4. KAPITEL

Madeline redete sich ein, dass es sich wieder einmal um einen Trittbrettfahrer handelte. Von diesen Leuten hatte sie eine ganze Menge Anrufe erhalten, fast alle mit dem Versprechen auf neue Informationen, die sie dann doch nie erhielt. Aber diesmal kam ihr die Sache nicht geheuer vor. Die Anruferin hatte so nervös gewirkt, so verlegen, so … so echt eben!

Irene beobachte sie mit sorgenvollem Blick. “Was ist passiert?”

“Verwählt.” Sie rang sich ein lahm wirkendes Lächeln ab; zu etwas anderem konnte sie sich nicht aufraffen. Die Worte der Anruferin hingen bedrohlich über ihr wie die grauen Wolken draußen vor dem Fenster. Wer konnte hinter dem Anruf stecken? Wenn diese Unbekannte tatsächlich eine Augenzeugin war – wieso trat sie dann einen Schritt vor und meldete sich zu Wort? Warum diese diffusen Andeutungen? Madeline besaß eine ganze Liste von Leuten, die angeblich dieses oder jenes gesehen haben wollten. Aber keiner konnte mit Sicherheit sagen, wohin ihr Vater an jenem letzten Tag nach dem Verlassen der Kirche verschwunden war.

Eine Bewegung am Fenster riss sie aus ihren Grübeleien. “Da kommt Pontiff”, meldete Irene. In diesem Moment trat Toby auch schon durch die Haustür. In seinem Dienstregenmantel vermittelte er einen ausgesprochen amtlichen Eindruck.

Schlagartig war die Anruferin vergessen. “Hallo, Chief?”, fragte Madeline gespannt. “Haben Sie etwas gefunden?”

Tropfnass auf der Fußmatte stehend, musterte er Irene flüchtig und nickte Madeleine zu. “Kann ich dich mal unter vier Augen sprechen?”, fragte er sie mit ernster Miene.

Madeline war sich unschlüssig. Einerseits hätte sie gern zugesagt, weil sie dann das Gesagte erst einmal sacken lassen konnte, ohne gleich darüber nachdenken zu müssen, wie ihre Stiefmutter darauf reagierte. Andererseits konnte sie sich schwerlich mit ihm in die winzige Bürotoilette verdrücken. Und sonst bestand die Redaktion lediglich aus einem großen Raum, der von ihrem Arbeitsplatz und einem überdimensionierten Drucker eingenommen wurde. Irene am Schreibtisch sitzen zu lassen und mit McCormick in einer Ecke zu tuscheln – das allerdings war völlig ausgeschlossen. Das hätte Irene zu Recht als Kränkung aufgefasst. Und Madeline gab sich stets große Mühe, anderen beizubringen, ihrer Mutter mit Achtung zu begegnen. “Das geht schon so. Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Mutter.”

Er wollte widersprechen, überlegte es sich aber anscheinend im letzten Moment anders. “Ich möchte euch keine übertriebenen Hoffnungen machen, aber wir haben heute Morgen Gegenstände entdeckt, die sich eventuell als Spuren erweisen könnten.”

“Eventuell?”, echote sie, wobei sie spürte, wie ihr Puls schneller schlug. “Um was genau handelt es sich denn?”

“Zum einen haben wir ein paar kurze Haarsträhnen sicherstellen können.”

“Die nicht von meinem Vater stammen?”

“Die Haarfarbe ist Schwarz.”

Sie ahnte, was er als Nächstes sagen würde, und kam ihm zuvor. “Wie die von Clay.”

Der ihn da hineingesteuert hat, das war Clay …

“Richtig.”

“Das besagt doch gar nichts!”, fauchte Irene.

Die Montgomerys hatten so häufig unter Verdacht gestanden, dass Madeline ihrer Mutter den aggressiven Tonfall kaum verübeln konnte. Nur stand zu befürchten, dass sie mit dieser Einstellung bei Pontiff keinen Blumentopf gewinnen würde. Also erstickte Madeline die bei ihr aufkeimenden Zweifel mit der Zuneigung und dem Respekt, die sie für ihren Bruder empfand.

“Mom hat recht. Wahrscheinlich findet ihr in dem Wagen auch Haare von mir. Von Grace und Molly ebenfalls. Wir sind jede Woche mit dem Cadillac zum Gottesdienst gefahren.”

“Clays Haare in dem Wrack – da kannst du auch gleich feierlich erklären, ihr hättet seine DNA in unserem Haus entdeckt!”, lästerte Irene.

Die Aversion in Tobys Blick entging Madeline keineswegs. Nicht genug, dass ihre Mutter in der Stadt nicht ohnehin schon in Verruf geraten war, viele Bürger lasteten ihr auch noch die Schuld am Absturz von Chief McCormick an. Wahrscheinlich gehörte Pontiff ebenfalls dazu. An dem, was sich neun Monate zuvor abgespielt hatte, konnte allerdings weder Madeline noch sonst jemand etwas ändern. Im Gegensatz zu dem Rätsel um ihren Vater, war das Techtelmechtel zwischen dem früheren Polizeichef und Irene keine bloße Mutmaßung, sondern allgemein bekannt.

“Die Haare steckten zwischen Kopfstütze und Sitzoberkante”, erläuterte Pontiff.

