9 Uhr 30
Ich beschloss, Henry zu suchen, um ihm zu erzählen, was passiert war. Nicht wegen des Traums, sondern weil ich ihn doch wohl auf dem Laufenden halten musste. Und vielleicht gab es ja tatsächlich eine Erklärung.
Es war lange her, seit ich zum letzten Mal den Unterricht verpasst hatte. Und selbst wenn ich vom Klassenbesten meilenweit entfernt war, hatte ich mich bisher ganz tapfer in der Schule geschlagen. Vor allem in Französisch.
Am liebsten schreibe ich Aufsätze. Ich zermartere mir immer das Hirn und lege mein ganzes Herz da hinein. Beim letzten Mal habe ich achtzehn Punkte bekommen, und die Lehrerin hat Ausgezeichnete Arbeit! neben die Note geschrieben, in Rot. Ich will ja nicht als Angeber dastehen, aber das hätte Sie auch umgehauen. Das Thema lautete: Wie ich mir mein späteres Leben vorstelle. Die anderen in meiner Klasse warfen sich mächtig ins Zeug und schrieben seitenlang so von wegen, später möchte ich Pilot werden oder ein supertolles Schiff besitzen, eine spitzenmäßige Frau, einen sensationellen Job. Ich fand das ziemlich kurzsichtig. Deshalb habe ich über meinen Bruder geschrieben. Man muss dazu wissen, dass Henry ein brillanter Schüler war, weit besser als der Durchschnitt. Er hatte in der Grundschule eine Klasse übersprungen, was ihm kaum zu schaffen gemacht hat, so gut war er. Er brauchte ein Buch nur ein einziges Mal zu lesen, und alles Wissen blieb haften. Wenn man ihn bat, ein Gedicht auswendig zu lernen, betete er gleich das ganze Werk aus dem Gedächtnis herunter. Ein echtes Genie. Dann aber, so in der Achten, begann er sich zu verändern. Er wurde faul, beleidigte die Lehrer, schlief im Unterricht – bis er irgendwann gar nicht mehr erschien. Es muss furchtbar gewesen sein, Henrys grandiosen Absturz mitanzusehen. Auf einen schlechten Umgang, wie Madame Paulin, unsere Schulpsychologin, es immer ausdrückt, konnte man es nicht schieben, weil mein Bruder überhaupt keinen Umgang mit irgendwem hatte. Nein, es war eher so, dass er den Glauben verloren hatte.
Am Anfang des Schuljahrs erzählte mir Monsieur Hassan, mein Mathelehrer, wie er Henry als Schüler erlebt hatte. Seiner Meinung nach litt mein Bruder unter einer schweren Depression. Die Art von Krankheit, die einen ganz plötzlich überfällt, wie aus heiterem Himmel.
Ich sprach mit Yéyé auf dem Nachhauseweg darüber.
»Weißt du, was das ist, eine Depression?«
»Das haben nur die Reichen.«
In unserem Viertel spricht man nicht von Depression, wenn’s einem schlechtgeht. Man sagt, das Leben ist hart, aber es wird schon irgendwie weitergehen. Und wenn’s nicht besser wird, dann fängt man an, Drogen zu nehmen. Es gibt eben nicht für alle dieselben Medikamente. Und auch nicht dieselben Ärzte. Henry ist kein Einzelfall. Man sieht sie auf der Straße. Sie gehen morgens aus dem Haus und sind den ganzen Tag unterwegs. Wie Zombies sehen sie aus. Mein Kumpel Brice meint, der ganze Beton hier würde sie kirre machen. Je mehr Mauern und scheußliche Gebäude man sieht, desto mehr verschmutzt das Gehirn. Seitdem schaue ich oft in den Himmel, wenn ich draußen bin.
Und wenn es regnet, schließe ich die Augen.
Mein späteres Leben stelle ich mir so vor …
Es ist in eine Spritze eingeschlossen, innen drin bin ich und möchte heraus, ich klopfe gegen das Glas, ich schreie, aber niemand hört mich.
Ein Mann hält die Spritze.
Manchmal spritzt er ein bisschen was von mir in seine Venen, und da löse ich mich sanft auf. Im Innern der Spritze ist immer weniger Platz, und ich weiß, dass das wenige, was noch übrig ist, bald aufgebraucht sein wird …
18 von 20 Punkten. Das hat die Lehrerin offenbar echt umgehauen.
Man muss allerdings wissen, dass ich eine ziemlich ausufernde Phantasie habe. Wahnsinn, das sagen alle. Ich kann mir alles vorstellen, wenn ich mich anstrenge. Manchmal ist das gut. Wenn ich mir zum Beispiel vorstelle, dass Mélanie Renoir meine Frau ist, spinne ich zwischen uns gleich eine wunderschöne Liebesgeschichte. Aber Phantasie kann einem auch das Herz schwer werden lassen. Heute Morgen, seit meine Mutter plötzlich weg ist, schwirrt mir der Kopf.
