15. KAPITEL

Hunters Gepäck war endlich eingetroffen. Den Blick auf seinen schwarzen Koffer gerichtet, saß er im Blue Ribbon auf seinem wackligen Bett und spielte gedankenverloren auf seiner Gitarre. Eigentlich brauchte er Schlaf, damit er sich gleich am nächsten Morgen wieder an den Fall Barker machen konnte. Doch irgendetwas ließ ihm keine Ruhe. Was genau, das wusste er nicht. Vermutlich kamen da mehrere Dinge zusammen. Die Nachricht auf Madelines Anrufbeantworter beispielsweise. Die Begegnung mit Mike Metzger.

Die Tatsache, dass er jetzt am liebsten mit Madeline im Bett gelegen hätte …

Er war versucht, sie anzurufen – und wenn schon nicht sie, dann Maria. Er nahm sich vor, gleich nach Erledigung des Auftrags wieder nach Hause zu fliegen und darum zu kämpfen, das Sorgerecht für seine Tochter zu bekommen. Auch wenn sie momentan kein Wort mit ihm sprach. Er wusste jedoch, dass er ihr dadurch die Lebensfreude verderben würde und sie ihn dann womöglich noch mehr verabscheute. Antoinette war zwar nicht gerade eine Vorzeigehausfrau, doch eine Rabenmutter auch wieder nicht. Ein solches Hickhack war also nicht zu verantworten. Natürlich könnte er ein Besuchsrecht gerichtlich durchsetzen, aber Maria wollte das gar nicht. Jedenfalls gegenwärtig nicht. Angesichts so vieler Nackenschläge war eigentlich ein Drink fällig.

Der Billardsalon lag nur einen Häuserblock entfernt, bequem zu Fuß zu erreichen.

Er stellte sich schon vor, was ihn erwartete: Gedränge, Musik, schummrige Beleuchtung. Wenn es dort aussah wie in einer ganz normalen Kneipe, konnte man sich still und heimlich in einen dunklen Winkel verdrücken und so gut wie unerkannt bleiben. Sogar in Stillwater.

Denk an was anderes! An deinen Auftrag!

Er hatte die von Madeline erhaltenen Polizeiakten auf dem Fußboden gestapelt – ein Riesenstapel Lesestoff, wie er stirnrunzelnd erkannte. Ein kompletter Karton, dahinter noch zwei weitere. Da machte er sich am besten gleich ans Werk. Madelines Tagebuch wartete auch noch auf ihn.

Er stellte die Gitarre zur Seite und hängte sein vom Duschen feuchtes Handtuch auf. Dann wischte er sich das nasse Haar aus der Stirn und fingerte die Aussageprotokolle von Bonnie Ray Simpson – der Nachbarin, die gleich gegenüber der Farm wohnte – aus dem Hefter. Laut Niederschrift war sie “einigermaßen sicher”, dass sie gesehen hatte, wie die “Scheinwerfer” von Lee Barkers Auto am Abend seines Verschwindens in die Einfahrt schwenkten.

Leider halfen ihm weder “einigermaßen sicher” weiter noch die “Scheinwerfer”. Von denen hatte ja jedes Auto zwei.

Er heftete das Protokoll in den Ordner zurück und widmete sich dem nächsten. Es war unterschrieben von Nora Young und Rachel Cook.

Nachdem die Vorbereitungen für den Jugendkirchentag getroffen waren, verabschiedeten wir uns gegen 20 Uhr 15 auf dem Kirchenparkplatz von Reverend Barker. Wir gingen davon aus, dass er nach Hause fahren wollte. Weder erwähnte er ein anderes Fahrtziel, noch hatte er Reisegepäck dabei. Er bog links ab, und danach haben wir ihn nie wieder gesehen.

Auch damit war nicht viel anzufangen. Er blätterte Seite für Seite um, überflog dabei die Titelzeilen und stieß schließlich auf ein Schriftstück mit Clays Namen in der obersten Zeile. Es handelte sich um die Niederschrift einer polizeilichen Vernehmung, laut Datum drei Tage nach Reverend Barkers Verschwinden aufgenommen.

Officer Grimsman: Haben Sie Ihren Stiefvater am Abend des 4. Oktober gesehen?

Montgomery: Nein.

Officer Grimsman: Er war nicht da, als Sie aus der Schule kamen?

Montgomery: Nein.

Officer Grimsman: War er das denn normalerweise, wenn Sie nachmittags nach Hause kamen?

Montgomery: Manchmal. Immer nicht.

Officer Grimsman: Was machte er, wenn er daheim war? Farmarbeit?

