8. KAPITEL

Der Gäste-Anbau ähnelte dem eigentlichen Haupthaus, das Hunter an ein Landhaus im mediterranen Stil erinnerte, wie man es gerne in Filmen verwendet. Allerdings bestand die umgebaute Garage aus nur einem Zimmer und einem kleinen Bad.

“Riecht ein bisschen muffig hier”, bemerkte Madeline. “Wegen dem Regen habe ich lange nicht durchgelüftet.” Sie zündete eine Duftkerze an und zeigte Hunter die Räumlichkeiten. Für ihn roch der Raum alles andere als unangenehm, sondern wie nach frischer Bettwäsche, vermischt mit einem Hauch von Madelines Parfüm.

“Hier befinden sich saubere Handtücher.” Sie öffnete einen künstlich auf alt getrimmten Wäscheschrank, der vor dem Badezimmer stand – vermutlich passte er nicht hinein –, und wies auf einen penibel gefalteten blau-weißen Stapel.

Er nickte. Eine heiße Dusche kam ihm gerade recht. Dann wartete hoffentlich ein weiches Bett auf ihn und ungestörtes Durchschlafen bis zum Morgen.

Sie trat an den gemauerten Kamin, der zusammen mit einigen roh gezimmerten Regalen eine ganze Wand einnahm. “Falls Sie sich ein Feuer anmachen möchten – Holz ist genug da”, sagte sie und klappte den Deckel der gleich danebenstehenden Kiste auf.

Der Geruch von Pinienholz und Terpentinöl durchzog den Raum und weckte in Hunter Erinnerungen an einen Campingurlaub, den er mit seiner Familie im Yosemite Nationalpark verbracht hatte. Die Ehe mit Antoinette hatte sich gleich von Anfang an schwierig gestaltet, aber Maria hatte darin immer einen Lichtblick dargestellt. Er wusste noch, wie er sie beim Wandern auf den Schultern trug, wie er ihr über die glitschigen Findlinge half, die in dem Bach lagen, in dem sie häufig badeten. Herrgott, sie fehlte ihm so, die Kleine …

Als er merkte, dass Madeline auf eine Antwort wartete, klopfte er gegen die kleine Klappe an der Kistenrückwand. Die ließ sich so öffnen, dass man die Scheite von außen auffüllen konnte. “Praktisch.”

“Der Kamin müsste reichen, damit haben Sie’s mollig warm.”

Das galt wohl auch für das dicke Daunenoberbett.

Madeline strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. “Fernsehen gibt es hier draußen leider nicht”, erklärte sie, indem sie sich Hunter zuwandte. “Kühlschrank auch nicht. Wenn Sie etwas brauchen, können Sie ruhig rüberkommen. Schlüssel liegt unter der Fußmatte. Passt für beide Schlösser.”

“Da käme ein Einbrecher nie im Leben drauf”, flachste er etwas sarkastisch.

“Hier draußen gibt’s so gut wie keine Kriminalität.”

“Meines Wissens aber zumindest einen Vermissten.”

Sie fixierte ihn einen Moment. “Falls Sie meinen, der Schlüssel sei da nicht sicher, nehmen Sie ihn an sich. Sie brauchen ja sowieso einen eigenen.”

“Das werde ich tun, vielen Dank.” Hunter packte den Laptop auf den Schreibtisch unter dem einzigen Fenster, lehnte den Gitarrenkoffer gegen die Wand und ließ sich rücklings auf das massive Himmelbett plumpsen. Ausgesprochen gemütlich, stellte er fest. Wie ein entlegenes Jagdhaus mitten im Wald. Nicht gerade Hawaii, aber Los Angeles auch nicht, und darüber war er erstaunlich froh. Es ging ihm zunehmend auf die Nerven, das ereignislose Dasein, das er seit seiner Scheidung fristete. Ganz besonders das Leben in seinem leeren Haus, in dem sich außer ihm nichts bewegte.

“Im Unterschrank im Badezimmer finden Sie frische Zahnbürsten, Seife, Shampoo und die Haarspülung in der Dusche.”

“Danke.”

