8 Uhr
Morgens um acht Uhr mache ich mich auf den Weg zur Schule. Um halb neun beginnt der Unterricht, aber ich brauche eine halbe Stunde, um durch die Stadt zu fahren. Im Sommer wie im Winter. Es kann schneien oder was immer, und trotzdem muss ich um acht Uhr losfahren und durchquere die Stadt wie ein gefrorenes Würmchen. Heute Morgen war es also ungefähr acht, als ich im Aufzug stand. Die Sache ist die, dass dieses Ding ungefähr einmal alle tausend Jahre funktioniert. Und wenn es mal funktioniert, freut man sich wie ein Schneekönig.
Als die Türen im Erdgeschoss aufgingen, stand ich auf einmal vor ein paar Bullen. Sie waren zu dritt, darunter eine stramme Frau. Sie erinnerte mich an Madame Boulin, die Direktorin unserer Schule. Sie hätte glatt ihre Schwester sein können. Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist, aber wenn man zwei Menschen begegnet, die sich ähneln, vermischen sich im Kopf die Bilder, und man bekommt es nicht mehr auf die Reihe, sie auseinanderzuhalten. Die Bullen und die Frau wirkten irgendwie verloren, und man merkte, dass sie sich hier nicht besonders gut auskannten.
Die Frau wandte mir den Kopf zu und machte ein Gesicht, bei dem einem das Herz in die Hose rutscht.
Sie fragte mich: »Weißt du, wo Joséphine und Henry Traoré wohnen?«
»Ähm, im Sechsten.«
Ohne ein Dankeschön, ohne einen Piep ließen sie mich vorbei, sie traten kaum zur Seite und verschwanden zielstrebig im Fahrstuhl. Mann, war das ein Schreck. Nicht, dass ich überrascht gewesen wäre, dass die Polizisten mich nach unserer Adresse gefragt hatten. Daran bin ich gewöhnt, schließlich macht mein Bruder ja ständig irgendwelche Dummheiten. Merkwürdig fand ich, dass die Frau dabei war. Und dass sie Joséphine sagte. Das ist meine Mutter. Normalerweise wollen sie Henry sprechen, und damit hat es sich. Sie bringen ihn aufs Kommissariat, und meine Mutter muss dann hin und betteln, dass er wieder freigelassen wird. Das ist ganz normal hier, und die meisten Mütter der Drogies kennen den Weg zum Kommissariat und seine widerlichen Amtsstuben auswendig. Als ich zu klein war, um allein zu Haus zu bleiben, musste ich ein oder zwei Mal mit meiner Mutter aufs Kommissariat. Mann, war das öde. Und außerdem tat es mir in der Seele weh, wie sie sich erniedrigte, um Henry freizubekommen. Anschließend führte sie uns zum Essen ins Restaurant des Einkaufszentrums aus und wirkte dann richtig glücklich, dass wir wieder zusammen waren. Ich hätte Henry ordentlich verdroschen, damit er mit seinem Blödsinn aufhört. Aber meine Mutter freut sich immer so, wenn wir alle drei zusammen sind.
Der Satz der Frau klingt mir noch im Ohr: »Weißt du, wo Joséphine und Henry Traoré wohnen?«
Die Aufzugtüren schlossen sich hinter dem Trio. Ich entschied mich, wieder hinaufzugehen und nachzusehen, was los war. Ich nahm die Treppe. Das mache ich aus Gewohnheit so. Falls der Aufzug steckenbleibt. Oder um ein Wettrennen mit meinem Kumpel Jimmy Sanchez zu machen, der in der vierten Etage wohnt. Ich bin ein verdammt guter Sprinter, müssen Sie wissen, und wenn ich wirklich voll in Form bin, schaffe ich die Stufen schneller als der Aufzug. Mein Rekord ist die siebte Etage. Um vor dem Aufzug in der Siebten anzukommen, müssen Sie ein echt guter Sprinter sein, fragen Sie mal Jimmy Sanchez. Diesmal nahm ich zwar vier Stufen auf einmal, aber ich kam trotzdem später an. Es war schließlich acht Uhr morgens, und ich bin kein so früher Vogel. Ich habe die Tür zum Treppenhaus ein wenig aufgedrückt, und da sah ich meine Mutter, wie sie vor den Bullen und der Frau stand. Meine Mutter war schon angezogen, geschminkt und alles. Bestimmt wollte sie gerade zu den Rolands