23. KAPITEL

“Ich finde kein Adressbuch!”, rief Clay ungeduldig.

Hunter wusste, dass Madelines Stiefbruder nicht untätig herumsitzen, sondern nach ihr suchen wollte, und dass sie jetzt auch noch in aller Ruhe Harpers Domizil durchforsteten, steigerte seine Ungeduld. Der Grund leuchtete Hunter durchaus ein. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde die Distanz zwischen ihnen und Madeline möglicherweise größer; Harper konnte sie wer weiß wohin entführt haben. Andererseits brachte es nichts, aufs Geratewohl durch die Gegend zu fahren. Man musste Harpers Fährte aufspüren. Das war die einzige Hoffnung.

“Dann schauen Sie mal, ob Sie andere Hinweise finden!”, gab Hunter zurück. “Irgendwelche Zettel oder Zeitungsausschnitte, irgendwas mit Namen oder Nummern drauf. Kleinanzeigen, Quittungen und dergleichen!”

“Hat er Gepäck dabei?”, wollte Clay wissen. “Sind seine Sachen weg?”

Schwer zu sagen. Nach Hunters Eindruck hatte es Harper dermaßen eilig gehabt, dass er nicht allzu viel mitgenommen hatte.

“Da auf dem Küchenfußboden liegt ‘ne Quittung”, rief Clay kurz darauf. “Aus dem Baumarkt!”

“Welches Datum?”

“Von heute.”

Im Schlafzimmer fand sich kein Hinweis darauf, wohin Harper gefahren sein mochte. Daher nahm Hunter sich das Kämmerchen vor, in dem der Rechner stand. Vielleicht hatte er ja bei seinem ersten Besuch nicht genau genug nachgesehen. Eventuell tauschte Harper sich per E-Mail mit jemandem aus oder benutzte bestimmte Internetseiten, die Aufschluss geben konnten über sein Fahrziel. “Was hat er denn im Baumarkt gekauft?”, rief er hinüber zu Clay, derweil er sich gleichzeitig durch den Ordner “Gesendet” klickte.

“Eine Hundekette und ein Stachelhalsband.”

Zwangsmittel! Hunter hielt inne und rieb sich übers Gesicht. Vermutlich suchte Harper ein abgeschiedenes Plätzchen, an das er Madeline bringen und dort ungestört …

Was das bedeutete, wollte er sich lieber nicht ausmalen, obwohl er sich keinen Illusionen hingab. Der Bildschirmschoner sowie die Pornoseiten auf dem Computer sprachen für sich.

Die seelische Apathie, in die Hunter nach der Scheidung verfiel, war verflogen. Jetzt auf einmal von quälenden Gefühlen überwältigt, versuchte er verzweifelt, noch schneller zu denken und zu suchen … sich irgendetwas einfallen lassen.

Wie er bereits zuvor festgestellt hatte, war Harpers Mailbox voller Spam, vermischt mit ein paar Mails von Sexanbietern. Hunter ging nicht näher darauf ein, sondern konzentrierte sich auf Hinweise, die ihn vielleicht zu Madeline führten.

Wohin mochte Harper sie gebracht haben? Doch wohl an einen vermeintlich sicheren Ort …

“Was gefunden?”, fragte Clay.

“Noch nicht.” Panik und Enttäuschung machten sich breit; allmählich gingen ihnen die Alternativen aus. Es musste dringend etwas her, eine Andeutung über ein mögliches Ziel, doch da half auch der Computer nicht weiter. Harper hatte lediglich alle möglichen perversen Internetseiten aufgesucht. Das war alles. Keinerlei …

Dann plötzlich sah er es. Das, was er die ganze Zeit gesucht hatte.

www.TNcabins.com … die schönsten Blockhütten von Tennessee.

