11 Uhr 30
Ich weiß wirklich nicht, was ich einmal werden will. Vor einem Jahr hätte ich gesagt: Fußballer. Aber das ist vorbei. Seit ich nämlich im Verein spiele, habe ich gemerkt, dass es andere gibt, die tausend Mal besser sind als ich. Im ersten Moment war ich am Boden zerstört. Weil ich dachte, ich wäre gut. Aber dann habe ich mir gesagt, dass man erkennen muss, wenn man nicht der Beste ist. Das ist wichtig im Leben. Bei einem Match spielte ich gegen einen, der war Flügelstürmer wie ich und noch dazu ein Genie. Ihm schien der Ball am Fuß zu kleben. Danach habe ich ihn gefragt, ob er vorhat, Profifußballer zu werden. Woraufhin er geantwortet hat, er hätte mal ein Probetraining dort mitgemacht, aber das Niveau wäre zu hoch für ihn. Das hat mich total schockiert. Dass es immer jemand Besseren gibt. Und dass diejenigen, die ich für besser halte, noch Bessere kennen. Aber darüber darf man nicht zu viel nachdenken und sollte schön brav auf seiner Wiese bleiben. Vielleicht bin ich ja eines Tages der Beste für irgendjemanden.
Mein Kumpel Brice hat mir erzählt, dass er gern Architekt werden möchte. Das sind die Leute, die Einfamilien- oder größere Mietshäuser bauen, Museen, Schulen, alles, was man auf der Erde so sieht. Er soll bloß aufpassen, habe ich ihm gesagt, dass er besser wird als diejenigen, die unsere Türme erdacht und errichtet haben. Er meinte, das wäre ja wohl nicht so schwer, er hätte so viel Entsetzliches gesehen, dass er einfach nur genau das Gegenteil davon bauen müsste. Das wird er sicher schaffen, denn er hängt sich wirklich rein. Brice ist immer am Zeichnen und Pläne-Entwerfen. Neulich hat er mir sein Traumhaus gezeigt. Was für ein Haus! So etwas hatte ich in echt noch nie gesehen. Man hätte es für ein Foto aus der Zukunft halten können. Ein Haus ohne Mauern. Alles aus Glas. Und das Geniale daran war, dass man genau erkennen konnte, dass es sich um Fenster handelte. Was ja nicht so einfach hinzukriegen ist, schließlich sind sie durchsichtig, aber Brice war es gelungen, die Spiegelung zu zeichnen. Wahnsinn. Ich bewundere Leute mit so einem Talent. Ich schaffe es ja nicht mal, einen Kreis zu zeichnen, der nicht wie ein Viereck aussieht. Hat was mit Konzentration zu tun, nehme ich an. Meine Mutter hat mal einem professionellen Zeichner, dem sie jeden Morgen in der Métro begegnet, ein Familienfoto gegeben. Auf dem Foto steht sie in der Mitte und lächelt, was das Zeug hält, rechts von ihr mein Bruder, total bekifft, und links ich, lächelnd, wie ich damals eben noch lächelte. Eines Tages brachte meine Mutter die Zeichnung mit nach Hause, wir kriegten uns gar nicht mehr ein – wir sahen uns darauf ähnlicher als auf dem Foto.
Unser Familienbild hängt in einem Rahmen im Flur, gleich gegenüber der Wohnungstür, und wenn Sie es sehen könnten, würden Sie sofort die Adresse von dem Zeichner haben wollen.
Und so ist das auch mit dem Haus von Brice, es ist wunderschön, und ich wette, genau so eins würden Sie sich wünschen.