Montgomery: Er gab mir irgendwelche Routinearbeiten auf und guckte dann vom Fenster aus zu, ob ich auch gleich damit anfing.

Officer Grimsman: Betraute er die Mädchen auch mit solchen Aufgaben?

Montgomery: Ab und zu.

Officer Grimsman: Aber nicht so oft wie Sie.

Montgomery: Was tut denn das zur Sache?

Officer Grimsman: Beantworten Sie einfach die Frage.

Montgomery: Nein, aber das war mir egal.

Officer Grimsman: So, so. Sie sind also anders als die anderen Jugendlichen.

Montgomery: Was weiß ich? Kann schon sein. Wie gesagt, es störte mich nicht.

Officer Grimsman: Kam es Ihnen merkwürdig vor, dass Ihr Vater letzten Donnerstag nicht daheim war?

Montgomery: Mein Stiefvater, meinen Sie? Nein. Er hatte mir eine Liste dagelassen. Und meine Mutter sagte, er wäre zur Kirche. Weshalb sollte ich mich also wundern?

Officer Grimsman: Ich schlage vor, Sie sparen sich Ihr neunmalkluges Getue, mein Junge.

Montgomery: War ein ganz normaler Tag. Alles klar?

Officer Grimsman: Hat Ihre Mutter angedeutet, sie wolle ausgehen?

Montgomery: Ausgehen?

Officer Grimsman: Ist sie vor Ihnen weggefahren?

Montgomery: Schon, aber … aber bei Ihnen hört sich das an, als wäre sie tanzen gegangen … oder einen trinken.

Officer Grimsman: Dann erzählen Sie doch mal, was sie wirklich gemacht hat.

Montgomery: Sie hat Barker das Essen warm gestellt …

Officer Grimsman: Barker?

Montgomery: Na, Reverend Barker!

Officer Grimsman: Na, das nenne ich Dankbarkeit und Respekt. Da nimmt einer eine Frau bei sich auf und ihre drei Blagen, sorgt dafür, dass sie was zu essen haben und …

Montgomery (unterbricht): Hat das was mit dem Verschwinden meines Stiefvaters zu tun?

Officer Grimsman: Will ich ja gerade rauskriegen, Sie Schlauberger.

Montgomery: Und wie soll meine Aussage dazu beitragen?

Officer Grimsman: Ihre Einstellung spielt eine entscheidende Rolle, Freundchen. Verlassen Sie sich drauf.

Montgomery: Ihr Gelaber geht mir am Arsch vorbei. Sie vernehmen mich, ohne dass ich einen erwachsenen Beistand habe. Sie werden sicher Ihre Gründe haben.

Chief Jenkins: Ich möchte nur vermeiden, dass Ihre Mutter die Aussage mithört. Das ist der Grund.

Officer Grimsman: Wenn Sie arbeiten, feiern, Billard spielen und die Weiber stemmen können wie ein Mann, dann können Sie auch wie einer aussagen.

Montgomery: Mein guter Ruf eilt mir voraus.

Officer Grimsman: Sobald das Ganze hier gelaufen ist, werden Ihnen die Sprüche schon vergehen.

Montgomery: Wenn es nach euch geht, wandere ich doch sowieso in den Knast.

Officer Grimsman: Gehören Sie doch auch hin, oder?

Montgomery: Höchstens, wenn es illegal ist, mit Kumpels rumzuhängen. Mehr hab ich nicht verbrochen.

Chief Jenkins (zu Officer Grimsman): Bleib bei der Sache, Roger.

Officer Grimsman: Na schön. Wohin ist Ihre Mutter an dem Abend gefahren?

Montgomery: Wissen Sie doch schon.

Chief Jenkins: Sagen Sie es halt noch mal. Fürs Protokoll.

Montgomery: Also, zum Mitschreiben: Zur Chorprobe. Ist kein Geheimnis. Kann man leicht nachprüfen.

Chief Jenkins: Aber sonst sang sie doch gar nicht mit. Das macht den Tag doch außergewöhnlich, oder?

Montgomery: So was soll schon ungewöhnlich sein? Barker rief an, sie solle kommen.

Chief Jenkins: War sie deswegen sauer?

Montgomery: Das müssen Sie meine Mutter schon selber fragen.

Chief Jenkins: Ich frage aber Sie. Gab es Streit wegen dieses Anrufs? Haben sie sich gezankt?

Montgomery: Nein.

Officer Grimsman: In welcher Stimmung war Ihre Mutter, als Ihr Stiefvater sie zur Chorprobe bestellte?

Montgomery: Meine Güte, woher soll ich das wissen?