Sie lächelte müde. “Entschuldigen Sie mein Verhalten am Flughafen. Ich hätte etwas höflicher sein können.”

“Halb so wild”, brummte er. Er selber hatte sich auch nicht von seiner besten Seite gezeigt.

An der Tür hielt sie inne. “Meinen Sie, ich werde je erfahren, was mit meinem Vater geschehen ist?”, fragte sie ernst.

“Durchaus.” Hoffentlich versprach er ihr nicht zu viel! “Die Möglichkeit besteht … durchaus.”

Die Sonnenstrahlen, die durch die Spalten des Vorhangs drangen, weckten Hunter schließlich auf. Er öffnete die Augen in Erwartung der weißen Zimmerdecke in seinem Hotel auf Hawaii. Stattdessen blickte er auf gewachste Holzbalken, und als ihm dann kurz darauf der Duft von feuchtem Holz und frischen Laken in die Nase stieg, da fiel ihm alles wieder ein. Er befand sich in einem Landhaus. In Mississippi. In einer ehemaligen umgebauten Garage, die einer Frau namens Madeline Barker gehörte.

Ohne besonderen Grund griff er sich sein Portemonnaie und zog das Kondom mit der Strip-Reklame heraus. Auf der Verpackung stand: “Bud’s Babes – die schärfsten Miezen weit und breit”.

Um für etwaige Versuchungen keine Hintertür offenzuhalten, schnippte er das Ding in den Mülleimer. Eine Minute später fischte er es allerdings wieder heraus und steckte es ins Portemonnaie zurück. Anschließend warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass Madeline um punkt acht Uhr an die Tür klopfen würde. Sie hatte gesagt, sie sei im Besitz einiger Polizeiakten, die sich mit dem Verschwinden ihres Vaters beschäftigten. Ein Beweis dafür, dass sich die Vorschriften umgehen ließen, so man nur die richtigen Leute an den entsprechenden Stellen kannte. Er hatte sich vorgenommen, früh aufzustehen, um sie gleich durchgehen zu können. Es war aber schon zehn. So lange hatte er schon seit Urzeiten nicht mehr geschlafen. Seit Schluss war mit dem Alkohol.

Er putzte sich die Zähne, fuhr sich mit einem Kamm durch die Mähne und streifte dieselben Sachen über, die er schon am Vortag getragen hatte. Solange sein Gepäck noch nicht nachgeliefert war, besaß er nichts zum Wechseln. Dann ging er nach draußen. Der Boden war nach wie vor durchweicht, doch der Regen hatte aufgehört.

Der Pfad aus roten Pflastersteinen, der zu Madelines hinterer Veranda führte, schlängelte sich vorbei an einer riesigen Weide, die am Rande eines kleinen Gartenteiches wuchs. Der Garten selbst lag stellenweise noch unter faserigen Dunstschleiern, doch bei Tageslicht ließ sich erkennen, dass es sich um eine sehr gepflegte Anlage handelte, voller Gewächse und Pflanzen, sowohl in Töpfen als auch frei gepflanzt. Unter einer knorrigen Eiche entdeckte Hunter sogar einen Gartentisch mit zwei Stühlen, und an einer Stange daneben wehte das alte Banner der Konföderierten. Die Flagge entlockte Hunter ein Lächeln.

Und wo steckte die Südstaatenschönheit an diesem Morgen? Hatte sie etwa ebenfalls verschlafen?

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Kaum hatte er den Schlüssel unter der Fußmatte entdeckt und nach dem Öffnen in die Tasche gesteckt, da hörte er Stimmen im Inneren des Hauses. Ziemlich laute.

“Das ist zu riskant.”

“Geht dich nichts an.”

Wer stritt sich da?

Sophie, die Katze, die er am Abend zuvor kurz kennengelernt hatte, erhob sich von ihrem vor der Spüle liegenden Läufer, reckte sich und kam dann herüber, um Hunter in Augenschein zu nehmen. Er kraulte sie hinterm Ohr, schon kurz davor, zu seinem Apartment zurückzukehren und zu warten, bis Madelines Besuch gegangen war. Dann aber hörte er, wie sein Name fiel. Und weil sich das Gespräch offenbar um ihn höchstpersönlich drehte, fiel es ihm schwer, einfach zu verschwinden.