“Ja, und?”, fuhr Irene ihn an.

“Am Fahrersitz, wohlgemerkt.”

Clay durfte mit dem Cadillac allerdings nie fahren. Das stand sogar in Madelines polizeilichem Vernehmungsprotokoll.

“Vielleicht hat er heimlich mal eine Spritztour unternommen”, meinte Irene.

Pontiff bewegte kaum die Lippen. “Etwa zum Baggersee?”

“Das lässt sich doch mit den gefundenen Haaren gar nicht beweisen!” Allmählich schlich sich so etwas wie Panik in Irenes aggressiven Ton.

Madeline, die das bemerkte, trat näher und fasste nach Irenes Hand. “Dass er mal hinterm Lenkrad gesessen hat, das muss doch nichts mit dem Verschwinden meines Vaters zu tun haben. Das kann auch aus anderen Gründen geschehen sein!”

“Zum Beispiel?”, hakte Pontiff nach.

Blitzschnell dachte sie sich ein plausibles Szenario aus. “Na, den Wagen beiseitefahren etwa. Weil der dem Trecker im Wege stand.”

Die Haare hatten nichts zu bedeuten. Wie der Anruf von vorhin. Wie all die Unterstellungen zuvor. Wenn ihr Stiefbruder der Täter sein sollte – wo blieben dann die Beweise?

“Dann wäre da noch etwas”, fuhr der Chief fort.

Madeline merkte, wie sich ihr der Magen schmerzhaft zusammenzog. “Was denn?”

“Ein Köfferchen.”

“Ihr habt einen Koffer gefunden? Wo befand der sich denn, als wir am Steinbruch waren?”

“Ist eher eine kleine Reisetasche. Wir haben sie im Kofferraum entdeckt, unter dem Reserverad.”

“Aber mein Vater hat von seiner Kleidung doch gar nichts mitgenommen.”

“Es waren auch keine Kleider drin. Sondern ein Stück Strick.”

Ihr Magengrimmen wurde schlimmer. “Was denn für ein Strick?”

“Leider nur ein stinknormales, handelsübliches Seil. Wie man es in jedem Baumarkt kriegt.”

“Ist nichts Auffälliges daran? Irgendwas, an dem man erkennen könnte, woher es stammt?”

“Aus meiner Sicht nicht.”

Eine herbe Enttäuschung, wie sie nicht verhehlen konnte. “Ja, dann … meinst du, es wurde benutzt, um meinen Vater zu fesseln?” Das Bild, das sie damit heraufbeschwor, war ihr selbst zuwider. Andererseits durfte sie auch nicht aus lauter Angst vor dem, was ihr Vater möglicherweise durchgemacht hatte, vor schwierigen Nachfragen zurückschrecken.

Pontiff fühlte sich erkennbar unbehaglich. “Ich glaube nicht, dass das Seil für deinen Vater bestimmt war”, sagte er. “Es befand sich nämlich noch etwas in der Tasche.”

Madeline wechselte einen bangen Blick mit ihrer Stiefmutter. “Spann uns nicht weiter auf die Folter, Chief!”

Er senkte die Stimme, bis Madeline ihn kaum noch verstehen konnte. “Da war auch … also, in der Tasche fanden wir auch einen … Dildo.”

Ihr war, als hätte ihr jemand mit voller Wucht eine Zentnerlast auf die Schultern gepackt. Schlagartig ließ sie Irenes Hand los. “Einen … bitte was?”

Chief Pontiff war puterrot angelaufen. “Na, so ein Sexspielzeug … so ein künstlicher Phallus … einen Dildo eben.”

“Was hat denn so ein Ding im Kofferraum meines Vaters zu suchen?” Inzwischen schrie sie fast.

Sein Gesicht färbte sich noch dunkler. “Keine Ahnung. Ich hoffe aber, dass wir DNA-Material gewinnen können.”

Irene griff sich an die Brust. “Nachdem so viel Zeit vergangen ist?”

Dass Pontiff sich nicht von Irene festnageln lassen wollte, lag auf der Hand. Dazu war sie ihm nicht sympathisch genug. Da sie aber nun einmal zugegen war, versuchte er, einen gewissen Grad von Professionalität zu wahren. “Der Dildo selbst befand sich in einer versiegelten Frischhaltetüte. Falls er …” – er musste sich räuspern – “… falls er vor dem Eintüten nicht abgewaschen wurde, haben wir vielleicht eine Chance.”

Irene wurde blass. “Und was sagt uns das?”

“Vielleicht gibt es irgendwo ein Opfer, das mit einem anderen Fall in Zusammenhang steht. Ein Fall, bei dem es möglicherweise Zeugen oder Hinweise gibt, die uns eventuell weiterhelfen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine DNA-Probe von dem … dem Gegenstand nehmen können, ist gering. Noch unwahrscheinlicher scheint mir, dass wir die jemandem zuordnen können. Egal, wir müssen nehmen, was wir kriegen können.”

“Aber dieser Jemand”, wandte Irene kopfschüttelnd ein, “dieser Zusammenhang, den du da konstruierst – der könnte doch überall und nirgends liegen! Vielleicht hat Lee auf dem Heimweg einen Anhalter mitgenommen! Und der hat ihm das Ding in den Kofferraum getan, ehe er den Wagen im Baggerloch versenkte!”

