenn ich die Worte manchmal nicht so genau verstehe, sage ich mir, dass sie mir eines Tages klar vor Augen stehen werden. Das ist so, als würde ich ein Geschenk aufheben, das ich noch nicht ausgepackt habe.
Ich wäre gern noch geblieben, um Rimbaud zu lesen, wollte aber Henry finden und hatte außerdem einen derartigen Riesenhunger, dass ich eh nicht mehr denken konnte.
Ich stellte das Buch wieder zurück und hielt mich in Richtung Ausgang. Der Mann auf der anderen Seite des Tresens war hinter einem Stapel dicker Schmöker verschwunden. In dem Moment musste ich an das Buch von Rimbaud denken und daran, wie wahnsinnig gern ich es gelesen hätte. Und plötzlich machte ich kehrt. Ich ging zurück in den Hauptsaal, zur Abteilung R. Ich betrachtete die Bände von Rimbaud, ohne sie mir wirklich anzusehen, denn ich wusste, dass ich einen mitgehen lassen würde. Mein Herz fing wie wild an zu pochen. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass ich ein Buch stahl. So ist das immer, und wenn Sie schon mal was geklaut haben, wissen Sie, was ich meine.
Ich drehte mich zum Eingang um.
Alles ruhig.
Ich griff nach dem Buch in der Mitte.
Ich betrachtete das Cover.
Une saison en enfer. Eine Zeit in der Hölle.
Ich sah mich noch einmal um.
Niemand.
Schnell stopfte ich das Buch in meinen Hosenbund und zog meine Jacke darüber.
Als ich wieder auf der Straße war, bin ich ein paar Schritte geradeaus gelaufen. Dann rannte ich los. Ich spürte das Buch an meinem Bauch, die Kanten gruben sich in meine Haut. Aber ich wollte es jetzt auf keinen Fall hervorziehen.
Ich beschloss, weiter bis Saint-Ex zu laufen.
Das ist ein großes Viertel mit Bürotürmen und Lagerhallen, etwas außerhalb. Doch niemand wollte dort je arbeiten, und so standen die Gebäude von Anfang an leer. Die Grünflächen vergammelten, die Häuser wurden besetzt, bis die Stadtverwaltung irgendwann die Treppen und die Fußböden abreißen ließ. Heute wirkt Saint-Ex wie eine Geisterstadt. Total heruntergekommen. Man könnte das Ganze für einen Irrtum der Natur halten und dass alles nur darauf wartet, vollständig abgerissen zu werden. Ich bin mir sicher, dass jeder von uns Jungs im Umkreis mindestens eine Fliese zerstört hat. Das ist unsere Art der aktiven Teilnahme.
Das andere Mal, als ich ein Buch gestohlen habe, war ich mit Brice und Karim unterwegs.
Während der Ferien hatten wir uns im Carrefour herumgedrückt, weil uns langweilig gewesen war. Das Beste dort ist der Multimediabereich. Videospiele. DVDs. Handys. Bücher. Diese Abteilung haben sie gleich an den Eingang gepackt. Unmöglich zu übersehen, wenn man hereinkommt. Das machen die absichtlich, erklärte uns Brice, sie studieren das Verhalten der Leute, und danach richten sie ihre Läden so ein, dass sie ihnen so viel Geld wie möglich aus der Tasche ziehen.
Echt frustrierend.
Die andere Abteilung, die ich sehr mag, ist die Spielzeugabteilung. Auch die befindet sich gleich beim Eingang. Aber ich will das jetzt gar nicht so herausposaunen, denn ich schäme mich ein bisschen deswegen. Sie verstehen schon: Ich bin über das Alter hinaus. Trotzdem lande ich immer wieder dort und sehe mich um.
Früher kaufte mir meine Mutter meistens etwas, wenn wir im Carrefour einkaufen gingen. Die Spielwaren waren immer unsere erste Station, und danach hatte ich es ganz eilig, wieder nach Hause zu kommen, um meine neue Errungenschaft einzuweihen. Mit der Zeit hörte das auf. Als Maman mir zum letzten Mal etwas kaufte, brauchte ich zwei Stunden, um mich zu entscheiden, und nichts gefiel mir wirklich. Ich konnte es selbst nicht fassen. Ich wählte irgendetwas aus, und zu Hause packte ich es nur halbherzig aus. Meine Mutter war tödlich beleidigt.