“Hunter ist ein Excop, Kirk!”

“Na und? Du kannst nicht wissen, ob er deswegen auch ungefährlich ist.”

“Eins weiß ich jedenfalls: Dass du kein Recht hast, mich aus dem Bett zu klingeln und dann herumzukommandieren!”

“Ich kommandiere dich nicht herum! Ich versuche auf dich achtzugeben!”

“Ach, dass ich nicht lache! Du tauchst doch nicht aus lauter Fürsorge so plötzlich hier auf. Du siehst deine Felle wegschwimmen! Weil ich einen fremden Mann bei mir untergebracht habe!”

Regungslos wartete Hunter auf seine Reaktion. Das war also besagter Kirk, den sie vor sechs Wochen in den Wind geschossen hatte. Der einzige Mann, mit dem sie jemals geschlafen hatte.

Der Kerl war ihm jetzt schon unsympathisch.

“Der wohnt in deinem Gästeapartment”, hörte er Kirk schimpfen. “Das ist für meinen Geschmack eindeutig zu nah.”

Eigentlich war Hunter beim Betrachten seines Kondoms zu derselben Ansicht gelangt. Es war in der Tat verdammt dicht dran. Jetzt aber hätte er das plötzlich vehement abgestritten.

“Wenn er ein Nachbar wäre, würde es auch keine Rolle spielen”, giftete sie zurück.

Sophie rollte sich auf den Rücken und ließ sich den Bauch kraulen.

“Wäre es wohl!” Kirk schrie schon fast. “Du wohnst allein, du hast überhaupt keine Nachbarn! Das ist ein himmelweiter Unterschied!”

Hunter fragte sich, ob er sich vorstellen und ein kurzes Hallo in die Runde werfen sollte. Der Zeitpunkt schien ihm jedoch denkbar ungünstig. Im Augenblick hatte er ja nicht einmal die Möglichkeit, sich zu rasieren. Allerdings wollte er sowieso alle Beteiligten nach und nach befragen. So hielt er es immer, denn auf diese Weise stieß man in der Regel auf wichtige Hinweise. Mitunter hielten Gesprächspartner wichtige Puzzleteile für ihn parat und ahnten es nicht einmal. Im Übrigen war ihm herzlich egal, welchen Eindruck er auf Kirk machen würde. Je lauter der Bursche Madeline gegenüber wurde, desto mehr drängte es Hunter dazwischenzugehen.

“Ich kann selber auf mich aufpassen”, insistierte Madeline schon etwas leiser.

Kirk dämpfte ebenfalls seine Stimme – was sein Glück war. “Maddy, es macht einfach keinen guten Eindruck. Überleg mal, was die Leute in der Gemeinde dazu sagen werden.”

“Das interessiert mich nicht!”

“Das sollte es aber! Du bist halt im Moment nicht du selbst. Dein Detektiv kann ja auch im Motel absteigen.”

“Du kennst doch das Blue Ribbon. Eine Bruchbude ist das! Er hält uns doch hier sowieso schon für einen Haufen Rednecks.”

“Das soll ich gesagt haben?”, flüsterte Hunter der Katze zu und schüttelte über sich selbst den Kopf.

“Was interessiert dich denn die Meinung von dem?” Das war wieder Kirk.

Hunter stand auf, durchquerte die Küche und lehnte sich in den Durchgang zum Wohnzimmer. Von hier aus sah er Madeline im Flur stehen. Sie trug ein weißes Tanktop und weiße Boxershorts mit roten Kussmündern als Dekodruck. Ihr strubbeliges Haar ließ vermuten, dass sie gerade erst aufgestanden war. Zudem trug sie keine Schuhe und keinen BH. Das fiel Hunter unwillkürlich auf, denn der dünne Stoff des Tops offenbarte tiefere Einblicke, als er seit zwei Jahren bei einem weiblichen Wesen genießen durfte.

Ihr Exfreund wandte Hunter den Rücken zu. Er war etwa einsneunzig groß und über hundert Kilo schwer. Kein Fettsack, aber massiv von Gestalt, mit breiten Schultern und vollem, dunklem Haar.