Was mache ich bloß … was mache ich bloß … Nervös klopfte Ray mit den Knöcheln auf den wackligen Küchentisch. Er hatte Madeline das Halsband angelegt, um ihr schon mal einen Vorgeschmack von dem zu geben, was ihr bevorstand. Als er es so fest zuzog, dass sie kaum Luft bekam, da hatte ihn die Todesangst in ihrem Blick regelrecht aufgegeilt. Schließlich hatte sie mit geschlossenen Augen nur noch um ihr Leben gerungen. Vermutlich hatte sie da begriffen, wie fein die Grenze zwischen Leben und Tod tatsächlich war – und dass die Entscheidung, ob und wann sie diese Linie überschritt, in seinen Händen lag.

So etwas nannte er Macht. Bei so etwas fühlte er sich unbesiegbar – und ein wenig überdreht dazu. Sie war ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wie damals Rose Lee. Nur war das hier alles noch viel erregender, denn jetzt hatte nicht mehr der Reverend das Sagen. Sondern er!

Wie Barker das wohl gefallen hätte? Seine herzallerliebste Maddy mit so einem Halsband?

Ray grinste. Er wäre außer sich gewesen, na klar. Weil dem, was er da angefangen hatte, letztendlich auch seine Madeline zum Opfer fiel. Andererseits wäre die perverse Sau zum Teil sogar darauf abgefahren. Genauso wie Ray. Möglicherweise hätte er sich den Spaß nicht mal entgehen lassen.

Ray malte sich aus, wie sie sich nach Luft ringend auf dem Bett wand, mit ihren nackten Brüsten völlig seinen Blicken ausgeliefert. Ihr erstes Mal stellte er sich absolut geil vor. Perfekt. Während sie wimmernd unter ihm lag, konnte er sich nach Herzenslust austoben.

Aber gut Ding will Weile haben. Es dunkelte bereits, und er hatte noch keinen Proviant eingekauft. So weit war er noch nicht gekommen, als er ihr über den Weg lief. Da hatte er gerade alles Notwendige von zu Hause geholt und war unterwegs zu ihrem Cottage, um die Lage zu peilen und zu entscheiden, wann und wo er sie sich schnappen würde. Um sich Zugang zu verschaffen, wollte er, falls niemand im Hause war, ein Kellerfenster einschlagen. Später dann, nach Einbruch der Dunkelheit, wenn alles in trockenen Tüchern war, wollte er wiederkommen und sie entführen, und zwar so leise, dass dieser Solozano nicht mal merken würde, dass sie weg war. Falls er sich überhaupt im Hause aufhielt, wohlgemerkt.

Dann kam sie jedoch mit Karacho aus ihrer Zufahrt herausgeschossen und düste geradewegs an ihm vorbei. Allein.

Flugs hatte er gewendet und war ihr hinterhergefahren.

Als sie auf der Farm hielt und Ray merkte, dass kein Mensch da war, da empfand er die Gelegenheit als viel zu günstig, um sie nicht beim Schopfe zu packen. Also hatte er seine Pläne kurzerhand über den Haufen geworfen und beschlossen, schnurstracks zum Blockhaus zu fahren. Aber mit ihr auf der Ladepritsche konnte er natürlich unterwegs nirgends anhalten. Das war zu riskant. Da hätte jemand das Stöhnen hören oder Bewegungen unter der Plane bemerken können.

Hast du genau richtig gemacht, versicherte er sich. Der Strick, die Plane, das Halsband – alles war da. Jetzt konnte er in Ruhe einkaufen gehen, bevor die Geschäfte in dieser gottverlassenen Gegend dichtmachten. Er verließ Madeline zwar ungern, doch andererseits hätten sie sonst am nächsten Morgen nichts zum Frühstück. Ihm knurrte sowieso schon der Magen.

Erst einmal häuslich einrichten, beschloss er, dann konnte es losgehen mit der Orgie. Er wollte sich ohnehin noch eine Digitalkamera zulegen, und außerdem brauchte er Holzbriketts und Feuerzeugbenzin für einige Tage. Danach konnte er sich Madeline voll und ganz widmen. Und nicht zuletzt die besten Momente auf einen Chip speichern – für seinen zukünftigen Internethandel.