Brice, Karim und ich schauten uns die Bücher an. Karim liebt Comics. Er setzte sich in die Abteilung und las einen schrägen Science-Fiction-Comic. Brice griff sich einen Reiseführer, so was wie Die schönsten Orte der Welt. Ich stöberte eine Weile herum und entschied mich schließlich für einen Band mit Fotos von Vorstadtkindern aus aller Welt. Die Fotos waren schrecklich. Und die Jungs darauf sahen aus, als wären sie schon fünfzig. Sie schauten direkt in die Kamera, und das machte das Ganze noch schlimmer. Hinter ihnen sah man ihr Stadtviertel. Straßen aus Sand mit Baracken aus verfaultem Holz, dicht an dicht. Auf einem Foto war ein Junge bei sich zu Hause abgelichtet. Bei ihnen war es so groß wie in einem Klo, ohne Fenster oder sonst was, auf dem Boden lag eine eklige Matratze für die ganze Familie. Was mich total aufwühlte, war eine Serie mit Fotos von einem Mädchen namens Gina, das in Kolumbien lebte. Man konnte sie in ihrem Alltagsleben beobachten. Sie war wunderschön und hätte bei uns im Viertel bestimmt viel Erfolg gehabt. Obwohl sie wahrscheinlich nicht älter als zwölf war, sah sie aus wie eine erwachsene Frau. Auch Gina wohnte in einer von diesen kleinen Baracken. Sie ging nicht zur Schule und half ihrer Mutter im Haushalt, bei der Wäsche und so. Auf einem Foto posierte sie mit ihren Eltern und ihren zehntausend Brüdern und Schwestern. Das Schockierende war, dass Gina am Nachmittag mit alten Typen für Geld ins Bett ging. Danach kam ein Foto, auf dem die ganze Familie abends zusammen in aller Ruhe vor dem Fernseher sitzt, so als ob nichts geschehen wäre. Und auch die alten Typen entdeckte man in der Runde.
Karim kam auf Brice und mich zu. Er wollte, dass wir gingen. Ich fragte ihn, ob er seinen Comic schon ausgelesen hätte, und er antwortete, nein, den würde er zu Hause zu Ende lesen. Da begriff ich, dass er sich den Comic unters T-Shirt gestopft hatte. Karim war ein Riese, er konnte so etwas tun, ohne dass es auffiel. Bei mir wäre der Comic oben an den Schultern wieder herausgekommen, und ich hätte ausgesehen wie ein panierter Fisch oder wie ein Flachbildschirm. Brice stand auf und steckte den Reiseführer ein. Der Führer war ziemlich dick, aber Brice ist auch nicht gerade schlank, und außerdem trägt er immer Hosen, die ihm zehn Nummern zu groß sind.
Mir wurde klar, dass meine Kumpels das, was sie klauen wollten, auch lesen würden.
Ich konnte schlecht das Buch mit den Fotos von den armen Vorstadtkindern mitgehen lassen, weil es riesig war. Aber ich wollte trotzdem etwas mitnehmen. Ich blickte mich rasch in der Abteilung um und erspähte eine Serie mit kleinen Büchern zu allen möglichen Themen. Heimwerken. Kochen. Wetter. Sport. Blumen. Meine Wahl fiel auf das Blumen-Buch, ich würde es meiner Mutter schenken, sie liebt so etwas.
Wir verließen den Laden, und obwohl der Typ vom Sicherheitsdienst ein bisschen komisch guckte, hat er nichts gesagt.
Als wir wieder zurück in unserer Siedlung waren, setzten wir uns auf die Stufen vor dem Eingang eines der Wohntürme. Karim und Brice zogen ihre Bücher hervor und lasen weiter. Ich machte mich ein bisschen lächerlich mit meinem Buch über Blumen. Außerdem hätte ich gerne das über die armen Kinder weitergelesen. Mist, wenn man so klein ist.
Am Abend überreichte ich das Buch meiner Mutter. Ich verpackte es und schrieb »Für Maman, die ich sehr liebe« drauf.
Meine Mutter war total gerührt, sie schaute das Buch drei Stunden lang an.
»Wo hast du das denn her?«
Ich konnte ihr schlecht sagen, dass es aus dem Carrefour war und ich es gekauft hatte – woher hätte ich das Geld haben sollen. Ich war aber so stolz darauf, meiner Mutter ein Geschenk zu machen, dass ich vergessen hatte, mir eine Geschichte auszudenken, wie das Buch in meine Hände gelangt sein könnte.
Aber meine Phantasie ließ mich auch in dieser Situation nicht im Stich.