Madeline war zu sehr auf die Auseinandersetzung fixiert, um Hunter zu bemerken. Und Kirk hatte keinen Grund, sich umzudrehen.

“Räumliche Nähe erleichtert die Zusammenarbeit”, argumentierte sie jetzt. “Das macht daraus noch lange keinen Flirt am Arbeitsplatz.”

“Flirt?”, blaffte Kirk. “Das könnte dem so passen!”

“Sag mal, was bildest du dir eigentlich ein? Wir zwei sind doch überhaupt nicht mehr zusammen!”

“Deswegen bist du mir noch lange nicht egal!”

“Wenn das so ist – wieso hast du dich dann nicht mal gemeldet, als das Auto von meinem Vater geborgen wurde?”, fuhr sie ihn an. “Du konntest dir doch denken, wie mich das mitnimmt!”

Hunter wurde immer klarer, dass er sich am besten schon fünf Minuten zuvor bemerkbar gemacht hätte. Jetzt allerdings war er viel zu gespannt auf die weitere Reaktion von Kirk.

Du hast mir doch gesagt, ich soll nicht mehr anrufen!”

“Das hindert dich aber anscheinend nicht daran, hier aufzukreuzen, kaum dass du hörst, ich hätte ‘nen Privatdetektiv engagiert.”

“Das weiß ich schon seit Tagen”, gab er zurück. “Ich hatte auch kein Problem damit – bis ich heute Morgen beim Frühstück auf Grace und Kennedy traf. Die erwähnten, dass du den hier untergebracht hättest. Und den beiden ist das ebenfalls nicht geheuer.”

“Lieber Himmel, das ist doch kein Schwerverbrecher. Ein privater Ermittler ist das.”

“Ach, und du glaubst, die tun niemandem was?” Kirks Stimme triefte vor Sarkasmus. “Du hast ja überhaupt keine Ahnung, mit wem du dich da überhaupt einlässt! Und wenn der dich ins Gebüsch zerrt …”

Hunter klappte bereits den Mund auf, um zu protestieren. Er hatte nicht die geringste Absicht, sie auch nur anzurühren. Schon gar nicht gegen ihren Willen.

Aber Madeline kam ihm zuvor. “Er steht nicht auf mich, wenn dich das beruhigt.”

“Wie kannst du dir da so sicher sein? Ist er verheiratet?”

“Nein.”

“Also Junggeselle.” Das klang, als wolle er sagen: Habe ich mir doch gleich gedacht!

“Schon, aber er … er ist viel zu jung.”

“Wie jung?”

“Zu jung … jedenfalls für mich.”

Hunter lüpfte die Augenbrauen. Ein 32-Jähriger sollte zu jung sein für eine 36-jährige Frau? Warum nur?

Sie senkte wieder ihre Stimme. “Du machst hier aus einer Mücke ‘nen Elefanten, Kirk.”

“Von wegen.”

“Hör mal, er hat gerade erst eine schwere Scheidung hinter sich, okay? Der ist weder an mir noch an sonst wem interessiert. So einen verschlossenen Typen hast du dein Lebtag noch nicht erlebt.”

Jetzt reichte es Hunter endgültig. Mehr über sich wollte er nicht hören. Deshalb räusperte er sich, um auf sich aufmerksam zu machen, und schlenderte durchs Wohnzimmer hindurch zur Diele.

Kirk lief rot an; Madeline machte den Mund auf, bekam aber keinen Ton heraus. Vermutlich fragte sie sich, ob er das mit seiner “schweren Scheidung” wohl mitbekommen hatte.

“Und Sie wollen Privatdetektiv sein?” Kirk kam aus dem Staunen nicht heraus.

“Die Frage muss ich mir in letzter Zeit öfters anhören”, antwortete Hunter kühl. Er versuchte zwar Madeline nicht so anzustarren, konnte aber seinen Blick nicht von ihr wenden. Offensichtlich kam sie geradewegs aus dem warmen Bett, was ihre knappe Bekleidung erklärte. Es war recht kühl im Haus, was man ihr deutlich ansah, und obwohl Hunter es am liebsten abgestritten hätte, reagierte sein Körper ebenfalls auf unmissverständliche Weise.