Die Holzdielen knarrten, als Ray sich aus dem Sessel stemmte und zu seiner Reisetasche ging. Darin befand sich auch ein Fläschchen mit Schlaftabletten aus seinem Arzneischränkchen. Das Mittel sollte dafür sorgen, dass Madeline bei seiner Rückkehr noch hier sein würde. Nur: Wie viele von den Pillen durfte man ihr unbesorgt geben? Er wollte Madeline ja nur für ein paar Stunden außer Gefecht setzen, nicht für den Rest der Nacht. Das fehlte gerade noch! Schließlich hatte er Großes mit ihr vor, und dafür musste sie hellwach sein.

Hunter hielt sich zurück, als Clay darauf bestand, er werde fahren. Madelines Bruder kannte sich in der Gegend besser aus. Inzwischen hatten sie das Sheriff’s Department von Sevier County alarmiert, und dort hatte man ihnen zugesagt, einen Hilfssheriff zu einer kleinen Ferienanlage namens Misty Mountain Cabins zu schicken. Gleichzeitig wies man sie darauf hin, dass diese Blockhäuser so spät in der Wintersaison nur spärlich angemietet würden. Die Hütten lägen weit auseinander; es werde einige Zeit dauern, sie alle abzuklappern.

Von Beruhigung konnte bei Hunter somit nicht die Rede sein. Er fürchtete, der Hilfssheriff könne zu spät kommen, und außerdem graute ihm bei dem Gedanken, was er womöglich dort vorfinden würde.

Womit hatten sie es hier eigentlich zu tun?

Dass Barker pädophil gewesen war, ließ sich nicht mehr wegdiskutieren. Er war auf einigen der Fotos, die Hunter von Clay bekommen hatte, zu sehen. Wie aber passte Ray Harper in dieses Bild? Man hätte vermuten können, dass Harper den Reverend umgebracht hatte, weil der sich an Katie und Rose Lee verging. Nur war Barker sieben Jahre nach Rose Lees Tod ja immer noch am Leben gewesen – nicht gerade ein Hinweis auf die Spontanreaktion eines Vaters, der soeben erfahren hatte, dass seine Tochter Opfer eines Kinderschänders geworden war. Die Ekelpornografie auf Harpers Computer bewies zudem eindeutig, dass Ray selbst zu sadistischen Perversionen neigte.

Je angestrengter er versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen, desto mehr Fragen gingen ihm durch den Kopf. Was mochte Harper angestellt haben? Und wozu war er wohl sonst noch fähig?

“Halten Sie mal”, rief Hunter, als vor ihnen der Drugstore auftauchte.

Clay guckte ihn verblüfft an. “Was?”

“Ich muss noch etwas einkaufen.”

“Dazu haben wir keine Zeit. Bis zu den Blockhütten, das sind sieben Stunden Fahrt!”

Im Grunde durften sie auf ihre Rettungsaktion keine übertriebenen Hoffnungen setzen. Harpers Vorsprung war zu groß. Madelines Schicksal hing vielmehr von dem Hilfssheriff ab. Das wollte Hunter sich allerdings nicht eingestehen und es erst recht nicht aussprechen. “Dauert nur ‘n Moment. Außerdem muss der Deputy vom Sheriff’s Department jeden Moment in dem Feriengebiet eintreffen.”

Clay zog ein düsteres Gesicht, schwenkte aber nach einigem Zögern doch in eine Parkbucht. “Aber dalli!”, knurrte er und blieb im Wagen sitzen, während Hunter in das Geschäft eilte.

Seinen Dufflebag über die Schulter geschlungen, schlenderte Ray durch die Gänge des Tante-Emma-Ladens, sichtete die Auslagen und überschlug dabei im Kopf, was er bezahlen würde und was er wohl mitgehen lassen konnte. Noch hatte er zwar das Geld von Bubba, doch wenn das einigermaßen langen sollte, musste er clever haushalten.

“Suchen Sie was Bestimmtes?”