Sie hatte häufig die Vermutung geäußert, ein Tramper oder Landstreicher müsse da seine Hand im Spiel gehabt haben. An dem betreffenden Tag aber, an dem Madelines Vater verschwand, war niemandem eine unbekannte Person aufgefallen. Und das in einer Stadt, in der jeder jeden kannte und in der man allem Neuen mit einer gehörigen Portion Misstrauen begegnete. Da wäre ein Fremder unter Garantie aufgefallen wie ein bunter Hund.

Pontiff betrachtete seine Stiefelspitzen. “Und dann war da noch etwas in dem Köfferchen”, murmelte er mit einem niedergeschlagenen Unterton.

Wie bitte? Sollte es etwa noch schlimmer kommen?

“Und was?”, fragten Madeline und Irene wie aus einem Munde.

Er hob den Blick. In seiner Wange zuckte ein Muskel. “Drei kleine Schlüpfer. Von der Größe her für etwa elf- bis zwölfjährige Mädchen.”

Mit einem Male wurde Madeline schwindelig. Ein Seil, ein Dildo und drei Mädchenslips, gemeinsam versteckt, egal wo – das allein war eine Vorstellung, bei der ihr regelrecht übel wurde. Zweifellos galt das auch für Chief Pontiff. Er hatte drei Kinder, allesamt Mädchen.

“Demnach wurde mein Vater von einem Kinderschänder umgebracht?”, fragte sie atemlos.

“Zumindest spricht einiges dafür.”

Aber wie konnte es überhaupt angehen, dass sich so jemand unter ihnen bewegt hatte? Einer, der nicht davor zurückschreckte, das geistliche Oberhaupt der Stadt zu ermorden? Und auch noch straflos davonkam? Stillwater war ein eher harmloses Pflaster – ganze fünfzehntausend Einwohner, wenig oder gar keine Kriminalität, von überführten Triebverbrechern gar nicht zu reden!

Trotz ihres Gedankenwirrwarrs um einen klaren Kopf bemüht, fasste Madeline den Chief am Arm. “Du, Toby …” In diesem Moment war er für sie nicht der Polizeichef, sondern der Ehemann ihrer Jugendfreundin, der Junge, den sie ihr Leben lang gekannt hatte. Ein mitfühlender Mensch wie sie selbst. “Könnte es sein, dass sich so einer meinem Vater anvertraut hat? So jemand mit abartigen sexuellen Neigungen? Sicher, es gibt zwar das Beichtgeheimnis, aber manches muss man doch melden … Vielleicht hatte mein Vater ja vor, diesen … diesen kranken Kerl anzuzeigen, und wurde deswegen umgebracht!”

“Das ging mir auch schon durch den Kopf”, räumte er ein.

“Wenn es jemand war, den mein Vater gut kannte, vielleicht sogar achtete – stell dir mal vor, wie beschämend das für diesen Mann gewesen wäre!”

“So einer setzt wahrscheinlich alle Hebel in Bewegung, um zu verhindern, dass er auffliegt.”

“Eben! Also, was hast du nun vor? Alle männlichen Gemeindemitglieder vernehmen?” Das war bereits einmal geschehen. Nur hatte man jetzt einen Grund, genauer hinzusehen.

“Möglicherweise. Aber erst einmal müsst ihr zwei mit mir auf die Wache.”

“Wozu das denn?”, entfuhr es Irene.

“Um festzustellen, ob ihr das Köfferchen und die Slips kennt. Wir müssen doch wissen, wem sie früher mal gehört haben könnten.”

“Du glaubst doch nicht etwa, das wären meine?”, fragte Madeline. Erst als Irene ihr den Arm um die Schulter legte, bemerkte sie, wie schrill ihre Stimme geworden war. Der Gedanke aber, die Höschen in diesem Koffer könnten von ihr oder einer anderen Bekannten stammen, der war zu grausig, um ihn überhaupt in Erwägung zu ziehen.

“Woher soll ich das wissen?”, sagte Pontiff achselzuckend. “Aber ich würde es gerne rausbekommen. Ist doch logisch, dass man da mit der Familie anfängt.”

Das war in der Tat nachvollziehbar. Wäre diese Entdeckung nur nicht so ausgesprochen widerlich gewesen!

“Madeline geht das zu sehr an die Nieren”, bemerkte Irene. “Ich mache das schon.”

Abwehrend hob Madeline die Hand. “Nichts da, ich komme selbstverständlich mit! Wir alle beide!”

“Gut.”

Sie fasste den Chief beim Ellenbogen. “Dir ist doch klar, was das beweist, oder?”

Offenbar konnte er ihr aber nicht folgen. “Beweisen? Was denn?”

“Dass die Vincellis und ihre ganze Anhängerschaft unrecht haben!” Noch während sie sprach, schnürte ihr etwas die Kehle zu – sehr zu ihrer Überraschung. “Clay ist es nicht gewesen.”

“Maddy …”, hob er an.

Aber sie ließ sich nicht unterbrechen. “Mein Stiefbruder kommt dir und vielen anderen möglicherweise verschlossen und unnahbar vor. Aber bevor er einem Kind etwas antun würde, brächte er sich lieber selbst um.”