Ich lief schon mindestens fünf Minuten an den Bahngleisen entlang. Auch wenn diese Schienen schon lange keinen Zug mehr gesehen haben, finde ich es immer ein bisschen gruselig, an einem Gleis entlangzugehen. Wie ein Idiot dreht man sich alle zehn Sekunden um. Seltsam, diese verlassenen Orte. In unserer Gegend gibt es sie haufenweise. Und es sind mehr Dinge außer Betrieb, als dass welche funktionieren. Das, was funktioniert, ist extrem anfällig und droht jeden Augenblick den Geist aufzugeben. Meine Schule zum Beispiel – heute ist sie voller Jungs und Mädchen, die zu Hunderten jeden Morgen dorthin gehen. In den Klassenzimmern, auf dem Hof, in der Kantine, in den Fluren – überall ist Leben. Aber eines Tages wird auch meine Schule eine Ruine sein. Und dann wird es ebenso gruselig sein, dort spazieren zu gehen. Es wird mucksmäuschenstill sein, bis auf das Geräusch des Windes – der Wind ist immer der letzte Bewohner. Ein paar Zeichnungen an der Wand oder Skizzen von Physikexperimenten werden an die Schule erinnern, die hier einmal war. An solche Dinge muss ich oft denken, und das deprimiert mich. Ich bin auf dem Schulhof, um zu spielen, und auf einmal stelle ich mir die Ruine vor, die hier eines Tages stehen wird. Wenn ich an den Gleisen entlanggehe, höre ich den Lärm vorbeirauschender Züge und stelle mir die Zeit vor, in der auf diesen Schienen tatsächlich noch welche gefahren sind. Ich habe also ganz offensichtlich eine Macke, ich bin ein Psycho, nie lebe ich im richtigen Augenblick.
Meine Lieblingszeit ist die Zukunft. In der Grundschule war es die erste Zeitform, die ich behalten habe. Die Gegenwart fand ich langweilig, die Vergangenheit traurig.
Beim Überqueren der Gleise schaute ich brav nach links und nach rechts, für den Fall, dass doch ein Zug käme, dann sprang ich über ein Geländer, das kleiner war als ich, und fand mich hinter der Sporthalle wieder.
In dieser Halle haben wir immer Sportunterricht. Wir haben nur zwei Stunden pro Woche, da braucht man sich also nicht wirklich zu wundern, dass nicht viel dabei herausspringt, von wegen Medaillen bei den Olympischen Spielen oder so. In zwei Stunden schafft man es ja kaum, außer Atem zu kommen. Im Winter bleiben wir drinnen und machen Gymnastik. Gymnastik bringt mich um! Ringe, Barren, Pferd, ich hasse das. Erstens finde ich diese Dinge an sich schon total idiotisch, und zweitens habe ich nicht besonders viel Kraft in den Armen. Es gibt Typen, die schwingen sich an den Ringen hin und her wie die Affen und drehen sich um sich selbst und solche Geschichten. Ich dagegen schaffe es nicht einmal, mich hochzuhieven, ohne dass ich denke, ich kugele mir gleich die Arme aus. Es ist eine verdammte Demütigung, weil alle einem dabei zugucken, während man da wie ein Trottel in bescheuerten Shorts rummacht. Auch die Mädchen gucken zu, und weil alle Parallelklassen zusammen Sportunterricht haben, sind Mélanie und ihre Deutschklasse ebenfalls mit von der Partie. Sie sieht natürlich wunderschön aus in Shorts; wenn sie so an einem vorbeischwebt, will man sofort auch welche haben. Die Schüler, die Deutsch lernen, haben wirklich Kraft in den Armen. Sie hangeln sich mit einer Hand am Seil hoch, und man sieht ihnen die Anstrengung nicht an. Ich hingegen muss immer mit den Füßen nachhelfen und noch dann ächze und stöhne ich wie verrückt – man könnte meinen, ich säße auf der Toilette.
So ist es im Winter.
Im Sommer sieht die Sache anders aus. Dann sind wir draußen und laufen unsere Runden um den Fußballplatz. Am Anfang des Schuljahrs geht es langsam los, mit ein, zwei Runden. Doch je mehr Wochen ins Land gehen, desto öfter rennen wir um dieses blöde Feld. Ich habe ausgerechnet, dass, wenn das so weitergeht, uns am Ende des Schuljahres die zwei Stunden gar nicht reichen werden, um die Zahl der Runden zu laufen, die sie uns abverlangen. Als hätten sie es darauf abgesehen, uns zu armen Irren zu machen. Angeblich trainieren wir damit für den Marathon im Juni. Alle Schulen der Stadt nehmen daran teil. Er findet in einem Park in der Nähe des Rathauses statt. Eine Schafherde von mindestens hunderttausend Schülern, die um die Wette rennen. Letztes Jahr habe ich mir die Veranstaltung zusammen mit meiner Mutter angesehen. Ich erinnere mich daran, dass ich tiefstes Mitleid empfunden habe. Ein paar Jungs hatten sich am Startpunkt aufgestellt, um den Läufern nach der nächsten Runde einen Stempel auf die Hand zu drücken, zum Beweis dafür, dass sie auch vorbeigekommen sind, und um den armen Teufeln Wasser ins Gesicht zu schütten – zur Erfrischung und damit sie nicht abkratzen. Zwischendurch hörte sich das dann so an:
»Schneller, du Fettsack … Leg mal ’nen Zahn zu! He, Nummer achtzehn, wenn du ins Ziel einläufst, schlag ich dir den Schädel ein!«
Die Läufer fanden das nur bedingt witzig.