Eine Mollige mit rotem Lockenkopf und Stupsnase lächelte ihm von ihrem Sitz hinter der Ladenkasse aus zu. Vor ihr auf dem Tresen plärrte ein Mini-Fernseher, nach dem lauten Gedudel zu urteilen lief offenbar gerade ein Werbebreak.

Er war schon drauf und dran, ihr mit Verschwörermiene zuzuraunen, was er am liebsten gekauft hätte: Sexspielzeuge nämlich. Darauf hätte sie aber vermutlich nicht sonderlich gnädig reagiert, also ließ er es lieber bleiben, um keinen Verdacht zu erregen.

“Ach, schon gefunden … die Gurken hier”, nuschelte er und grinste zurück, während er das Glas mit den größten auswählte und in den Einkaufskorb legte.

“Auf der Durchreise, wie?”, plauderte sie leutselig.

“Nö, ‘n paar Tage bleibe ich schon.” Reden wollte er eigentlich nur, wenn es nicht anders ging, aber an seinen Einkäufen sah sie ja ohnehin, dass er hier nicht bloß einen Boxenstopp veranstaltete.

“Woher stammen Sie?”

“Aus Nashville”, flunkerte er.

“Klasse Stadt.”

Er tat so, als höre er gar nicht hin, und wandte sich zu der kleinen Kühltheke. Da hatte er nämlich eine Tube tiefgefrorenen Plätzchenteig erblickt. Die war noch dicker als eine der Gurken; die konnte er vermutlich ebenfalls gut gebrauchen.

“Von dem Süßkram kann man glatt süchtig werden”, bemerkte die Mollige.

Er schmunzelte in sich hinein. Wenn die wüsste!

Die Rothaarige widmete sich ihrem Reklameprogramm. “Falls Sie was brauchen, melden Sie sich.” Damit vertiefte sie sich wieder in ihre Sendung.

Ray nickte und setzte seinen Einkaufsbummel fort. Da betrat eine neue Kundin den Laden, offenbar eine Bekannte der Kassiererin, denn die zwei fingen sofort an, laut über die Kneipe zu debattieren, die offenbar gleich neben dem Geschäft eröffnen sollte. Der mollige Rotschopf war strikt gegen ein solches Etablissement in unmittelbarer Nähe und teilte das der Kundin auch dermaßen vehement mit, dass Ray anscheinend total in Vergessenheit geriet. So konnte er rasch klammheimlich ein paar Sachen in seinem Duffle verschwinden lassen.

“Ich habe keine Lust, morgens bei Geschäftsbeginn erst die zerdepperten Bierflaschen vom Parkplatz zu fegen”, maulte die Kassiererin gerade, als Ray an die Kasse kam.

“Also wirklich!”, bekräftigte die Bekannte kopfschüttelnd, wobei sie Ray höflich vorbeiließ.

Die Rothaarige teilte ihm die Gesamtsumme mit. Er bezahlte und wandte sich schon zum Ausgang, da stach ihm plötzlich noch etwas ins Auge: ein Verkaufsdisplay, an dem vergoldete Ohrstecker hingen.

“Was kosten die?”, fragte er und hielt ihr ein Paar hin.

“Sechs neunundneunzig.”

Er erinnerte sich, wie seine Mutter mal seiner Schwester mit einer Nadel und einem Eiswürfel die Ohrläppchen durchstochen hatte. Eine Methode, die sich gewiss auch auf andere Körperteile anwenden ließ, nicht wahr?

Seiner Ansicht nach sprach nichts dagegen.

Er legte die Ohrstecker auf den Kassentresen und zog einen Zehndollarschein hervor. “Und dazu noch ‘n paar Nähnadeln.”