zum Arbeiten gehen. Normalerweise verlässt sie das Haus um zehn nach acht, um den Bus um zwanzig nach zu erwischen. Meine Mutter muss sich immer schminken. Klar, steht ihr ja auch gut, sie legt auch nicht zu viel auf, aber ich für meinen Teil fände das doch ziemlich blöde, wenn ich mir jeden Tag meines Lebens solch ein Zeug ins Gesicht klatschen müsste. Frauen sind schon etwas Seltsames, finde ich. Die Frau bei den Polizisten war auch geschminkt, und ich stellte mir vor, wie meine Mutter und sie extra früher aufgestanden waren, um sich vollzukleistern, und dass sie sich nun mit ihrer Schminke gegenüberstanden. Die Frau zog ein Papier aus ihrer Tasche und las es meiner Mutter vor. Ich verstand nichts, aber es klang irgendwie nicht gut. Meine Mutter machte ein komisches Gesicht, sie schaute die Frau gar nicht an. Sie starrte auf das Papier. Dann sagte die Frau etwas. Meine Mutter hob den Kopf, und ich hatte den Eindruck, dass sie weinte. Es entstand eine ungemütliche Stille. Meine Mutter ging zurück in die Wohnung, und die Bullen und die Frau folgten ihr. Sie ließen die Tür nicht ins Schloss fallen, und daher dachte ich mir, sie kämen bestimmt gleich wieder heraus. Ich bemerkte, dass mir das Herz bis zum Hals schlug. Das passiert mir oft. Wenn Sie mich sehen, würden Sie denken, ich wäre kaltblütig wie eine Schlange. In Wirklichkeit bin ich eher ein Angsthase. Ich kann mich zwar ruhig und selbstsicher geben, aber das wirkt nur so. Und ich weiß, dass die meisten anderen Typen genauso sind.
Um zu überleben, muss man so tun, als wäre man absolut gefühllos.
Die Polizisten und die Frau kamen wieder heraus, mit meiner Mutter im Schlepptau. Sie machte noch immer dieses komische Gesicht, trug jetzt außerdem ihren Mantel, ihre Handtasche und eine Art Sporttasche. Ich weiß nicht mehr, woher diese Sporttasche stammt, ich glaube, sie ist von Henry, als er noch Leichtathletik machte. Sein Ding war der Sprint. Sie hätten ihn sehen sollen, er ging ab wie eine Rakete. Selbst ich wäre im Vergleich zu ihm ein lahmer Škoda gewesen. Aber die Drogen haben ihn total ausgebremst, wenn Sie verstehen, was ich meine. Jedenfalls trug meine Mutter diese Tasche, die bis oben hin vollgestopft zu sein schien. Sie zog die Tür zu, und einer der Bullen holte den Aufzug. Es war seltsam, meine Mutter mit diesen Leuten da stehen zu sehen. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, irgendwie passte das nicht zusammen. Meine Mutter blickte geradeaus, so als ob nichts wäre. Sie kann das gut, so gucken, als ob nichts wäre. Sie könnte im Rathaus arbeiten und Politik machen. Aber wenn man sie kennt wie ich, sieht man sofort, ob sie sich Sorgen macht. Und während sie so dastand und auf den Fahrstuhl wartete, konnte sie so unbeteiligt dreinschauen, wie sie wollte – ich sah genau, dass sie sich verdammt große Sorgen machte.
Und dann drehte sie sich plötzlich zu mir um und sah mich an. Ich spürte, wie mir das Herz stehenblieb. Dabei hat mich meine Mutter bestimmt schon tausend Mal angeschaut. Ich glaube sogar, sie schaut mich ständig an. Manchmal sitzen wir ganz friedlich vor dem Fernseher, und ich bemerke, dass meine Mutter zu mir herüberschaut. Selbst wenn das Programm spannend ist, schaut sie zu mir herüber. Ich war ein wenig verlegen, als sie mich an der Tür zum Treppenhaus stehen sah. Nicht deshalb, weil ich eigentlich unterwegs zur Schule hätte sein sollen, sondern weil ich mich fast wie ein Dieb versteckte. Außerdem weiß ich, dass meine Mutter mir die Angst vom Gesicht ablesen kann. Ich kann mich verstellen, wie ich will, und tausend Mal erzählen, wie großartig das Leben ist – wenn mich etwas ängstigt, sieht sie es sofort.