Einer der Jungs am Rand leerte eine kleine Wasserflasche aus, füllte sie mit Wodka und gab sie einem der Läufer. Der Typ trank den Wodka, ohne mit der Wimper zu zucken, er merkte nicht einmal den Unterschied, so fertig war er. Bei der nächsten Runde gaben sie ihm noch mal davon zu trinken. Zum Schluss war der Kerl so sternhagelvoll, dass er nicht mehr geradeaus laufen konnte, sich fürchterlich übergeben musste und zusammenbrach.
Wenn ich daran denke, dass ich diesen Marathon am Ende des Schuljahres auch laufen muss, bekomme ich jetzt schon schlechte Laune.
Wenn während des Sportunterrichts schönes Wetter ist, spielen wir auch mal Fußball. Da blühe ich dann auf! Die Parallelklassen spielen gegeneinander. Und ich will ja nicht angeben, aber unsere ist einfach die beste. Karim und Yéyé sind göttlich, sie haben schon so viel Zeit auf der Straße mit einem Fußball zugebracht, dass wir anderen zwei Leben brauchten, um das aufzuholen. Die schießen jeder mindestens zehn Tore in einem Spiel. Ich schlage mich ganz wacker auf den Flügeln, habe zwar nicht viel Ausdauer, bin dafür aber ein erstklassiger Sprinter. Ich laufe ganz plötzlich los und versuche mit dem Ball bis vorne durchzukommen – was zählt, ist die Ballführung, stundenlang arbeite ich daran beim Training. Dann brauche ich nur am rechten Abwehrspieler vorbeizudribbeln und eine wunderschöne Flanke zu schlagen. Normalerweise zielt Karim auf das Torkreuz und platziert einen Kopfball, oder Yéyé befördert den Ball mit einem Volleyschuss am Pfosten entlang ins Tor.
Während ich hinter der Sporthalle vorbeimarschierte und mir all das durch den Kopf ging, fingen meine Beine auf einmal an zu laufen, als hätte ich einen unsichtbaren Fußball. Das passiert mir oft. Ich nehme einen Kieselstein, einen Karton, eine leere Getränkedose oder auch gar nichts und versuche es auf dem Rand des Bürgersteigs zu balancieren. Ich weiß nicht, was die Leute denken, die mich dabei beobachten. Wahrscheinlich, dass ich ziemlich bescheuert bin. Aber es ist mir eigentlich egal, denn ich weiß ja, was ich da tue.
Ich lief bis zum Parc Colette. Die Tore werden früh am Morgen geöffnet und bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen.
Der Park ist ganz neu angelegt, man hat das Gefühl, alles ist aus Plastik. Die Bäume, der Rasen, die Pflanzen.
Trotzdem finde ich es toll, dass es diesen Park gibt, und da wir uns ständig dort aufhalten, wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis er wie ein echter Park aussieht.
Letztes Jahr sind meine Mutter und ich zur Eröffnung gegangen. Es war schönes Wetter, es war Karneval.
Jedes Jahr Ende Mai wandelt die Cité für einen Tag ihr Gesicht. Ich weiß nicht, wie oft sich etwas wiederholen muss, um zu einer Tradition zu werden, wahrscheinlich kann man in dem Fall noch nicht davon sprechen, so und so ist jener Tag mein Lieblingstag.
Alle verkleiden sich während des Karnevals. Man kann anziehen, was man will, auch wenn die Schulen und die Stadtverwaltung ein bestimmtes Thema vorgeben.
Bisher hatten wir Venedig, dann Asien, Sport und Sportler, die Französische Revolution und, letztes Jahr, das Kino.