Madeline erlebte das Pochen dumpf und verschwommen, als läge sie lebendig begraben in einem Sarg, direkt neben ihrem Vater. Sie hatte das Gefühl, als schwebe sie gleichsam über der Szene, als sehe sie sich und ihn, Seite an Seite, aus der Vogelperspektive – sie selber zwar leichenblass, aber ansonsten unversehrt, er ein grausiges Skelett mit ein paar Haarbüscheln und vermoderten Hautfetzen. Ein schauriger Anblick, so schaurig wie auch sonst in ihren Albträumen. Nur jagte er ihr diesmal keine Angst mehr ein. Sie konnte ihm ja sowieso nicht entkommen, sich nicht einmal bewegen; ihr Körper regte sich nicht. Tot. Leblos wie Bubba, als er ausgestreckt auf seinem Fußboden lag …

Doch das war ihr egal. Hauptsache, die Schmerzen waren fort. Die Angst ebenfalls. Es gab keinen Ray, keine Drohungen, keinerlei Bewegung.

Nur dieses hartnäckige Klopfen … Woher kam das bloß?

“Hallo?”, drang wie von ferne eine Stimme zu ihr durch. “Hier ist Brian Shulman! Von der Hausverwaltung! Ich bin hier mit einem Deputy. Ist jemand zu Hause?”

Verzerrt und unwirklich klang sie, die Stimme, und Madeline spürte, wie sich in ihrer Magengegend auf einmal ein merkwürdig angespanntes Flattern regte. Deputy? Ein Hilfssheriff? Das war doch gut, oder? Etwas drängte sie, auf diese Stimme zu reagieren, doch sie brachte keinen Ton heraus und war sich ohnehin nicht ganz sicher, ob sie es überhaupt sollte.

Im Übrigen: Falls das ein Trick war, was dann? Wenn die Stimme in Wirklichkeit die von Ray war? Er hatte sie gewarnt, er würde sie bei einem Fluchtversuch streng bestrafen.

Da blieb sie besser an Ort und Stelle, in diesem dunklen Versteck … im Schrank …

Schrank? Schlagartig meldete sich ihre Erinnerung zurück: Ray hatte ihr mit Gewalt diese Tabletten eingeflößt, sie dann in den Kleiderschrank gesperrt und vor dem Schließen der Tür noch Decken auf sie draufgepackt. Und mit einem Mal ging ihr auch auf, dass sie sich keineswegs in einem sicheren Versteck befand. Im Gegenteil, sie war in Lebensgefahr! Spätestens bei Rays Rückkehr! Das hatte er ihr ja angedeutet – und dabei dieses Drosselhalsband zugezogen!

Sie spürte das schwere Lederband am Hals. Er hatte es ein Loch lockerer gespannt, damit sie während seiner Abwesenheit nicht erstickte, aber trotzdem schnitt es ihr in die Haut. Deswegen hatte sie ja die Tabletten geschluckt, von denen sie jetzt diesen abscheulichen, bitteren Nachgeschmack im Mund hatte. Eigentlich hatte sie sich wehren wollen, doch sie konnte ja kaum Luft holen, sodass ihr bereits schwarz vor Augen wurde.

Was war bloß in jenen Sekunden geschehen? Wohin war Ray gefahren? Wann würde er zurück sein? Und was sollte sie nun tun?

Benommen, immer noch wie betäubt, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen.

“Ich komme vom Sheriff”, tönte jetzt eine zweite Stimme. “Hallo? Ist da jemand?”

Ja, ich! Verzweifelt bemühte sie sich, diese beiden Worte zu schreien, doch es kam ihr kein Ton über die Lippen. Undeutlich nahm sie wahr, wie jemand herumging, Türen öffnete, durch den Flur polterte. Ja, sie konnte sich sogar vorstellen, dass da der Strahl einer Taschenlampe herumwanderte.

“Mr. Harper? Sind Sie da?”

Der Rufer, so hörte sie jetzt, kam in ihr Zimmer. Madeline nahm sich vor, um sich zu treten, mit dem Kopf gegen die Schranktür zu stoßen, sich zu winden, zu zappeln – alles, um sich bei dem Unbekannten jenseits der Tür bemerkbar zu machen. Doch sie war völlig gelähmt; ihre Muskeln versagten den vom Gehirn kommenden Befehlen den Dienst, mochte sie sich auch noch so anstrengen.