Es war wohl am besten, wenn ich mich so unauffällig wie möglich verhielt, dachte ich, von wegen Polizei und so. Nichts einfacher als das. Die Cité ist ein Labyrinth, und wer sie so wie ich kennt, kann darin wandeln wie ein Geist. Zusammen mit meinen Kumpels spielen wir es oft, dieses Spiel, eine Art überdimensionales Verstecken. Es wird ein Areal festgelegt, zum Beispiel vom Elsa-Triolet-Turm bis zum Jacques-Prévert-Turm, und einer von uns muss die anderen suchen, die dort versteckt sind. Man darf sich überall verstecken, nur nicht in Wohnungen. Bis alle gefunden sind, das kann schon mal den ganzen Tag dauern.
Das beste Versteck der Welt hatte mal Freddy Tanquin entdeckt. Wir haben mindestens zwanzig Jahre lang nach ihm gesucht. Als wäre er unsichtbar geworden! Er hatte sich hinter Sandrine Viller versteckt – Sandrine wiegt an die siebenhundert Kilo, aber hinter ihr nachzugucken, da ist einfach keiner drauf gekommen.
Ich ging die Treppe bis in den Keller hinunter, ich wusste, dass eine der Mauern eingestürzt war und man nun einen Zugang zum Parkplatz des Einkaufszentrums hatte. Von dort aus wollte ich hinüber zum Malraux-Turm, wo sich die meisten Drogies aufhielten, weil dort auch die meisten Dealer unterwegs waren. Ich musste an die Geschichte von den toten Süchtigen denken, die in den Kellern der Gebäude herumspukten. Der Boden war feucht, und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass mich jemand verfolgte. Panisch rannte ich los. Als ich bei der eingestürzten Mauer ankam, drehte ich mich ruckartig um. Ich bin ja eher so ein Angsthase, trotzdem: Wenn schon, dann will ich wenigstens wissen, welches Phantom mich jagt.
Als ich das Parkhaus erreichte, wurde ich wieder etwas ruhiger, es ist dort zwar ebenso gruselig wie im Keller, aber heller, durch die Lüftungsgitter dringt Tageslicht. Und außerdem ist da mehr Platz, was für mich gut ist, weil ich doch Klaustrophobie habe.
Ich ging an der Autosammlung von Super-Mario vorbei. Er heißt so wegen des Videospiels. Wir nennen ihn auch Höcker-Mario, weil er eine Beule auf der Stirn hat. Er ist einer von den ganz Alten in der Cité, er ist fünfundzwanzig oder dreißig, und einer von den ganz Durchgeknallten, echt vom Feinsten. Was der immer für einen Schwachsinn verzapft! Wenn er zum Beispiel mal wieder in den Knast wandert, wegen all der Autos, die er klaut, und so. Und drei Monate später rauskommt, dann erzählt er einem, er wäre gerade mit einer Amerikanerin in Tahiti gewesen. Wo doch jeder genau weiß, dass er in Fresnes eingesessen und seine Zelle mit drei Typen wie ihm geteilt hat. Aber er behauptet, wir wären nur neidisch, und nervt uns mit seinen Kokospalmen und seiner Braut. Die Show, die er immer abzieht, finde ich echt armselig. Das ist wie mit seinem Höcker, er behauptet steif und fest, den hätte er sich während einer Prügelei von einem Baseballschläger eingefangen, wo seine Mutter uns doch erzählt hat, er wäre ihr vom Wickeltisch gefallen, als er noch ein Baby war.
Was allerdings stimmt, ist, dass seine Autokollektion im Parkhaus echt Wahnsinn ist. Es sind zwar keine Liebhaberstücke dabei, aber dafür hat er mindestens zwanzig Karren da herumstehen. Und für jede einzelne ist Mario in den Knast gegangen. Nett daran ist, dass er uns dort gern einsteigen lässt.
Man geht zu ihm hin und sagt:
»Darf ich mal in eine Karre von dir, um mit meiner Cousine zu fummeln?«
»Klar, nimm den Peugeot 307 dort drüben.«
Oder:
»He, Mario, meine Eltern haben mich rausgeschmissen, ich weiß nicht, wo ich schlafen soll.«
»Na, dann leg dich eben in den Twingo.«
Manchmal sind alle Autos belegt. Jungs mit ihren Mädels. Andere, die sich die Kante geben. Wieder andere, die schlafen. Und wir, die wir uns einfach nur ins Auto setzen, um zu quatschen. Wer am Steuer sitzt, tut so, als würde er fahren. Fünf Minuten darf jeder, dann wechseln wir. O Mann, ich freu mich so auf den Führerschein!