Es ist witzig, wenn einem Leute, denen man jeden Tag begegnet, auf einmal als Gondoliere oder als Sportskanone über den Weg laufen. Der dicke Kerl vom Schrottplatz etwa kam in dem Sportler-Jahr als Fußballspieler mit einem – mindestens – zehn Nummern zu kleinen Trikot an und mit Mokassins an Stelle von Stollenschuhen. Und seine Frau als Tennisspielerin war quietschvergnügt darüber, dass sie ihre Beine zeigen durfte.
Die Themen sind zwar festgelegt, aber sie werden immer ziemlich frei interpretiert. Es reicht schon, etwas anderes anzuhaben, um mitzufeiern. Manche binden sich nur eine Krawatte um. Setzen eine Sonnenbrille auf. Frisieren sich anders. Dann gibt es die Exhibitionistenfraktion, die packen die Gelegenheit beim Schopf, um endlich einmal unbehelligt nackt durch die Stadt zu laufen. So zum Beispiel die Familie Bissani, die sich jedes Jahr als Strandurlauber kostümiert. Mal geht es an den Strand von Venedig, mal an einen Strand in Asien, und auch während der Französischen Revolution ist man schließlich an den Strand gegangen. Die meisten Cité-Bewohner waren noch nie am Meer, das Einzige, was sie in der Richtung je gesehen haben, sind die Bissanis zu Karneval.
Ich habe beobachtet, dass fast alle im Viertel nur eine einzige Verkleidung besitzen, die sie sich fürs erste Mal zusammengesucht haben und nun jedes Jahr wieder herauskramen. Einige bemühen sich wenigstens, ihr Kostüm dem jeweiligen Thema anzupassen. Sie pappen zum Beispiel ein dreifarbiges Abzeichen auf einen Kimono. Oder ziehen Boxhandschuhe zum Casanova-Outfit an.
Meine Kumpels und ich gehören zur Kategorie der Leute, die sich überhaupt nicht verkleiden. Wir finden, dass wir keine Clowns sind. Was uns immer eine Standpauke der Stadtverwaltung einbringt:
»Ihr nehmt nicht teil am Leben im Viertel blablabla …«
Ich finde, wir nehmen auf unsere Weise sehr wohl daran teil. Wir sind schon von ganz allein ein ziemlich bunter Trupp!
Die Vorbereitungen dauern ungefähr einen Monat. Das gefällt der Schulleitung, endlich kann sie den Schülern einmal etwas bieten.
Auch Madame Tourtin, unsere Französischlehrerin, ist immer überglücklich, wenn sie uns verkünden darf:
»Kinder, jetzt fangen wir mit den Vorbereitungen für den Karneval an!«
Die ganze Klasse schreit dann: »Yipiiiie!!«
Was sogar ernst gemeint ist – denn es macht wirklich Spaß, Hunderte von Metern Krepp auszurollen, aus dem wir alle möglichen Ornamente und Banderolen schneiden.
Im Centre Guillaume Apollinaire übt das Orchester – eine schmetternde Blaskapelle und brasilianische Trommler – wochenlang die Stücke, die es an dem Tag spielen wird.
Die Stadtverwaltung organisiert außerdem einen Umzug durch das Viertel und, in Zusammenarbeit mit dem Polizeirevier, die Sperrung der Straßen. Nicolas Gasser hat uns erzählt, dass man im ersten Jahr überlegt hatte, ob sich nicht auch die Polizisten verkleiden sollten. Das wäre ja irre gewesen!
Neben dem Umzug sind die beiden anderen wichtigen Ereignisse der Ball und das Feuerwerk.
Der Ball findet im Freien auf einem Platz statt, der Les Palmiers roses heißt. Nicht, dass dort eine einzige rosa Palme stehen würde, ehrlich gesagt steht überhaupt keine Palme dort. Palmen sind nicht die Art von Bäumen, die man bei uns in der Gegend findet. Hier gibt es eher so was wie Platanen, Pappeln und alles, was die Kälte aushält, die Hundepisse, das Grau, das Einritzen von Inschriften … und vor allem die Gleichgültigkeit. (Ich glaube ja, der Name stammt von einem Junkie, der im Vollrausch rosa Palmen auf diesem Platz hat wachsen sehen.)