Nochmals versuchte sie zu sprechen, doch da merkte sie es: Der Knebel war wieder da! Vorher hatte sie ihn gar nicht gespürt, doch nun schnitt ihr der Baumwollfetzen erneut in die Lippen, sodass sie die Kiefer nicht mehr bewegen konnte. Dabei musste er wohl die ganze Zeit im Mund gesteckt haben.

Du musst stöhnen! Schreien! Egal was!

Die Schranktür glitt zur Seite. Madeline flehte zum Himmel, dass irgendetwas von ihr unter dem Deckenberg hervorlugen möge oder dass Ray etwas Verdächtiges hatte liegen lassen, damit die beiden Männer genauer nachschauten. Aber im nächsten Augenblick ging die Schiebetür schon wieder zu.

“Was gefunden?”, rief jemand von weiter weg.

“Ein unberührtes Bett und ‘nen Stapel Bettzeug.” Der Mann, der den Schrank aufgeschoben hatte, entfernte sich. Das Knarren der Bodendielen ließ das erahnen.

Nein! Nun auch noch hyperventilierend, stellte sie fest, wie ihr der kalte Schweiß aus allen Poren brach. Im ganzen Leben hatte sie sich nicht so hilf- und wehrlos gefühlt. Sie konnte weder sprechen noch sich bewegen; sie konnte nur lauschen. Und ihre Aufregung machte alles noch schlimmer; die aufkommende Panik brachte sie schon erneut an den Rand der Bewusstlosigkeit. Je verzweifelter sie zu sprechen versuchte, desto näher rückte der Sturz in die Schwärze.

Das Letzte, was sie bewusst mitbekam, war, wie jemand sagte: “Hier muss vor Kurzem noch jemand gewesen sein. Ist aber alles in Ordnung. Kein Entführungsopfer.” Offenbar benutzte er dabei ein Funkgerät; man hörte Rauschen und Quäken.

Madeline merkte noch, wie sich eine einsame Träne aus ihrer Wimper löste. Dann wurde es Nacht um sie.

Hunter saß auf dem Beifahrersitz in Clays Kleinlaster und riss die Verpackung von der gerade gekauften Lupe.

“Wozu soll das gut sein?” Seit sie Harpers Behausung verlassen hatten, war Clay die meiste Zeit schweigsam gewesen. Entschlossen, die Fahrt zu den verstreut liegenden Blockhütten in etwa der Hälfte der veranschlagten Zeit zu schaffen, fuhr er die ganze Zeit Vollgas und überholte auf Teufel komm heraus. Doch Hunter kümmerte das nicht. Je länger er über Harper nachdachte, desto mehr fürchtete er um Madelines Leben. Selbst Bubba Turks Tod kam ihm inzwischen nicht geheuer vor. Am Herzinfarkt zu sterben, das konnte ja durchaus passieren. Wer aber hatte die Katze totgeschlagen?

Wie verbrecherisch mochte der Kerl sein? Er hatte doch nicht etwa vor, Madeline umzubringen! Es war Barker gewesen, der Katie ermordet hatte, seine erste Frau womöglich auch. Der fromme Reverend hatte zu viel zu verlieren gehabt, falls die Wahrheit ans Licht gekommen wäre.

Was aber war mit Rose Lee geschehen? Nach dem angeblichen Selbstmord im Wohncontainer ihres Vaters hatte man das Mädel nackt daliegend aufgefunden. Hunter war das von Anfang an suspekt gewesen.

Allmählich ahnte er, wieso …

“He, kriege ich mal ‘ne Antwort?”, fragte Clay gereizt, da Hunter weiterschwieg.

Hunter holte die Fotos aus der Parkatasche. “Ich möchte mir die hier mal genauer angucken.”

Clay setzte schon wieder zum Überholen an. “Wonach suchen Sie denn?”

“Weiß ich selber noch nicht. Irgendeinen Hinweis, was passiert sein könnte und wer dazugehört.”

“Ich kann Ihnen sagen, wo die meisten aufgenommen wurden.”

“Wo denn?”

“In Barkers Arbeitszimmer auf der Farm oder in seinem Pfarrbüro.”