Pontiff entfuhr ein Seufzer. “Der Schein trügt eben oft, Maddy”, sagte er mitfühlend.

Damit ließ es Madeline noch lange nicht bewenden. “Er würde sich einem Kind nie unsittlich nähern”, beharrte sie heftig. “Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Er mag ja jähzornig sein und stur und …” – sie rang nach der passenden Beschreibung – “… und ungehobelt. Aber er ist nicht pervers!”

“Er hatte eine schwere Kindheit”, wandte Pontiff bedächtig ein. “Die kann einen Menschen fürs Leben zeichnen.”

Es war das erste Mal, dass Toby in ihrer Gegenwart so etwas wie eine menschliche Regung erkennen ließ. Normalerweise war ihr Stiefbruder zu selbstsicher und zu stark, um auf jedermann gleich sympathisch zu wirken … trotz seiner Vergangenheit.

“Er hat ja auch seine Narben davongetragen”, gab sie zu. “Aber für die Kleineren, die Schwächeren, die sich nicht so wehren konnten wie er, für die hat er sich immer eingesetzt. Dir kann doch nicht entgangen sein, wie sehr seine Stieftochter ihn anhimmelt!”

Pontiff legte seine Hand auf die ihre. “Eben weil er eine Stieftochter hat, darf ich deine Einschätzung nicht ohne Weiteres übernehmen, Maddy. Ich muss die Fakten prüfen. Begreif das doch!”

Sie begriff nur eins: Es wurde Zeit, Clay zu entlasten und den wahren Mörder zu entlarven. Möglich, dass die Fakten bisher nicht gerade für ihren Bruder gesprochen hatten. Jetzt hingegen taten sie es, davon war sie mehr denn je überzeugt. Und sollte die Polizei sich als unfähig erweisen, den Fall aufzuklären, musste man eben dafür sorgen, dass Hunter Solozano die Sache im Alleingang erledigte.

Gemeinsam mit ihrer Stiefmutter saß Madeline auf der Polizeiwache und wartete darauf, dass Grace eintraf. Der Regen hatte endlich aufgehört, doch angesichts des dunklen, wolkenverhangenen Himmels war offenbar weiterhin mit schlechtem Wetter zu rechnen.

Ratternd wirbelte ein Heizlüfter Warmluft in den Raum. Officer Radcliffe, der in einer Ecke vor einem Aktenschrank stand, glänzte der Schweiß auf der Stirn – ein Zeichen, dass das Gerät funktionierte. Madeline hingegen wollte und wollte es nicht warm werden. Nicht nach dem Anblick der Utensilien, die von der Polizei im Kofferraum ihres Vaters entdeckt worden waren.

“Bist du sicher, Maddy?”, flüsterte Irene.

Madelines Zunge fühlte sich pelzig und schwer an. Sie zwang sie dennoch dazu, ihren Dienst zu verrichten. “Ganz sicher.”

“Ich kann mich aber nicht daran erinnern. Und damals trugen doch viele der jungen Mädchen Bikinis als Unterwäsche.”

Madeleine hatte sie jedoch nicht an der Form wiedererkannt, sondern vielmehr an dem Aufdruck auf der Rückseite, einer Insel mit einem auf eine Palme kletternden Affen. Vermutlich kannte auch Irene die Abbildung. Sie sperrte sich nur dagegen und tat lieber so, als wäre es Zufall oder eine Verwechslung. “Ich weiß es hundertprozentig!”, zischte Madeline.

Eigentlich wollte sie gar nicht so gereizt reagieren, konnte aber ihre Ungeduld nicht verbergen. Irene war nicht mehr die Jüngste, und ihre Fähigkeit, Stress auszuhalten und zu bewältigen, war nicht mehr so ausgeprägt wie früher. Doch Madeline war so fertig und durcheinander, dass ihr momentan einfach die Energie fehlte, etwas schonender mit ihrer Stiefmutter umzugehen.

Wieso lag Graces erste zweiteilige Wäschegarnitur – ein Weihnachtsgeschenk von Madeline – zusammen mit einem Seil und einem Dildo in einem fremden Reisetäschchen? Als das Auto verschwand, da war Grace doch gerade mal dreizehn Jahre alt gewesen!

“Wenn du dir so sicher bist bezüglich dieses … dieses Slips, dann ist es doch gar nicht nötig, Grace extra herzubestellen!”, befand Irene.

“Mom, bitte!”, entgegnete Madeline.

Chief Pontiff schaute von seinem Schreibtisch auf. Ihre Blicke begegneten sich, und als Madeline sich mit finsterer Miene abwandte, beugte auch er sich wieder über seine Arbeit. Madeline war ihm dankbar, dass er sie einfach in Ruhe ließ, statt ihnen Kaffee aufzudrängen oder dergleichen. Sie wusste, er hatte sofort an ihrem Gesichtsausdruck erkannt, dass ihr die Höschen nicht fremd waren, als er den Inhalt der Tasche zur Besichtigung auf dem Tisch drapierte.

Das Bestürzende waren ja nicht nur die Schlüpfer allein. Sondern der Zusammenhang, in dem sie mit diesem grotesk riesigen Kunststoffphallus standen.

Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen. Bei dem Gedanken, dass sich ein Sittlichkeitsverbrecher an Grace herangemacht hatte, und zwar in einem Alter, in dem sie diese Slips getragen hatte, wurde ihr erneut ganz flau im Magen.

“Gott steh uns bei!”, wisperte sie und massierte sich die Schläfen. Der Kopf tat ihr weh, wenn auch nicht so schlimm wie das Herz. Grace hatte in der Pubertät Probleme gehabt, daran konnte sie sich noch gut erinnern. Etwa deshalb, weil sie belästigt worden war? Oder – schlimmer noch – missbraucht? Von so einem abartigen Schwein?

Ausgeschlossen. Dann hätte sie doch bestimmt etwas angedeutet …

Insgeheim wusste Madeline jedoch, dass sie sich etwas vormachte. Missbrauchsopfer schämten sich hinterher oft zu sehr, um sich mit ihrem schrecklichen Geheimnis jemandem anzuvertrauen.

“Wehe, es hat sie einer angefasst”, murmelte sie. “Dann gnade ihm Gott!”

Ihre Stiefmutter sprang auf. “Ich will Clay anrufen!”

Madeline blinzelte erschrocken. “Soll er sich das etwa auch noch ansehen?” Sie deutete ohne hinzuschauen auf die Unterhöschen und den riesigen Phallus, der beinahe über den halben Tisch reichte.

“Ich … ich brauche ihn aber an meiner Seite”, stammelte Irene.

Bei dem leicht hysterischen Tonfall meldete sich postwendend Madelines Gewissen, auch weil sie Irene kurz zuvor so lieblos behandelt hatte. Diese schroffe Art hatte ihre Stiefmutter nicht verdient, schenkte sie ihr doch die Liebe und Zuneigung, nach der sich Madeline als Heranwachsende so sehr sehnte. Hätte es keine Irene gegeben – der Himmel mochte wissen, was dann aus ihr geworden wäre!

“Das schaffen wir schon”, flüsterte sie in der Hoffnung, das werde sie trösten. “Wir kommen auch alleine klar.”

“Nein!” Trotzig schüttelte Irene den Kopf.

“Aber du kennst doch Clay! Wenn er das hier sieht, dann dreht er noch durch! Und wir wollen Grace die Sache doch nicht peinlicher machen als unbedingt nötig. Wenn da etwas Schlimmes vorgefallen ist, hat sie es offensichtlich für richtig gehalten, es uns zu verschweigen. Was meinst du, wie schwer es ihr fallen wird, hier und heute alles zuzugeben? Zumal in aller Öffentlichkeit.”

“Dann sorg doch dafür, dass sie gar nicht erst zu kommen braucht!”, sagte Irene, die Hand an Madelines Arm.

Erneut blickte Chief Pontiff auf, doch ein Kommentar war im Grunde überflüssig. Madeline wusste auch so, dass er sich nicht würde erweichen lassen. Grace musste bestätigen, was Madeline nach anfänglichen Minuten schockierten Schweigens ausgesagt hatte. “Es lässt sich nicht umgehen, fürchte ich.”

“Dann muss Clay auch kommen”, forderte Irene. “Grace braucht ihn zur Unterstützung.”

“Ich würde ihm das hier lieber ersparen”, sagte Madeline, doch es war zu spät. Irene eilte bereits zu einem der unbesetzten Schreibtische und schnappte sich kurzerhand das Telefon.

Zuerst wollte Madeline sie vom Telefonieren abhalten. Aber eigentlich war sie insgeheim froh darüber, dass ihr Stiefbruder nun vermutlich zu ihnen stoßen würde. Zumindest konnte er sich um Irene kümmern, bis Madeline die Sache hier einigermaßen im Griff hatte.

In dem Moment öffnete sich die Tür und Grace und ihr Ehemann Kennedy Archer traten in das Büro, beide Hand in Hand. Kennedy trug, ganz geschäftsmäßig, einen seiner maßgeschneiderten Anzüge; Grace hingegen legere Freizeitkleidung, bestehend aus Jeans, australischen Wildlederstiefeln und einem schicken Pullover. Trotz der Jahreszeit und des unfreundlichen Wetters verbarg sie ihre Augen hinter einer Sonnenbrille.

Sie igelt sich ein. Sie ahnt, dass etwas im Busch ist! Auf einmal war Madeline wenig begeistert mitzuerleben, was nun kommen musste.

Kennedy grüßte alle mit einem knappen Hallo. Sein vorsichtiger Umgang Grace gegenüber ließ allerdings vermuten, dass er besorgt war. Seine Frau nickte den Anwesenden nur wortlos zu.

“Grace, Kennedy, vielen Dank, dass ihr euch herbemüht habt.” Chief Pontiff war, kaum dass er sie erblickt hatte, aufgestanden und begrüßte Kennedy mit Handschlag. Er bot auch Grace die Hand, doch sie reagierte nicht. Ihr Blick verharrte auf den Gegenständen, die auf dem papierbezogenen Tisch lagen.

“Wo liegt das Problem?”, fragte Kennedy mit leiser, vorsichtig klingender Stimme.