“Hunter, darf ich Ihnen Kirk Vantassel vorstellen”, sagte Madeline, wobei sie sich gegen die Kälte die Oberarme massierte. “Meinen ehemaligen Freund. Kirk, das ist Hunter Solozano.”

Kirk machte keinen Hehl aus seiner Abneigung. “Wie lange sind Sie denn schon im Ermittlungsgeschäft?”, wollte er wissen und musterte Hunter von Kopf bis Fuß.

“Lange genug, um mich auszukennen”, lautete seine Antwort, wobei er lächelte, um es nicht allzu barsch klingen zu lassen. Gleichzeitig bot er Kirk die Hand; es lag ihm nichts daran, einen Streit vom Zaun zu brechen. Es reichte Hunter, wenn dieser Ex begriff, dass er sich nicht herumschubsen ließ. “Angenehm.”

Kirk reagierte erst mit einiger Verspätung. Madeline musste ihn schon anstupsen, bis er sich endlich bequemte, Hunter die Hand zu schütteln, und das auch nur kurz. “Ganz meinerseits”, brummte er, wobei er gleich wieder Madeline ansah. “Ich sagte gerade zu Maddy, im Motel ist sicher noch ein Zimmer frei. Da wären Sie in Fußweite zu allen Lokalitäten der Stadt. Ist vielleicht angenehmer für Sie.”

“Für mich?”, fragte Hunter süffisant. “Oder für Sie?”

“Madeline steht unter Stress”, bemerkte er. “Im Augenblick kann sie nicht klar denken.”

Madeline begehrte schon auf, doch Hunter ließ sie nicht zu Wort kommen. “Also ich hätte gegen einen Umzug nichts einzuwenden.”

“Na bitte”, freute sich Kirk.

“Heißt das, ich soll die Rechnung später direkt an Sie schicken?”, fragte Hunter.

Kirk stutzte. “Ich verstehe nicht, was …”

“Na, über die anfallenden Kosten”, stellte Hunter klar. “Das Motel ist ja nicht umsonst.” Ob diesem Kirk wohl so viel daran gelegen war, ihn aus Maddys Hause zu vergraulen, dass er sogar die Motelrechnung übernahm? Anfangs hatte er nicht den Eindruck. Für eine Freundin aufzukommen war eine Sache; bei einer Exfreundin sah es hingegen schon anders aus.

Aber Kirk zuckte nur mit den Schultern. “Natürlich, von mir aus gern. Kein Problem. Holen Sie ihr Gepäck; ich fahre Sie rüber.”

“Nein!” Madeline trat ein paar Schritte vor. Das Parfüm, das er letzte Nacht in seinem Zimmer wahrgenommen hatte, stieg Hunter in die Nase. “Ich habe Mr. Solozano herbestellt, also übernehme ich auch die Unterbringung. Er bleibt, wo er ist.”

Hunter wäre es lieber gewesen, sie hätte sich einen Bademantel übergezogen. Sein Blick wurde von ihren Brüsten geradezu magnetisch angezogen. Für Kirk, das sah man sofort, galt das in gleicher Weise. Hunter ahnte aber, dass sie die beiden Männer nicht allein lassen wollte, nicht einmal vorübergehend. Es lag eine solche Spannung in der Luft, dass man es fast knistern hören konnte. Die Lage konnte jeden Moment in einen handfesten Streit ausarten.

“Die Sache ist doch schon geregelt, Maddy”, meinte Kirk.

Trotzig packte sie Hunter beim Arm und hielt ihn fest. “Nein, ist sie nicht. Mit dir hat das Ganze nichts zu tun, Kirk. Es ist nicht deine Angelegenheit.”

“Ich will ihn hier nicht haben!” Allmählich geriet der offensichtlich frustrierte Ex in Rage. “Und zieh dir endlich was über, verdammt noch mal!”

“Sobald du dich verabschiedest”, antwortete sie trocken.