“Und die anderen?”

“Da ist kein Hintergrund erkennbar. Alles Nahaufnahmen.”

Das stimmte allerdings. Die Verzerrung auf den Bildern ließ vermuten, dass Barker die Kamera selbst vom eigenen Körper abgehalten und dann auf den Auslöser gedrückt hatte. Bei wieder anderen hatte er beide Mädchen einzeln oder zusammen fotografiert – immer in eindeutigen Posen. Die Bilder machten Hunter dermaßen rasend, dass er fast Verständnis dafür aufbrachte, dass Clay und Irene diesem Schwein schließlich in die Parade gefahren waren. Leider konnte er Clay nicht einmal fragen, was passiert war, denn auf einmal wollte er sich die Einzelheiten gar nicht mehr antun, ganz zu schweigen von der schweren Last, die auf ihn wartete, wenn er Madeline die Wahrheit sagen musste. Außerdem tat er sich schwer mit der Entscheidung, ob er mit dieser ganzen schmutzigen Geschichte zur Polizei gehen sollte oder nicht.

“Kennen Sie Harper schon seit Ihrem Umzug hierher?” Er dachte lieber nicht darüber nach, wo das alles einmal enden mochte – Maddy womöglich schwer verletzt oder gar tot, die Montgomerys hinter Gittern. Niemand hatte Clay gezwungen, die Fotos auf den Tisch zu legen. Mit ihrer Enthüllung setzte er alles aufs Spiel, was er bisher so sehr zu verbergen versucht hatte. Madeline zuliebe hatte er es bedenkenlos getan. Ohne die Aufnahmen hätte Hunter nie und nimmer Harpers Behausung aufgesucht, weder die Katze noch Barkers Predigten entdeckt und auch nicht gewusst, wo er nach etwaigen Hinweisen auf Madelines Verbleib suchen musste. Madeline wäre einfach spurlos verschwunden; kein Mensch hätte gewusst, wo man überhaupt hätte anfangen sollen.

Nach Hunters Auffassung war Clay damit mehr als rehabilitiert. Er hatte sich für seine Stiefschwester geopfert. Allerdings gab es einige, die vermutlich nicht so großzügig mit der Vergangenheit umgingen …

“Kennen schon, aber anscheinend nicht gut genug”, brummte Clay. “Sonst …”

Sonst? Er ließ den Satz unvollendet; Hunter sollte sich offenbar selbst einen Reim darauf machen. Sonst hätte er besser auf Madeline achtgegeben? Sonst hätte er Harper längst unschädlich gemacht?

Da saß er nun, direkt neben einem mutmaßlichen Mordkomplizen – und dennoch war Clay für ihn einer der anständigsten Menschen, die ihm je über den Weg gelaufen waren.

Es war geradezu paradox. Allerdings blieb ihm nun keine Zeit mehr, über solche Feinheiten zu grübeln. Er musste sich konzentrieren, ungeachtet der Angst, ungeachtet der Fülle von Fragen, die ihm durch den Kopf schwirrten. Die Fotografie, die er gerade durch die Lupe betrachtete, zeigte den Rand eines eingebauten Fensterventilators. Vermutlich stammte die Aufnahme aus dem Farmbüro. Madeline hatte ja eine Lüftungsanlage erwähnt, die dort einmal benutzt worden sei. Seit seinem Besuch in ebendiesem Zimmer konnte Hunter sich den Schauplatz lebhaft vorstellen. Das war aber auch alles. Ansonsten war nichts zu erkennen, das ihm weitergeholfen hätte.

Er nahm sich das nächste Foto vor. “Was ist Harper denn so für ‘n Typ?”, fragte er gedankenverloren.

Clay überholte gerade und scherte zwischen zwei Fahrzeugen wieder ein. “Eigentlich ein ganz unscheinbarer”, erklärte er. “Ging immer seine eigenen Wege. Dachte ich jedenfalls. Er tat mir leid wegen seiner Tochter.” Clay schüttelte den Kopf, als mache er sich Vorwürfe, dass er die Anzeichen nicht früher erkannt hatte. Dabei hatten auch andere die nicht wahrgenommen. “Für gemeingefährlich hätte ich den nie gehalten.”