Pontiff winkte die beiden näher heran und erklärte ihnen, dass die Beweisstücke vor ihnen in dem geborgenen Cadillac gefunden wurden. Grace ließ sich von ihrem Mann zu dem Tisch führen. Über ihren feinen Wangenknochen spannte sich die Haut. Kurz darauf schwankte sie, so als habe sie einen Schwächanfall. Madeline trat hinzu und griff sie bei der Hand, während Irene weiterhin an der Tür verharrte und Clays Namen vor sich hin murmelte.

“Erkennst du irgendeinen von diesen Gegenständen?”, fragte der Chief.

Kennedy erstarrte. “Grace …”, sagte er kaum hörbar. Die Art, wie er den Namen aussprach, zeugte von einer unendlich innigen Zuneigung.

Als Pontiff auf den Koffer wies, schüttelte Grace verneinend den Kopf, ebenso bei dem Dildo, dem Seil und den Slips. Erst als er auf den Bikini mit dem Äffchen zeigte, brach sie ihr Schweigen. “Der da gehörte mir.”

Von Panik ergriffen, rang Grace nach Luft. Dass diese Identifizierung auf eine Tortur hinauslief, das hatte sie erwartet. Sie hatte sich aber nicht vorstellen können, um wie viel schlimmer es dadurch wurde, dass Madeline dabei anwesend war. Chief Pontiff ließ sie ebenfalls nicht aus den Augen, wenn auch mit ausdrucksloser Miene. Selbst Officer Radcliffe, der seitlich vor einem Aktenschrank stand und so tat, als ordne er Schnellhefter ein, beobachtete die Szene aus den Augenwinkeln.

Ihrer aller Zukunft hing von den folgenden Minuten ab – und von Graces Überzeugungskraft. Und das, obwohl ihr war, als ertrinke sie in einem Meer schmerzvoller Erinnerungen.

“Hast du eine Erklärung dafür, wie dein Bikini in den Kofferraum von dem Cadillac gelangt ist?”, wollte Pontiff wissen.

“Nein.” Sie wünschte, sie hätte die Kraft aufgebracht, die Sonnenbrille abzusetzen und Pontiff direkt in die Augen zu schauen. Sie hatte selbst genügend Zeugen beraten, um genau zu wissen, wie man die eigene Glaubwürdigkeit steigerte. Doch sie brachte es nicht über sich. Aber dass Kennedy ihr die ganze Zeit fest die Hand hielt, war ein mahnender Hinweis darauf, dass die Dinge auf dem Tisch zu einem früheren Leben gehörten. Ihr jetziges hingegen drehte sich um ihren Mann und die Kinder. Dieser Gedanke allein bewahrte sie vor dem totalen Zusammenbruch. Und Kennedy war fest entschlossen, sie heil durch diese Sache zu bringen. Sie spürte regelrecht, wie er sie ohne Worte dazu aufforderte durchzuhalten – und am Ende zu triumphieren. Zum Besten aller Beteiligten.

Lass nicht zu, dass dein Stiefvater gewinnt! Er darf nicht als Sieger hervorgehen! Das sagte er jedes Mal, wenn die Schatten der Vergangenheit ihr Lebensglück bedrohten. Bis heute hatte sie seinen Ratschlag stets befolgt.

Stumm gelobte sie sich, ihren Mann nicht zu enttäuschen, ungeachtet jenes furchtbaren, stechenden Gefühls, das ihr so deutlich im Gedächtnis haften geblieben war. Mochte sie sich auch noch so sehr vor allem verschließen – vor dem stinkenden Atem ihres Stiefvaters, dem lüsternen Stöhnen und Grunzen, dem grellen Blitz der Polaroidkamera, wenn er sie in bestimmten Positionen fotografierte, wie sie für ein Mädchen nicht schutzloser ausfallen konnten.

Pontiff nahm den Faden wieder auf. “Es hat also niemand das Seil oder die … die anderen Gegenstände hier dazu benutzt, dir in irgendeiner Form etwas anzutun?”

Ein Schweißtropfen rann ihr zwischen den Schulterblättern hinunter.

Madeline drückte ihren Arm, als sei alles nicht so schlimm, als würde sich nichts ändern, wenn sie bejahte. Doch Grace wusste, dass das nicht stimmte. Unter Aufbietung aller verbliebenen Kräfte gelang es ihr, einen pikierten Ton in ihre Stimme zu legen. “Natürlich nicht!”

“Also hat sich dir niemand … nun ja … unsittlich genähert?”, fragte Pontiff. “Als junges Mädchen, meine ich?”

Sie hob selbstbewusst das Kinn. “Wer hätte denn so etwas schon tun sollen?”

“Genau das wollen wir ja herausfinden”, erwiderte er.

Plötzlich flog die Tür auf, und Clay kam hereingestürmt. Sein dichtes schwarzes Haar stand ihm vorn zu Berge, als sei er sich zu oft mit der Hand hindurchgefahren.

Grace hätte vor Scham im Boden versinken mögen. Dass sich Clay die Sachen dort auf dem Tisch überhaupt ansehen musste! Sicher, er wusste von ihrem Martyrium, aber von Barkers Untaten nur zu wissen oder seine Utensilien jetzt mit eigenen Augen anschauen zu müssen – das war ein himmelweiter Unterschied. Clay hatte sowieso schon ein schlechtes Gewissen, weil er damals nicht schon eher etwas bemerkt und seine Schwester nicht beschützt hatte. Die Gegenüberstellung jetzt, die verschlimmerte seine Schuldgefühle vermutlich noch.