Hunter sah den Moment gekommen, ihr etwas den Rücken zu stärken, indem er die Haustür aufhielt. Kirk hatte sein Anliegen vorgetragen, doch die Entscheidung lag bei Madeline. “Das Beste ist, Sie rufen sie an, wenn sich die Lage beruhigt hat”, schlug er vor.

Es sah so aus, als würde Kirk gleich auf ihn losgehen. Man merkte ihm an, dass er dicht davorstand. Doch er beherrschte sich, baute sich vor Hunter auf und riss ihm die Tür aus der Hand. Er stürmte aus dem Zimmer und ließ die Türe donnernd hinter sich ins Schloss fallen.

“Entschuldigen Sie”, murmelte Madeline, nachdem der Knall verhallt war. “Das konnte ich nicht ahnen. Seit wir Schluss gemacht haben, hat er mich nicht ein einziges Mal angerufen oder besucht.”

“Machen Sie sich nichts draus. So was kommt vor.” Nun, da Kirk weg war, fiel es Hunter doppelt schwer, sich von dem Anblick loszureißen, der sich ihm unter dem knappen Tanktop bot.

Offenbar hatte sie ihn ertappt, denn sie wich einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

“Wenn Sie weiter so herumlaufen, könnte es in der Tat problematisch werden”, räumte er ein. Und als ihre Blicke sich trafen, da meinte er den eigenen Herzschlag deutlich hören zu können.

Sie rang nach Fassung. “Ich ziehe mir schnell was über, dann mache ich Ihnen Frühstück.”

“Hört sich gut an.” Schon zur Küche gewandt, drehte er sich im letzten Moment wieder um und sah ihr nach, wie sie die Treppe hinaufging.

Glaubte sie allen Ernstes, sie wäre zu alt für ihn?

Madeline konnte nicht aufhören, über Kirks Besuch zu grübeln. Doch das überraschte sie nicht. Sie hatte schon immer Probleme mit dem Loslassen gehabt, ganz gleich, ob es Menschen, Orte oder auch Dinge betraf. Deshalb war sie ja so lange mit Kirk zusammengeblieben. Dabei hatte sie von Anfang an geahnt, dass sie beide sich eher zu Freunden eigneten als zu einem Liebespaar, und bei etlichen Gelegenheiten auch versucht, ihm das schonend beizubringen. Er neigte jedoch dazu, sich mit dem zu begnügen, was ihm ohne große Mühe in den Schoß fiel. Nach mehr zu streben kam ihm nicht in den Sinn. Und so schien es ihn auch nicht zu stören, dass es ihrer Beziehung an Tiefgang fehlte. Der Bruch war einzig und allein Madelines Entscheidung gewesen.

Wie dem auch sei: Angesichts ihrer eigenen Probleme konnt sie sich im Grunde über sein Phlegma nicht beschweren. Sie hatte die ganze Garage, den Keller sowie zwei Schuppen vollgestopft mit allem möglichen Krempel. Zweifellos beruhte ihr Sammeltrieb auf der Tatsache, dass sie schon früh Mutter und Vater verloren hatte. Egal, jedenfalls musste sie diesen Tick loswerden. Das Bunkern wirkte sich mittlerweile auf zu viele Lebensbereiche aus. Wie sollte sie entschlossen eine Beziehung beenden, wenn sie sich nicht einmal von simplem, wertlosem Plunder trennen konnte? Kram, den andere Tag für Tag wegwarfen – alte Quittungen, abgelaufene Preisausschreiben; Reste von Alufolie, Einkaufstüten und alte Bindfäden. Sorgsam darauf bedacht, sich nicht als sammelwütigen Messie zu outen, achtete sie peinlich darauf, dass sie den ganzen Ramsch außer Sicht verstaute. Auf Dauer ließ sich das Problem dadurch allerdings nicht lösen.

“Alles okay mit Ihnen?”

Sie blickte von ihrem Teller auf und stellte fest, dass Hunter sie musterte. Er saß ihr am Tisch gegenüber, offenbar fertig mit seinem Frühstück. “Alles bestens”, erwiderte sie. Die Panik aber, die sie seit der Trennung von Kirk unterdrückt hatte, stieg nun wieder in ihr auf. Herzklopfen und feuchte Hände waren die Anzeichen dafür. Jemanden verlieren … Vor nichts hatte sie mehr Angst. Und sie mochte Kirk ja wirklich gern, liebte ihn auf vielfältige Weise. Sie kannten sich fast schon ein Leben lang. Was, wenn sie ihre Entscheidung später einmal bereute?