“Da sind Sie wohl nicht der Einzige.” Hunter zog noch eine Aufnahme hervor, diese wieder an einem anderen Ort geknipst. Im Hintergrund war die Ecke eines Schreibtisches zu sehen. “Wo ist das hier?”

Er reichte sie Clay, der beim Fahren kurz einen Blick darauf warf. “In der Kirche.”

“Meine Güte”, entfuhr es Hunter. “Ist ja widerwärtig! Der Gipfel der Heuchelei!”

“Stimmt”, bestätigte Clay schlicht.

Hunter hatte sich inzwischen das dritte Bild vorgenommen. Auch dieses schien in der Kirche aufgenommen worden zu sein. Man sah denselben Schreibtisch, doch auf dieser Aufnahme vollführte Katie sexuelle Handlungen an Rose Lee, wohingegen Barker auf der Aufnahme nirgendwo auftauchte. Fast hätte Hunter es schon beiseitegelegt, da fiel ihm etwas ganz am Rande auf, das ihn stutzig machte.

“Dieses Schwein”, murmelte er.

“Wer?”, fragte Clay.

Fassungslos schüttelte Hunter den Kopf. “Ihr Stiefvater war nicht allein, als er die Mädchen quälte.” Er blickte hinüber zu Clay, der jedoch den Blick nicht erwiderte. Seine einzige Reaktion war ein Zucken in der Wange.

“Was soll das heißen?”

“Man sieht ein Stückchen von ihm. Ganz am Bildrand.”

“Stückchen?”

“Sein Knie oder so was Ähnliches.”

“Woran erkennen Sie das denn?”

“Wenn man genau hinguckt, sieht man, dass er dieselbe Hose anhat wie auf den anderen Fotos.”

“Hose an?”, knurrte Clay sarkastisch. “Ich habe da meist nur nackte Haut gesehen.”

“Auf dem Bild, wo er mit Katie drauf ist, da kann man’s erkennen. Ganz unten. Da kringelt sich die Hose um seine Knöchel.”

Tiefe Falten gruben sich in Clays düstere Miene. Vermutlich tat er sich schwer damit, über die Fotos zu reden. Klar, er wurde ja unausweichlich an den Leidensweg seiner eigenen Schwester erinnert – und an das, was mutmaßlich als Folge dieses Leidensweges geschah. Kaum vorstellbar, wie grauenhaft das für einen 16-jährigen Jungen gewesen sein musste. “Er ist auf vielen der Fotos”, wandte er ein.

“Schon, aber auf diesem hier ist er nicht nah genug dran, als dass er die Kamera selbst gehalten haben könnte. Er ist ja selber auf dem Bild – beziehungsweise sein Hosenbein. Das muss jemand anderes fotografiert haben.”

Jetzt endlich wandte Clay sich Hunter doch zu. Sein harter Blick bohrte sich blitzend in Hunters Augen. “Sie meinen, Harper hätte sich an seiner eigenen Tochter vergangen?”

Hunter nahm die Lupe herunter. Mad-dy, hier ist dein Dad-dy … Spreiz die Beine für mich … Ja, Schätzchen …? Auf dich war ich immer schon scharf …

Genau das war’s: Die Vorstellung von Inzest wirkte auf Ray Harper sexuell erregend!

“Ja.” Den Blick stur geradeaus gerichtet, verfolgte Hunter den gestrichelten Mittelstreifen der Straße. Verschwommen rasten die Streifen vorbei – für ihn allerdings nicht schnell genug. Was mochte Harper mit Maddy vorhaben?

Man konnte nur hoffen, dass die Beamten der Sheriffwache sie bereits ausfindig gemacht hatten. Er hatte sich vorhin noch telefonisch dort gemeldet und nachgefragt, jedoch von einer Frau mit näselnder Stimme lediglich die Auskunft erhalten: “Wir kümmern uns drum.”