Er musterte sämtliche Anwesenden, und als er den Blick dann zu den auf dem Tisch angeordneten Gegenständen schweifen ließ, war seine Miene wie versteinert. Seine blauen Augen glommen düster vor lauter Aufgewühltheit. “Was geht hier vor?”

Während Kennedy ihm die Sachlage erklärte, fürchtete Grace schon, Clay könne womöglich seine Gefühle nicht im Zaume halten. Seine immer grauer werdende Gesichtsfarbe verriet ihr, wie sehr ihm der bloße Gedanke an ihren Leidensweg zusetzte. Dass sie sich nun so um ihn sorgte, machte es ihr leichter, mit ihrer eigenen Qual umzugehen.

“Irgendwer muss meinen Bikini gestohlen haben”, sagte sie, als Kennedy geendet hatte. “Ich weiß aber nicht, wer oder wann das war. Oder wem wohl die anderen Slips gehören.”

Letzteres stimmte sogar. Nach ihrer Kenntnis war sie das einzige Opfer ihres Stiefvaters gewesen. Was also hatte die andere Unterwäsche zu bedeuten? Dass es noch weitere Opfer gab?

Die Vorstellung, dass andere Mädchen vielleicht dasselbe erdulden mussten, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken und ließ sie erschauern. Sie kämpfte jedoch eisern dagegen an. Diese Frage musste bis später warten. Im Augenblick hatte sie mit sich selbst genug zu tun und durfte sich nicht noch zusätzlich belasten.

Vom Rande des Geschehens meldete sich ihre Mutter zu Wort. “Ich habe immer unsere gesamte Wäsche auf die Leine gehängt.” In Anbetracht von Irenes Gemütszustand war diese Erklärung eine willkommene Hilfe. Sicher, sie waren damals so arm, dass sie sich einen Wäschetrockner nicht hatten leisten können. Aber bei aller Liebe: ihre Mutter schien gefährlich nah an dem Punkt zu sein, die Fassung zu verlieren. Grace fürchtete, sie könne womöglich alles verraten – falls Clay es nicht schon vor ihr tat.

Sie straffte die Schultern und nahm ihre Sonnenbrille ab. “Stimmt. Und das bedeutet, dass sich so ziemlich jeder bedienen konnte. Ich gehe davon aus, dass sich derjenige, der meinen Bikini mitgehen ließ …” – sie zeigte auf den Tisch, äußerlich bewusst sachlich und professionell, innerlich aber vor Angst zitternd, was hoffentlich niemandem auffiel – “… in einem Stadium des Fantasierens befand.”

“Das ist jetzt zwanzig Jahre her”, warf Pontiff ein. “Wenn er sich noch auf freiem Fuß befindet, ist er wahrscheinlich mittlerweile über dieses Stadium hinaus.”

Grace fixierte ihren Blick angestrengt auf seinen akkurat gestutzten Schnauzbart. “Hat es denn Anzeigen in dieser Richtung gegeben, Chief?”

“Das nicht, aber diese … Dinge werden oft auch gar nicht gemeldet.”

“Das stimmt allerdings”, murmelte sie, als sähe sie die Sache genauso objektiv wie er.

“Wer es auch gewesen sein mag – jedenfalls hat er Lee umgebracht und sich dann aus dem Staub gemacht”, befand Irene.

Pontiff trug seine Skepsis so demonstrativ zur Schau wie seine Dienstmarke. “Aber sonst ist keiner aus der Stadt einfach verschwunden.”

“Ein Obdachloser war das”, betonte Irene, indem sie etwas näher kam. “Ein Rumtreiber. Kann gar nicht anders sein. Wieso glaubt mir das keiner?”

Clay legte den Arm um sie und bat sie, sich nicht aufzuregen. Madeline zog derweil Grace mit sanfter Gewalt vom Tisch zurück. “Mike Metzger, der wohnte doch nur einen Katzensprung von uns entfernt”, argwöhnte sie. “Könnte er den Bikini vielleicht geklaut haben?”

Madeline hatte sich schon seit Langem auf Mike als Hauptverdächtigen eingeschossen. Eine Woche vor seinem Verschwinden hatte ihr Vater den damals 19-jährigen Mike beim Kiffen auf der Kirchentoilette ertappt und prompt angezeigt. Mike hatte sich daraufhin mit wüsten Drohungen revanchiert, doch die Verdachtsmomente gegen ihn reichten nicht für ein Ermittlungsverfahren. Gegenwärtig saß er eine Freiheitsstrafe ab, weil er in seinem Keller synthetische Drogen hergestellt hatte. Madeline ließ ihm auch im Gefängnis keine Ruhe und schickte ihm regelmäßig vorwurfsvolle Briefe.

Grace holte Luft und wollte schon etwas sagen, doch ehe sie ihren Einwand loswerden konnte, kam Chief Pontiff ihr zuvor. “Wir können ihn ja fragen. Er kommt in ein paar Tagen raus.”

“In ein paar Tagen?”, echote Irene. “Aber er sollte doch noch zwei Jahre absitzen!”