“Sie haben bloß ein paar Bissen gegessen.”

Madeline legte die Gabel nieder, mit der sie im Rührei herumgestochert hatte. “Keinen Appetit.”

“Beunruhigt Sie irgendetwas?”

Sie steckte mitten in einer Panikattacke. Zählte das für ihn als beunruhigend genug? Jedenfalls hatte sie keine Lust, sich ihm zu erklären, also verneinte sie kopfschüttelnd.

“Vielleicht sollten Sie ihn anrufen”, meinte er.

“Nein.” Sie war gerade dabei, innerlich aufzuräumen. Am liebsten hätte sie das Molly überlassen, die bei ihrem letzten Besuch Madelines alte Möbel und anderen Trödel schnell und souverän losgeworden war – indem sie alles bei einem Garagenverkauf zu Geld machte. Aber bei dieser Art Gerümpel konnte selbst sie Madeline leider nicht helfen.

Sie betrachtete den Ring, den Kirk ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Er war besetzt mit zwei kleinen Brillanten und ihrem Geburtsstein. An und für sich war Kirk ja ein feiner Kerl. War es da nicht besser, sich auf eine mittelprächtige Beziehung einzulassen? Selbst auf die Gefahr hin, dass er auch weiterhin keinen Nachwuchs wollte? Vielleicht würde sie ja damit leben können, niemals eigene Kinder zu haben. Sie war sechsunddreißig. Langsam musste sie eine Entscheidung fällen. Die Zeit lief ihr davon …

“Meinen Sie, Sie können sich auf das konzentrieren, was vor uns liegt?”, fragte Hunter, womit er ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte.

Für ihre Begriffe klang das ominös. “Auf das, was vor uns liegt?”, wiederholte sie.

“Zeit für einen kleinen Nostalgietrip.”

“Wie meinen Sie das?”

“Ich möchte, dass Sie mir alte Fotoalben zeigen. Poesiealben, Briefe – alles, was Sie noch von Ihren Eltern haben. Und von Irene, Clay, Grace, Molly. Von jedem, der irgendwie zur Familie gehört.”

“Was ist mit den Polizeiakten?” Sie hatte angenommen, er werde die Unterlagen studieren und dann sofort mit den Befragungen beginnen, um dadurch das Puzzle Stück für Stück zusammenzufügen.

“Die haben doch bislang niemanden zum Mörder Ihres Vaters führen können, oder? Irgendetwas wurde offensichtlich übersehen. Was bedeuten könnte, dass man an den falschen Stellen gesucht hat.”

“Dann möchten Sie die Akten gar nicht einsehen?”

Sie wollte unter die Dusche. Allerdings hatte sie einen sündhaft teuren Privatermittler einsatzbereit in ihrer Küche sitzen. Sie konnte es sich nicht leisten, ihn warten zu lassen, bis sie sich einigermaßen von Kirks unerwartetem Besuch erholt hatte. “Was sollen Ihnen meine alten Fotoalben denn schon verraten?”, fragte sie.

“Sie vermitteln mir einen Eindruck von Ihnen. Wer Sie sind, wer Ihr Vater war. Vielleicht bekomme ich dadurch auch ein Bild von Irene, Clay, Grace und Molly.” Er stützte die Ellbogen auf den Tisch. “Sie haben doch ein paar alte Alben, oder?”

Sogar mehr, als er in einem Leben durchforsten konnte. Sie war die Königin der Erinnerungsstücke. Für jemanden, der sogar Alufolie hortete, waren Fotos sozusagen heilige Relikte. “Ich habe auch Dinge aus dem Nachlass meines Vaters.”