Ich überquerte den Parkplatz bis zur Leiter, die auf das Dach des Einkaufszentrums führt. Die ist mindestens hundert Meter hoch, und wer da nicht ganz schwindelfrei ist, hat schlechte Karten.
Als die Cité gebaut wurde, legten sie sich vor allem beim Einkaufszentrum mächtig ins Zeug. Es liegt genau in der Mitte zwischen den Türmen, und von jedem Fenster aus kann man zumindest einen Zipfel davon und das Dach sehen. Früher waren da ein Haufen Geschäfte untergebracht: eine Bäckerei, eine Metzgerei, ein Blumenhändler, ein Laden mit jeder Menge Haushaltsartikeln, eine Apotheke, eine Reinigung, ein Kiosk, ein Café, eine Buchhandlung, ein Schuster, ein Schmuckgeschäft, ein Friseur. Und drei Lebensmittelgeschäfte. Dann haben sie in gerade mal fünfhundert Metern Entfernung ein Gewerbegebiet danebengesetzt. Einen Carrefour-Supermarkt. Eine Einkaufspassage. Lauter Selbstbedienungsrestaurants. Riesige Hallen mit Möbeln, Schuhen, Bekleidung, Elektrogeräten. Ein moderner Parkplatz. Neonröhren in allen Farben. Und Angestellte in Uniform. In unserem Einkaufszentrum gibt es heute noch genau drei Geschäfte. Einen Waschsalon. Einen DVD-Automaten. Und einen Lebensmittelladen.
Der Rest erinnert an einen Friedhof mit Rollgittern.
Ich rannte über das Dach. Jeder konnte mich sehen, und ich wollte so schnell wie möglich auf der anderen Seite wieder runterklettern. Ich sprang über Bierflaschen, Konservendosen, Windeln, eine Waschmaschine, Müllsäcke, eine tote Katze. Erstaunlich, was die Leute so alles aus dem Fenster werfen. Auch Spritzen waren darunter, verrostete Löffel, die Chassis von ausgebrannten Motorrollern.
Als ich die andere Seite fast erreicht hatte, sah ich einen alten Mann, der auf seinem Balkon in der ersten Etage direkt über dem Dach stand. Er hatte nur eine Unterhose an, rauchte in aller Ruhe eine Zigarette und genoss die Aussicht.
»Was treibst du denn da?«
»Nichts, Monsieur, ich bin eigentlich schon wieder weg.«
»Du weißt, dass man nicht auf das Dach klettern darf?«
»Jaja, weiß ich.«
»Also, was treibst du dich dann dort herum?«
»Ich bin ja schon dabei, wieder runterzusteigen.«
Gewisse Gespräche können einem wirklich ganz schön auf die Nerven gehen. Der Alte hatte einfach nichts anderes zu tun, als Jungs wie mich blöd anzumachen. Aber man muss sich vorsehen – wenn Sie hier wohnten, würden Sie verstehen, was ich meine. Vor zwei Jahren, an einem Sommerabend, standen ein paar Kids vor dem Ravel-Turm. Sie unterhielten sich fröhlich, ohne irgendwen zu stören. Ein Anwohner aus der zweiten Etage beugte sich aus dem Fenster und rief ihnen zu, sie sollten leise sein. Sie hatten nicht den Eindruck, besonders laut zu sein, und unterhielten sich also weiter. Der Anwohner kam wieder ans Fenster und schlug auf einmal einen anderen Ton an, von wegen gleich rufe ich die Polizei und so. Die Jungs haben ihm zugerufen, er soll Leine ziehen, ohne zu ahnen, dass sie es mit einem fanatischen Sporttaucher zu tun hatten. Na ja, jedenfalls stand der Typ plötzlich mit einer Harpune vor ihnen, zielte auf einen der Jungs und traf ihn direkt in den Bauch. Der Junge starb vor den Augen seiner Freunde. Als die Polizei schließlich kam, hatte sie es leicht, den Mörder ausfindig zu machen – er war ja am anderen Ende der Schnur. Verrückte gibt es überall. Sie halten einen für Fische, für Wildschweine oder wer weiß wofür.
Deswegen wollte ich mit dem Alten auf seinem Balkon unter keinen Umständen weiter diskutieren und kletterte die Leiter schnurstracks auf der anderen Seite hinunter.
Kaum hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen, rannte ich weiter bis zum Malraux-Turm. Ich renne eigentlich immer. Ein geborener Sprinter. Als ich mit drei Jahren angefangen habe, Fußball zu spielen, ließ der Trainer die Neuen ein Probespiel machen. Danach kam er auf mich zu und meinte:
»Also, spielen kannst du nicht, aber rennen – du wirst Flügelstürmer.«
Wie ich entdeckt habe, dass ich richtig schnell laufen kann, ist eine eher unangenehme Geschichte.