»Madame Sutter, unsere Naturkundelehrerin, hat es mir geschenkt, sie fand, ich hätte viel geleistet, und sagte, ich könnte mir ein Buch aus dem Schrank aussuchen, und da habe ich dieses für dich ausgewählt … Du magst Blumen, das weiß ich ja.«
Meine Mutter glaubt mir immer. Sie nahm das Buch und den Umschlag an sich und verschwand damit in ihr Zimmer.
Sie hebt alles auf, was ich ihr schenke.
Selbst wenn ich ihr die Praline gebe, die sie einem beim Japaner nach dem Essen servieren, isst sie sie nicht, sondern hebt sie auf.
Zum Muttertag habe ich ihr schon viele Scheußlichkeiten gebastelt. Schlecht bemalte Vasen aus alten Wasserflaschen. Tonschalen mit lauter Löchern drin. Dreißig Kilo schwere Perlenketten. Bizarre Kompositionen aus Makkaronis und Reiskörnern, die abbröseln. Und eine Million Zeichnungen, eine hässlicher als die andere. All das hat einen Platz in ihrem Schlafzimmer gefunden. Wenn man reinkommt und sieht das gleich als Erstes, tun einem die Augen weh.
Um die Geschichte mit dem Blumenbuch zu Ende zu erzählen – ich dachte also schon, ich wäre auf dem Trockenen. Am nächsten Morgen, als ich zur Schule ging, fiel mir jedoch ein, dass ja eine Woche später Elternsprechtag war. Meine Mutter würde zu Madame Sutter gehen und über das Blumenbuch sprechen. Ich geriet in Panik und konnte an nichts anderes mehr denken. Im Biounterricht schaute ich in den Schrank, für den Fall, dass so ein Buch drin stand. Ich hätte die Lehrerin dann gebeten, es mir zu schenken.
Doch in dem Schrank waren keine Bücher, nur Kittel, Reagenzgläser und Aktenordner.
Als der Elternsprechtag gekommen war, hatte ich ganz schön Schiss. Die Eltern drehen ihre Runde von Klassenzimmer zu Klassenzimmer und sprechen einzeln mit den Lehrern. Ich habe alles versucht, damit meine Mutter nicht mit Madame Sutter redet. Ich zerrte sie am Ärmel zu anderen Klassenzimmern, zeigte ihr unseren Pausenhof, den Speisesaal, die Gänge. Leider ist Madame Sutter eine der nettesten Lehrerinnen an unserer Schule, immer ist sie gut gelaunt. Sie ist immer überall dabei, und ihr Lachen hört man vierzehn Kilometer gegen den Wind. Damit meine ich: Man entgeht ihr nicht. Es gibt solche Leute, die ziehen andere magisch an, weil sie so viel Lebensenergie haben. Madame Hank hingegen, unsere Englischlehrerin, da möchte man am liebsten gar nicht existieren, wenn man sie sieht.
Wir waren in einem anderen Gebäudeteil, als wir vom Ende des Flurs her Madame Sutter hörten:
»Madame Traoré, Madame Traoré!«
Wir drehten uns um und sahen, wie sie auf uns zurannte.
»Ach, guten Tag, Madame Traoré, ich bin Madame Sutter, Charlys Biolehrerin … Ich suche schon die ganze Zeit nach Ihnen, Sie sind die Einzige, die noch nicht bei mir war, und Madame Hank sagte mir, Sie seien da.«
Madame Hank, die blöde Schlampe.
Ich ließ meine Mutter und Madame Sutter in ein Klassenzimmer gehen, um meinen Fall zu besprechen.
Ich blieb auf dem Flur, mit bangem Herzen.
Nach einer Viertelstunde kam meine Mutter wieder heraus. Sie wirkte ganz normal, und ich hatte den Eindruck, dass sie und meine Lehrerin gut miteinander ausgekommen waren.
»Wie war’s, Maman?«
»Nur so.«
Auch auf dem Heimweg wiegte ich mich noch in Sicherheit, weil sie mir einen Eistee kaufte.
Zu Hause angelangt, verschwand ich sofort auf mein Zimmer. Henry war wie üblich nicht da.
Ich begann in aller Ruhe mit irgendwas herumzuspielen, doch plötzlich rief meine Mutter etwas aus dem Nebenzimmer, das mich erstarren ließ:
»CHARLES!«
Wenn sie mich bei meinem vollständigen Namen ruft, ist es etwas Schlimmes.