“Nein, nicht mehr. Er wird auf Bewährung vorzeitig entlassen.”

Mike Metzger konnte einem beinahe leidtun, dachte Grace. Sicher, er war ein unangenehmer Zeitgenosse, aber ein Mörder ganz sicherlich nicht. Und jetzt, nach der Entlassung aus der Haft, geriet er vermutlich gleich wieder in einen Sog aus ungeklärten Fragen zu Reverend Barkers Verbleib.

Sie musterte ihren Bruder. Ob dem wohl ebenfalls gerade Mikes Unschuld durch den Kopf ging? Vermutlich nicht, denn momentan starrte er über Irenes Kopf hinweg die auf dem Tisch liegenden Gegenstände an. Die dick hervortretende Halsschlagader verriet ihr, dass der Anblick ihn so tief traf, wie sie vermutet hatte. Sie hakte sich bei ihm unter und rieb die Wange an seiner Schulter, um ihm zu verstehen zu geben, dass man sich das endlich gefundene Lebensglück nicht durch diesen Fund zunichte machen lassen durfte.

“Wie geht’s Allie?”, fragte sie, als wolle sie ihn daran erinnern, was sie beide zu verlieren hatten.

Er blinzelte verwirrt und ließ Irene los, die in ihrer Handtasche nach Papiertaschentüchern kramte. Grace spürte, wie er nach Fassung rang, doch erst als Madeline hinzutrat, brachte er eine Antwort zustande. “Gut. Allie ist …” Seine Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug. “… ist halt Allie”, schloss er lakonisch, als sei der Name allein Glücksbringer genug. Genau das hatte Grace bewirken wollen.

“Alles in Ordnung?”, fragte Madeline.

“Alles bestens”, knurrte er und streckte seinen Nacken. “Aber wer das Zeug da in den Kofferraum getan hat, ist eine perverse Drecksau”, sagte er und verließ schnellstmöglich den Raum.

Grace schaute ihm erleichtert nach. Er hatte bewusst ist gesagt, nicht war. Beide hatten sie diese Situation bravourös gemeistert. Mit etwas Glück wuchs bald Gras über den Fund, und alle konnten wieder zum normalen Alltag zurückkehren.

Während Madeline dem Chief für seine Bemühungen dankte, stupste Grace ihren Mann an, um ihm zu signalisieren, dass sie das Treffen ebenfalls für beendet ansah. Mit der Unterwäsche und den anderen Utensilien in einem Raum – das konnte sie nicht viel länger aushalten. Sie war nicht mehr dieselbe Person, die sie damals gewesen war. Die Gracie, die damals wiederholt zähneknirschend ertragen musste, von ihrem Stiefvater missbraucht zu werden, die gab es nicht mehr. Die Gracie, die alles stumm über sich ergehen ließ, war tot. Ihren Schmerz, ihre Unzulänglichkeiten, ihre Bedürfnisse – all das würde die erwachsene Grace nicht mehr an sich heranlassen.

Schon halbwegs zur Tür gewandt, hörte sie dann aber Madeline etwas sagen, das sie wie angewurzelt innehalten ließ. “Wie lange wird es in etwa dauern?”

“Hängt vom Labor ab. Vielleicht ein paar Wochen, vielleicht auch Monate. Ohne konkreten Verdächtigen können wir die schwerlich zur Eile drängen.”

Grace wandte sich um. “Hast du etwa vor, die Sachen auf DNA-Spuren untersuchen zu lassen?”

Chief Pontiff nickte.

“Und welche von denen?”

“Sämtliche Gegenstände.”

“Aber das ist doch zwanzig Jahre her! Da hat sich die DNA doch längst biologisch abgebaut!”

“Nicht unbedingt. War ja alles luftdicht abgeschlossen.”

Grace merkte, wie Kennedy ihr die Hand drückte, als wolle er sie zur Vorsicht mahnen. Vermutlich klang sie panisch, doch darauf nahm sie jetzt keine Rücksicht. “Was soll das denn bringen, so ein genetisches Profil?”

Pontiff verstand nicht recht. “Was das bringen soll?”

“Das hilft doch nur weiter, wenn man einen Abgleich mit jemandem machen kann”, erklärte sie. “Und ihr habt ja nicht mal ein Opfer!”

Die Hände noch in denselben Einweghandschuhen, mit denen er die Gegenstände vorher zurechtgelegt hatte, steckte er die Utensilien nun in eine braune Papiertüte. “Schon, aber wie ich bereits zu Madeline sagte: Es könnte ja vergleichbare Fälle geben. Außerdem kann man nie wissen, auf was man künftig noch so stößt. Nicht wahr?”

Pontiff, der ihren beruflichen Hintergrund kannte, ging offenbar davon aus, dass sie ihm unumwunden zustimmen musste. Also tat sie es auch. Die ganze Zeit aber betete sie zum Himmel, er möge verhüten, dass die Wissenschaftler im Labor die erhofften Spuren fanden. Taten sie es doch, war ihr klar, um wessen DNA es sich handeln würde. Sie wusste auch nur zu gut, dass man diese Spuren dann auch dem Slip würde zuordnen können, den sie soeben als den ihren identifiziert hatte.