Girlanden werden aufgehängt, ein Podium für das Orchester errichtet, eine Tanzfläche und lange Tische, an denen die vielen Menschen Platz nehmen können, die für ihr Abendessen bezahlt haben. Meine Mutter reserviert immer drei Plätze. Für meinen Bruder, für mich und für sie selbst. Am Anfang sitzen wir beisammen, dann steht zuerst mein Bruder auf und streunt herum, später gehe auch ich zu meinen Kumpels. Aber meine Mutter ist nie allein. Letztes Jahr hat sie mehrmals mit Monsieur Zanreno getanzt, einem Witwer, der in einem Häuschen in der Rue des Oliviers wohnt. Ich war total vor den Kopf gestoßen. Wieder zu Hause, im Aufzug, machte ich ein so finsteres Gesicht, dass meine Mutter, die in mir liest wie in einem offenen Buch, zu mir sagte:
»Bist du mir böse, weil ich mit Zanreno getanzt habe?«
Nein, wollte ich erwidern, doch stattdessen brach ich in Tränen aus.
Sie schloss mich in ihre Arme und drückte mich fest an sich.
»Ich wollte doch auch ein bisschen Spaß haben, und ich mag Zanreno sehr gern, aber er ist nur ein Freund, das ist alles.«
Das klang schon besser.
Gleich am nächsten Tag hat mich mein Bruder Henry in die Seite geboxt:
»Warum hast du Maman wegen Zanreno angemacht – hat sie nicht das Recht zu tanzen?«
»Ich hab doch gar nichts gesagt!«
»Nein, aber du hast dich aufgeführt wie eine Heulsuse.«
»Ich kann nichts dafür!«
»Lass Maman in Frieden, ja? Sie darf sich auch mal ein bisschen amüsieren.«
»Ist gut.«
Das sagte ich, damit er mich in Ruhe ließ, aber ich weiß genau, wenn ich meiner Mutter noch mal beim Tanzen zusehen muss, wird es mir wieder so ergehen.
Ich kann nichts dafür, ich bin nun mal eifersüchtig.
Punkt Mitternacht wird das Feuerwerk auf dem Dach des Rimbaud-Turms gezündet.
Die Erwachsenen hören auf zu tanzen und zu trinken, die Kleinen zu spielen, die Junkies zu fixen, die zu Hause gebliebenen Anwohner lehnen sich aus dem Fenster, und alle schauen auf zum Himmel, an dem Tausende Farben explodieren. Es ist vielleicht nicht das größte Feuerwerk der Welt, aber beeindruckend ist es dennoch. Und wir sind auch alle ein bisschen stolz darauf. Es müssten bloß öfter welche stattfinden, die Leute sind immer so fröhlich danach. Wenn ich Präsident wäre oder so, ich würde jedes Mal, wenn ich eine Dummheit gemacht hätte, ein Feuerwerk zünden lassen. Das erzählte ich neulich Monsieur Colas, unserem Geschichtslehrer, und wissen Sie, was er geantwortet hat?
»Weißt du, Charly, wenn man das täte, was du sagst, gäbe es jede Nacht ein Feuerwerk, und sogar tagsüber, und am Jahresende müssten wir gucken, wo wir für teures Geld unsere Knallfrösche herkriegen, und obendrein bestimmt noch eine Steuer darauf entrichten.«
Ich liebe Monsieur Colas, er hat sich nie verbiegen lassen. Und während des Unterrichts sagt er Sätze wie:
»Das Leben ist eine lange Krankheit, die zum Tod führt …«
Oder auch:
»Ein Erwachsener ist ein groß gewordenes Kind.«
Ich weiß nicht, weshalb er das sagt, aber mir geht immer ein Licht dabei auf.
Um das Thema Karneval abzuschließen, wollte ich noch erzählen, dass der Umzug um zwei Uhr nachmittags am Rathaus beginnt und am Platz der rosa Palmen endet. Nur im letzten Jahr war es anders, da war im Parc Colette Schluss, weil dieser gerade eingeweiht worden war. Damals lautete das Motto »Kino«, die Wiesen waren bevölkert mit unzähligen Darth Vaders, Marilyns und Charlie Chaplins – ein Gruselkabinett: Marilyn sah wie ein Schreckgespenst aus, und Charlie Chaplin erinnerte an Hitler. Casanova hatte lediglich seine Boxhandschuhe anbehalten und behauptete, Rocky Balboa zu sein; die Bissanis hatten sich als Die Strandflitzer machen Ferien verkleidet.