Ich eilte ins Wohnzimmer und begriff sofort. Auf dem niedrigen Tisch vor meiner Mutter, die auf dem Sofa saß, lag das Blumenbuch. »Ja, Maman?«
»Setz dich.«
Ich nahm auf dem Sessel ihr gegenüber Platz.
»Woher hast du dieses Buch?«
»Na ja, von Madame Sutter, wie ich dir ja erzählt habe.«
»Hör auf mit deinen Lügen … Von Madame Sutter hast du überhaupt nichts … Ich habe mich bei ihr bedankt, weil sie dir das Buch geschenkt hatte. Sie wusste überhaupt nicht, wovon ich rede … Sie sagte, sie hätte noch nie einem Schüler ein Buch geschenkt. Ich musste so tun, als hätte ich mich getäuscht und es wäre jemand anderes gewesen … Wie peinlich das war!«
Es ist unheimlich, aber ich kann mich darauf verlassen, dass meine Mutter mich niemals verrät. Unsere Angelegenheiten regeln wir unter uns.
»Charles … Woher hast du dieses Buch?«
»Ich habe es gestohlen.«
»Wie bitte?«
»Ich habe es gestohlen.«
»Wo denn das?«
»Bei Carrefour.«
Meine Mutter verzog das Gesicht. Wenn sie einen Kinnhaken verpasst bekommen hätte – es hätte nicht schlimmer ausgesehen. Ich hasse es, meiner Mutter weh zu tun. Ich will immer nur, dass sie glücklich ist, will sie das ganze Leben lang stolz machen.
»Charly … Weshalb nur … Du brauchst doch nicht zu stehlen … Vor allem kein Buch …«
»Ich wollte dir ein Geschenk machen.«
»Glaubst du wirklich, du machst mir ein Geschenk, indem du stiehlst?«
Ich bin wirklich der größte Lügner, den man sich denken kann. Am schlimmsten aber ist, dass ich weitermache, wenn man mir auf die Schliche gekommen ist. Ich hatte dieses Buch nicht gestohlen, um es zu verschenken, ich hatte das andere haben wollen, das über die armen Vorstadtkinder, und das hätte ich auch mitgenommen, wäre ich nicht so ein kleiner Zwerg.
Meine Mutter stand auf, es wirkte, als würde sie eine Tonne wiegen, vor Gram. Sie ging in ihr Schlafzimmer und schloss sich dort ein; das Buch ließ sie auf dem Tisch liegen.
Ich blieb ratlos zurück. Ich hätte den Fernseher einschalten können, hatte aber irgendwie das Gefühl, dass das jetzt nicht angebracht wäre.
Es dauerte zwei Stunden. In der Zwischenzeit kam Henry nach Hause. Er setzte sich zu mir ins Wohnzimmer.
»Was ist passiert?«
»Ich hab ein Buch geklaut.«
»Was für ein Buch?«
»Das da.«
Ich deutete auf das Buch auf dem Tisch, und Henry staunte.
»Ein Buch über Blumen! Mannomann, Charline …«
Mein Bruder nennt mich Charline und tut so, als wäre ich ein Mädchen, wenn er mich ärgern will. Das ist ein alter Trick von ihm.
»Ich wollte Maman ein Geschenk machen.«
»Wo ist sie?«
»In ihrem Zimmer.«
Henry ging wieder, und ich wusste nicht einmal, weshalb er gekommen war. An manchen Tagen kommt er achttausend Mal nach Hause und verschwindet gleich darauf wieder. Er holt sich irgendwas aus unserem Zimmer und haut dann ab.
Nach fünf Stunden tauchte meine Mutter aus ihrem Zimmer auf und suchte nach mir. Ich war froh, mich nicht vom Fleck gerührt zu haben, es war bestimmt gut, dass ich aktiv an dem Drama teilhatte. Meine Mutter fragte mich, ob ich Hunger hätte, und ich sagte, nein, keinen großen – dabei knurrte mein Magen wie verrückt. Sie wollte, dass ich trotzdem etwas esse.
Ich folgte ihr in die Küche, und wir saßen einander gegenüber und aßen. Sie sagte nichts und würdigte mich keines Blickes. Ich hasse es, wenn sie das tut. Es ist so eine Macht, die sie über mich hat. Mir ist es lieber, wenn sie in ihrem Zimmer bleibt. Dann sehe ich sie nicht und kann mir immer noch einreden, sie tut irgendwas und hat mir schon halb vergeben.