Da ich so verlegen war, als sie mich entdeckte, habe ich ein Lächeln aufgesetzt. Ein breites Grinsen. Ich muss wohl ziemlich blöd ausgesehen haben. Mit der Angst eines kleinen Jungen, der nicht begreift, was los ist, und darüber das Lächeln von einem Klassenprimus. Manchmal verrenkt man sich schon zu komischen Grimassen. Vor allem, wenn man nur Bahnhof versteht. Außerdem liegt mir Lächeln ohnehin nicht so. Es gibt ja Leute, die lächeln die ganze Zeit. Mann, gehen mir solche Typen auf die Nerven! Wie dieser Anthony Meltrani, der ständig wie ein Grenzdebiler grinst. Wenn Sie dem auf der Straße begegnen, grinst er garantiert vor sich hin. Wenn’s regnet, grinst er, dieser Idiot. Fahrkartenkontrolle – er grinst. Ich bin mir sicher, selbst nachts, wenn er schläft, hat er diese Banane quer über dem Mund.
Meine Mutter stutzte kurz und betrachtete meine verbogene Silhouette. Und dann tat sie etwas Unglaubliches. Wäre es nicht meine Mutter gewesen, ich hätte sie für ein Monster gehalten. Sie lächelte nicht zurück, wie sie es sonst immer tut, egal, wie und wo sie mich sieht!
Sie wandte einfach den Kopf ab. Einfach so. Kein Zwinkern, kein Irgendwas. Sie wandte einfach nur den Kopf ab. Als würde ich gar nicht existieren. Dann kam auch schon der Aufzug, sie sind eingestiegen, ich hörte, wie die Türen sich schlossen, und erkannte an dem Geräusch, dass sie nach unten fuhren.
Was war denn das jetzt bloß für eine Geschichte?
Mein Herz klopfte weiterhin im Rhythmus von wildem Gewehrfeuer. Immer in dem Augenblick, in dem man am wenigsten damit rechnet, passieren die verrücktesten Dinge. Du machst dich gerade ganz ruhig auf den Weg zur Schule, und plötzlich schneien eine Horde Bullen und eine Tante herein, die deiner Schuldirektorin gleicht wie ein Ei dem anderen, kassieren deine Mutter ein, und du weißt nicht einmal, wohin sie sie bringen. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte einen Radiergummi oben auf dem Kopf, um einen Tag noch mal von vorn beginnen zu können.
Ich beschloss, zurück in unsere Wohnung zu gehen. Seit Beginn des Jahres besaß ich meinen eigenen Schlüsselbund, und meine Mutter ging mir dauernd auf den Wecker mit ihren Geschichten von wegen Vertrauen und so. Aber im Grunde blieb ihr keine andere Wahl: Seit ich auf die höhere Schule gehe, komme ich nachmittags oft vor ihr nach Hause.
Meine Hand zitterte wie die von einem alten Mann, ich bekam den Schlüssel nicht ins Schloss. Als ich es endlich hinkriegte, bemerkte ich, dass die Tür gar nicht verriegelt war. Vielleicht hatte meine Mutter das absichtlich getan, für den Fall, dass Henry oder ich unseren Schlüssel vergessen hätten. Oder vielleicht nur, weil sie es selbst vergessen hatte. Ich öffnete die Tür, und das Komische daran war, dass ich den Eindruck hatte, unsere eigene Wohnung wie ein Einbrecher zu betreten. Bestimmt, weil ich gerade die Bullen gesehen hatte, und außerdem, weil ich ja eigentlich in der Schule hätte sein müssen.
Ich lief quer durchs Wohnzimmer, um aus dem Fenster zu schauen, von dem aus man den Eingang unseres Gebäudes sehen kann. Ich machte das Fenster nicht richtig auf, nur eine Handbreit, und drückte meinen Kopf in den Spalt. Gerade kam meine Mutter mit den Polizisten und der Frau aus unserem Wohnturm. Draußen war sonst niemand, das ist oft so um die Uhrzeit, die einen sind arbeiten, und die anderen schlafen. Gut, dass da keiner war, denn meine Mutter hätte es bestimmt nicht gern gehabt, wenn jemand sie zusammen mit diesen Leuten gesehen hätte. Sie gingen bis zum Bürgersteig, wo ein Kleintransporter der Polizei geparkt stand. Einer der Polizisten öffnete die Schiebetür und ließ meine Mutter einsteigen. Die Frau ist auch hinten eingestiegen, hat sich neben meine Mutter gesetzt, die beiden Polizisten vorne.
Als der Wagen losfuhr, versuchte ich, meine Mutter durch die Scheibe zu sehen, doch es gelang mir nicht.
Ich hatte das Gefühl, ich würde sie nie wiedersehen.