Aber wir hatten trotzdem unendlich viel Spaß, und an einem solchen Tag will auch keiner dem anderen die Laune verderben.
In der Mitte des Parks gibt es ein Karussell. Dort treffe ich mich häufig mit meinen Freunden. Wir setzen uns auf die Bänke drum herum und schauen zu, wie die Kleinen begeistert in ihren Seifenkisten herumfahren. Ich finde kleine Kinder süß, ich könnte ihnen stundenlang zusehen, wie sie sich über etwas freuen. Und ein weinendes Kind bricht mir fast das Herz, ich würde weiß Gott was darum geben, dass es aufhört.
Wir Großen dürfen nicht mit den kleinen Autos fahren, weil wir zu alt sind. Aber wir hätten eh keine Lust dazu. Außerdem ist der Typ von dem Karussell sowieso ein Vollidiot. Die Stadtverwaltung hat ihm aufgetragen, die Seifenkistchen zu beaufsichtigen. Deshalb macht er sich total wichtig, Sie kennen sicher die Art von Leuten, die bösartig werden, wenn man die Regeln nicht beachtet.
Er heißt Flik-Flak, na ja, das ist nicht sein wirklicher Name, aber für uns heißt er so. Und zwar wegen der Uhr, die er am Handgelenk trägt, und auch wegen der Art, wie er die Uhrzeit ansagt.
Wir ziehen ihn immer auf und fragen ihn:
»Salut, Flik-Flak … Sag mal, wie viel Uhr ist es eigentlich?«
»Es ist Viertel vor … nein … halb vor elf Uhr …«
»Danke, Flik-Flak.«
Was für ein Irrer!
Ich ging an dem Karussell vorbei und fand es zum ersten Mal geschlossen vor. Es öffnet nämlich erst am späten Nachmittag; außer mittwochs und am Wochenende, da ist es ganztags in Betrieb. Genau umgekehrt wie die Schule. Ich setzte mich auf eine Bank und betrachtete die dunkelgrüne Plane, die jetzt heruntergelassen war. Es gibt nichts Schlimmeres als ein abgeriegeltes Karussell! Noch so eine Sache, die ich als Präsident sofort in Angriff nehmen würde: Ich würde anordnen, dass Karussells immer offen sind. Auch nachts. Ich bin mir sicher, dass die Leute sich darüber freuen würden.
Lange bin ich nicht auf der Bank sitzen geblieben. Ich hatte Angst, entdeckt zu werden, und außerdem musste ich ja Henry finden, obwohl es mir ziemlich beknackt vorkam, ihn drüben bei der Bibliothek zu suchen.
Der Parc Colette ist riesengroß, und als ich meinen Magen knurren hörte, befürchtete ich zu verhungern, bevor ich auf der anderen Seite angelangt wäre. Es gab nur alte Leute, die in den Alleen spazieren gingen. Normalerweise, also nach der Schule, meine ich, sieht man nicht so häufig welche, wahrscheinlich überlassen sie den Park dann uns Kids. An diesem Morgen begegneten mir allerdings gut hundert von ihnen. Dabei musste ich an die Rolands denken und daran, dass sie vielleicht aus lauter Sorge inzwischen bei der Polizei angerufen hatten. Die Beamten werden ihnen dann erklärt haben, weshalb sie meine Mutter verhaften mussten. Aber die Rolands gehören nicht zu der Sorte Mensch, die gleich die Polizei verständigt. Monsieur Roland ist eher jemand, der nie telefoniert. Er ruft weder Polizisten noch Ärzte an. Er ist ein ruhiger Typ, der den ganzen Tag lang Bücher liest. Sobald er eines ausgelesen hat, schlägt er das nächste auf. Bei ihm stehen die Bücher übrigens nicht in Regalen wie in einer Bibliothek, sondern sie liegen auf dem Boden, zu turmhohen Stapeln aufgeschichtet.