Als Clay im vergangenen Sommer dessen Arbeitszimmer in der Scheune auflöste, hatte er angeboten, alles, was er zusammengepackt hatte, dort für sie zu lagern. Allerdings hatte Clay nicht nur Klarschiff gemacht, sondern zudem die Wandvertäfelung, die Klimaanlage im unteren Teil des Fensters und sogar den Teppichboden entfernt. Madeline gefiel der Gedanke nicht, dass die persönlichen Gegenstände ihres Vaters nicht an ihrem angestammten Platz bleiben durften. Dann wollte sie den Nachlass zumindest ganz in ihrer Nähe haben, nicht auf dem bloßen Estrich eines Büros, das sie nicht mehr wiedererkannte.

“Hier im Haus?”, fragte Hunter.

“Ja, unten im Keller.” Sie stand auf. “Ich hole sie hoch.”

“Essen Sie doch erst einmal zu Ende!”

“Ich bin fertig.” Sie stellte ihr Geschirr auf die Küchenspüle und wandte sich zur Kellertür. Sie hatte zwar nicht damit gerechnet, dass Hunter ihr folgte, aber er tat es. Offenbar registrierte er jede Einzelheit und katalogisierte alles, was er hörte oder sah.

Wie also mochte er es wohl einschätzen, dass im Haus helle, frische Grundfarben dominierten? Würde er glauben, dass sie im Grunde eine Frohnatur war und die Sonne mochte? Oder dass sie sich schrecklich fürchtete vor jener Form von Depression, die ihre Mutter befallen hatte?

Madeline war sich zwar nicht sicher, ging jedoch davon aus, dass ihr Keller mehr über die neurotische Sammelwut verraten würde, als ihr lieb sein konnte. Molly regte sich immer kolossal über den ganzen Krempel auf. Deswegen hatte Madeline auch nie durchblicken lassen, wie schwer ihr der Garagenverkauf damals gefallen war. Möglich, dass Molly es ahnte, denn Madeline hatte sich mittendrin verdrückt. Gesprochen hatten sie darüber aber nie.

Sie litten eben alle unter eigenen Problemen. Molly beispielsweise durfte sich nie länger als eine Woche in Stillwater aufhalten – aus Angst, sie käme dann überhaupt nicht mehr von hier los. Die ersten Tage, so sagte sie immer, die machten noch Spaß, vor allem das Wiedersehen mit der Familie. Blieb sie aber länger, kam Stillwater ihr vor wie Treibsand, in dem sie regelrecht versackte. Dass Madeleine nie von ihrem Heimatort losgekommen war, dass sie ihren Traum von einer Korrespondenten-Karriere bei der Washington Post nie umgesetzt hatte, das alles verschlimmerte zweifellos noch Mollys Phobie.

“Ich hole nichts Schweres”, bemerkte sie, die Hand schon auf der Klinke. “Sie können ruhig im Wohnzimmer warten.”

“Ist es nur ein Karton?”

“Das nicht …” Es waren vielmehr etliche, und alle auf einmal konnte sie nicht tragen. Vernünftiger war es schon, sich von ihm helfen zu lassen. Allerdings wollte sie ihre Probleme nicht aus seiner Warte betrachten. Besonders jetzt nicht …

Sie nahm sich vor, einmal ordentlich auszumisten, sobald sie sich wieder einigermaßen stabilisiert hatte. Vielleicht war ja Schluss mit dem ständigen Zurückblicken, wenn sie endlich erfuhr, was mit ihrem Vater geschehen war. Dann konnte sie sich von all dem, was sie jetzt noch so zwanghaft hortete, möglicherweise endlich trennen. Hoffte sie jedenfalls. Immer schön ein Problem nach dem anderen, nicht wahr?

“Ist es denn nötig, die alle nach oben zu schleppen?”, fragte sie.

“Wir sind ja zu zweit. Da können wir doch zumindest ein paar auf einmal holen.”

Eine weitere Diskussion hätte Hunter nur noch misstrauischer werden lassen. Wozu sich den Kopf darüber zerbrechen, was er über sie denken könnte? Er war schließlich aus einem einzigen Grund hier: das Rätsel um das Verschwinden ihres Vaters zu lösen. Danach würde er ohnehin zurück nach Kalifornien fliegen, und zwar auf Nimmerwiedersehen.

“Okay, meinetwegen.” Gespannt auf seine Reaktion, öffnete sie die Kellertür.