Als ich spürte, dass mir gleich die Tränen kommen würden, habe ich mich einfach gehenlassen. Ich habe sogar noch ein wenig nachgeholfen. Wenn ich will, kann ich mich auch beherrschen, vor Henry oder vor meinen Kumpels, aber in dem Fall war es besser, dass alles rauskam. Die erste Träne tropfte, das war die schwerste. Normalerweise ergießt sich danach ein wahrer Wasserfall.
Ich flennte also hemmungslos, während meine Mutter eine Zeitlang versuchte, standhaft zu bleiben und mich zu ignorieren. Ich schaute sie an. Ich wollte, dass sie mich ansah und dass sie mich in die Arme nahm. Also versuchte ich es mit meinem Zauberspruch:
»Maman … Ich flehe dich an …«
Sie erhob sich und kam auf mich zu. Sie streichelte mir über den Kopf und drückte mich an ihre Brust.
»Schon gut, Charly … schon gut …«
Sie trocknete mir die Tränen, und es ist komisch, aber wenn man geweint hat, ist es immer ein bisschen wie im Schwimmbad, hinterher hat man Hunger, und nichts hat mehr denselben Geschmack.
»Wirst du auch nicht mehr stehlen?«
»Nein, Maman.«
»Wenn du ein Buch möchtest, wirst du es mir sagen, und ich kaufe es dir dann.«
»Okay.«
»Nach dem Essen bringen wir das über die Blumen zurück.«
»Was?«
Meine Mutter bestand darauf, dass wir das Buch zu Carrefour zurückbrachten. Beinahe hätte ich wieder angefangen zu heulen, weil ich mir vorstellte, wie ich dem Typ von der Security das Ganze erklären müsste. Doch sie wollte nur, dass wir es wieder an seinen Platz stellten, im Regal.
Als wir dort waren, blätterte ich noch mal in dem Buch über die armen Kinder herum. Ich bat meine Mutter nicht, es mir zu schenken, weil es furchtbar teuer war und ich noch unter Bewährung stand. Doch als ich es wieder hinlegte, fragte sie mich, ob das Buch mir gefiele, und da sagte ich, ja, unheimlich, und dann kaufte sie es mir, auch um mir zu zeigen, dass ich keine Bücher zu stehlen brauchte.
Das Buch von Rimbaud habe ich nicht wirklich gestohlen, finde ich. Das sage ich jetzt nicht, um mich rauszureden oder so. Aber da es sich um eine Bibliothek handelt und ich ihren blöden Ausweis nicht habe, dachte ich mir, ich leih mir das jetzt ein paar Tage aus und bringe es wieder zurück, wenn ich fertig bin.
Saint-Ex war genauso öde wie Malraux, Berlioz oder Colette. Allmählich fühlte ich mich einsam, weil ich niemandem begegnete. Ich blieb vor einem der verwahrlosten Gebäude stehen und setzte mich auf einen großen Betonblock. Über mir schwebten dicke Elektrokabel, die wie Bienen summten. In Filmen oder Comics sitzen immer Vögel auf den Elektrokabeln. Hier nicht. Die Vögel sind zusammen mit den Sternen verschwunden. Und wenn ich fliegen könnte, würde ich sicherlich nicht hier sitzen bleiben.
Ich hob ein paar Steine auf, weil ich Fliesen zerdeppern wollte. Der erste, den ich warf, traf nicht einmal das Gebäude. Ich hatte nicht genügend Kraft im Sitzen. Also stellte ich mich auf den Betonblock und versuchte es noch mal. Diesmal schaffte es der Stein bis an die Mauer. Ich kniff ein Auge zu, um zu zielen. Ich wollte das Fenster im Erdgeschoss treffen. Also holte ich tief Luft und schleuderte den Stein mit aller Wucht. Ein Superschuss. Die Kachel zersprang in tausend Einzelteile. Ich bekam Angst. Ich nahm noch einen Stein, um auch das Fenster daneben zu zerschmettern. Ich kniff wieder das eine Auge zu, doch in dem Augenblick, als ich ihn werfen wollte, entdeckte ich jemanden in dem Gebäude, hinter dem ersten Fenster, das ich zerdeppert hatte.
Mir blieb das Herz stehen – war das ein Gespenst?
Ich machte die Augen wieder auf und hatte plötzlich keine Angst mehr.
»Henry!«
»Charly!«
»O Henry, ich habe dich überall gesucht!«
»Was treibst du denn hier? Hast du keine Schule?«
»Doch.«
»Wie spät ist es?«