Letztes Mal, als ich bei ihnen war, fragte ich ihn, ob ich mir ein Buch anschauen dürfte – ich langweilte mich nämlich ein wenig. Er sagte, ich könnte mir so viele Bücher nehmen, wie ich wollte. Ich sah mich um, und tatsächlich hat mich eines sofort angesprungen. Frankenstein. Dann aber dachte ich, dass ich wahrscheinlich als Idiot dastehen würde, wenn ich mich dafür entschied, also suchte ich mir ein sehr dickes mit ledernem Einband, das sehr alt aussah: ein Handbuch über die Elektrizität in Polen, vom Anfang des vorigen Jahrhunderts. Superspannend. Ich hab so getan, als würde es mich völlig faszinieren. Nach einer Weile fragte mich Monsieur Roland, ob mir das Buch gefiele. Total gut, sagte ich, er lachte und gab mir ein anderes, Peter Pan.
Ich hatte es noch nicht ausgelesen, als meine Mutter gehen wollte. Monsieur Roland bot sofort an, es mir auszuleihen.
Er sagte:
»Ich leihe es dir, einverstanden?«
»Ja, Monsieur Roland.«
»Und weißt du, warum ich es dir nicht schenke?«
»Nein.«
»Weil es mich freut, dich wiederzusehen, wenn du es mir zurückgibst.«
Also, es gibt eben doch alte Menschen, die Klasse haben und es verstehen, mit anderen zu reden. Ich habe Monsieur Roland sein Buch bisher nicht zurückgebracht, weil ich noch keine Gelegenheit dazu hatte. Dafür habe ich es inzwischen drei Mal gelesen – ich liebe Peter Pan!
Ich nahm mir vor, die Rolands heute unbedingt zu besuchen. Das Buch hatte ich nun leider nicht dabei, aber nach all dem, was meiner Mutter zugestoßen war, würden sie mir sicher nicht böse sein.
Kaum hatte ich den Park verlassen, sprintete ich los. Ich musste diese Straßenzüge, die mich von der Bibliothek trennten, schnell hinter mir lassen. Sie sind einfach zu hässlich, es ist buchstäblich zum Davonlaufen. Das Problem, wenn man mit leerem Magen rennt, ist, dass einem übel wird. Deshalb packt mir meine Mutter immer etwas zu essen ein, wenn ich Sport habe, Kekse oder Obst zum Beispiel. Am schlimmsten ist es nach dem Schwimmbad. Mann, hab ich einen Kohldampf nach dem Schwimmen, ich könnte alles und jeden danach auffressen. Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon mal aufgefallen ist, es schmeckt alles anders, wenn man aus dem Wasser kommt. Alles schmeckt besser. Wenn ich ein Restaurant hätte, würde ich einen Pool daneben aufstellen und die Leute erst zum Schwimmen schicken, bevor ich sie an die Tische lasse.
Als ich die Marcel-Proust-Bibliothek vor mir sah, hörte ich auf zu rennen. Was sollte ich tun? Ich wusste es nicht und ließ mich auf die Stufen vor dem Eingang sinken. Diese Umgebung konnte einen nur fertigmachen. Ein neues Viertel, so neu allerdings nun auch nicht mehr. Wissen Sie, die Gebäude und die Bäume wurden zur selben Zeit hier gepflanzt, aber die Gebäude sind rascher gealtert, als die Bäume gewachsen.
Vor der Bibliothek gibt es einen riesigen Parkplatz, doch es stand kein Auto dort. Das ist anders als vor dem Carrefour, dort findet man auf Anhieb nie einen Platz und muss sich erst mit anderen prügeln, um sein Auto abstellen zu können. Bestimmt essen die Leute mehr, als dass sie lesen.
Ich stand auf und schlenderte einmal um die Bibliothek herum. Warum der Typ aus dem Einkaufszentrum mich hierher geschickt hatte, um meinen Bruder zu suchen, kapierte ich nicht. Vielleicht wollte er mich nur auf den Arm nehmen. Oder er war tatsächlich so wirr, wie er geredet hatte.
Ich lief wieder zurück zum Eingang und spähte durch die Glastür. Der Innenraum wirkte genauso verlassen wie der Parkplatz. Das Einzige, was sich bewegte, war ein Mann hinter einem Tresen, der Bücher sortierte – und über ihm der Sekundenzeiger einer großen Uhr mit weißem Zifferblatt.