Es war vor zwei Jahren. Meine Mutter hatte mich losgeschickt, um Brot zu besorgen. Als ich das Haus verließ, bemerkte ich einen Kerl, der mir ins Einkaufszentrum folgte, bis er mich schließlich einholte.
»He, Kleiner!«
Ich blieb wie angewurzelt stehen und blickte auf, in ein Gesicht, von dem einem nur übel werden konnte.
»Weißt du zufällig, wo ich einen Jungen hier finde, der Michel heißt?«
»Nein …«
Ich kannte keinen Michel, fragte aber trotzdem nach: »Michel wie?«
»Michel … öhm … ich weiß seinen Nachnamen nicht … So ein Großer …«
Klar, so ein Großer. Ich begriff gleich, dass der Typ mir einen Bären aufbinden wollte.
»Wie heißt du, Kleiner?«
Obwohl ich es nicht ausstehen kann, wenn man etwas anderes als Charly zu mir sagt, meinte ich: »Charles.«
Ich hatte plötzlich richtig Schiss und hasste mich dafür.
»Das ist ein hübscher Name … Charles … Ich heiße Patrick. Wollen wir zusammen was trinken gehen?«
»Meine Mutter wartet auf mich.«
»Nur fünf Minuten, ich bin mit dem Auto da.«
Ich spürte, wie mein Puls raste und mir das Herz bis zum Hals schlug. Patrick tätschelte mein Haar – und da gab ich Fersengeld. Rannte los wie ein Irrer. Niemand auf der ganzen Welt ist je schneller vom Einkaufszentrum zu unserem Turm gelaufen. Ich sah mich nicht um, ob mir der Typ überhaupt gefolgt war, es war ohnehin klar: Er hätte mich niemals erwischt. Ich raste die Treppen hoch, und als ich in unserer Wohnung ankam, wäre ich beinahe in Ohnmacht gefallen. Sechs Wochen lang brauchte ich, bis mein Atem sich wieder normalisiert hatte.
Beim Fußball oder beim Sportunterricht oder wenn ich vor meinen Kumpels angeben will und rennen soll, brauche ich nur an Patrick zu denken. Dann sehe ich in sein Gesicht und höre, wie er zu mir sagt: »Mein Auto steht gleich um die Ecke.«
Und schon schieße ich los, mit zweihundert Sachen, und breche alle Rekorde.
Der Malraux-Turm lag verlassen da.
Ich ließ mich auf die Stufen in der Eingangshalle fallen und wartete. Sonderlich gemütlich war es nicht. Es roch nach Pisse. Man hörte den Verkehr. Spürte Trostlosigkeit. Aber es gibt nun mal solche Ecken. Manchmal liegen sie nur zwei Straßen oder drei Blocks entfernt. Ich will mich nicht beschweren, mein Turm ist einer der ruhigsten im ganzen Viertel. Es ist zwar auch nicht der Club Med, aber die Umgebung ist nett, und die Leute sind cool. Meiner Mutter hätte es überhaupt nicht gepasst, dass ich mich hier herumtrieb, das wusste ich, aber ich wusste auch, dass sie ganz schön in der Tinte saß und ich keinen besseren Grund hätte haben können, zu sein, wo ich gerade war.
Kurze Zeit später tauchte ein Typ mit Besen auf, fegte ein wenig herum, und irgendwie sagte mir eine innere Stimme, dass ich ihn ansprechen sollte.
»Entschuldigen Sie, sind die anderen nicht da?«
»Welche anderen?«
»Also … die halt, die immer hier rumschwirren.«
Er blickte sich total wichtig um. Nur um mich zu ärgern und mir zu zeigen, wie beknackt ich war, »die, die immer hier rumschwirren« zu sagen, wo doch in dem Augenblick, in dem ich redete, niemand da war.
»Sie wissen doch, welche Typen ich meine.«
»Bist du nicht ein wenig jung, um dich mit den Leuten abzugeben, von denen du sprichst … Musst du nicht zur Schule?«
»Doch, schon … aber nicht heute … Eigentlich suche ich meinen Bruder – es ist wichtig.«
»Wie heißt dein Bruder?«
»Henry … Henry Traoré.«
»Kenn ich nicht.«
Seufzend stand ich auf und ging die drei Stufen hinunter, denn ich wollte mir weder anhören, dass ich verschwinden soll, noch meine kostbare Zeit mit Rumdiskutieren verschwenden.
»Es ist zu früh.«
Ich drehte mich um, der Typ fegte weiter, während er redete.
»Wie?«
»Es ist zu früh … Um diese Uhrzeit sind sie nie da, bestimmt, weil sie schlafen … Wie spät ist es eigentlich?«