Officer Grimsman: Spielen Sie hier nicht die Nervensäge, sondern beantworten Sie gefälligst die Frage!

Montgomery: Auf mich wirkte sie ganz normal. Sie sagte mir noch, ich soll auf die Mädchen aufpassen, und dann düste sie los, weil sie nicht zu spät kommen wollte.

Officer Grimsman: Hat Ihr Stiefvater noch mal angerufen? Zur Kontrolle, ob sie auch wirklich kam?

Montgomery: Wüsste ich nicht, aber ich hab auch nicht drauf geachtet.

Officer Grimsman: Und an dem Abend haben Sie nicht mit ihm gesprochen?

Montgomery: Nein.

Officer Grimsman: Laut Grace haben Sie aber einen Anruf bekommen.

Montgomery: Von einem Freund.

Officer Grimsman: Wie heißt der?

Montgomery: Jeremy Jordan.

Officer Grimsman: Was wollte er?

Montgomery: Ich sollte mit ihm zu Corinne Rasmussen fahren.

Officer Grimsman: Und Sie waren einverstanden?

Montgomery: Ja.

Officer Grimsman: Sie haben Ihre kleinen Schwestern also allein gelassen?

Montgomery: Die sind elf und dreizehn. Ich dachte, die kommen schon klar.

Officer Grimsman: Und? War das so?

Montgomery: (starrt ins Leere)

Officer Grimsman: Mr. Montgomery, ich habe Sie etwas gefragt.

Montgomery: Wie spät ist es?

Officer Grimsman: Zwei Uhr morgens.

Montgomery: (reibt sich die Augen)

Officer Grimsman: Müde, Mr. Montgomery?

Montgomery: Mann, ich bin sechzehn! Sie können mich ruhig duzen. Oder fällt es Ihnen leichter, mich stundenlang durch den Wolf zu drehen, wenn Sie mich siezen? Noch dazu in Abwesenheit meiner Mutter?

Chief Jenkins: Je schneller Sie unsere Fragen beantworten, desto eher können Sie nach Hause. Ihre Mutter wird auch noch vernommen.

Montgomery: Ich soll doch nur sagen, was Sie gern hören wollen! (wird aggressiv) Mensch, meine Mutter braucht mich jetzt! Ihr Mann ist verschollen!

Officer Grimsman: Mit ihrer Mutter ist alles in bester Ordnung. Eine Irene Barker, die wirft so schnell nichts um, was?

Montgomery: Ach, leck mich doch am Arsch!

(Chief J. wendet körperlichen Zwang an)

Chief Jenkins: Müssen wir dir erst Handschellen anlegen, Junge?

Es folgte noch mehr Text, der allerdings geschwärzt worden war. Angesichts des Gesprächsverlaufs mochte man fast annehmen, der Chief oder sein Kollege hätte Clay womöglich geschlagen und das dann später aus der Niederschrift gelöscht.

Officer Grimsman: Na, machst du jetzt den Mund auf?

Montgomery: (krümmt sich)

Hunter las den Eintrag noch einmal. Krümmt sich? Der Protokollführer oder die Protokollführerin hatte jede Einzelheit penibel notiert. Hunter wäre jede Wette eingegangen, dass es sich nicht um dieselbe Person handelte, die danach die Zeilen geschwärzt hatte.

Chief Jenkins: Brauchst wohl noch ein bisschen Überredung, was, Clay?

Montgomery: (keine Antwort)

Hunter zog die Stirne kraus. Noch mehr geschwärzte Passagen folgten – mit Sicherheit keine Korrekturen von Tippfehlern.

Officer Grimsman: Wohin bist du an dem betreffenden Abend gefahren?

Montgomery: (schwer atmend, keine Antwort)

Officer Grimsman: Ich rede mit dir, Clay! Und wenn du nicht langsam Vernunft annimmst, wird es für dich zappenduster, das verspreche ich dir. Kapiert? Echt böse. Und nicht nur für dich. Sondern für deine Mom und deine Schwesterchen auch.

Montgomery: Lassen Sie die da raus!

Officer Grimsman: Wohin bist du gefahren?

Montgomery: Zu Corinne.

Officer Grimsman: Wie bitte?

Montgomery: Zu Corinne Rasmussen!

Officer Grimsman: Und was ist da abgelaufen?

Montgomery: Nichts. Wir haben da nur abgehangen. Fragen Sie Jeremy oder Corinne. Die sagen Ihnen dasselbe.

Officer Grimsman: Wann bist du zurückgekommen?

Montgomery: Gegen neun.

Officer Grimsman: So früh?

Montgomery: Ich hatte am anderen Tag Unterricht. Außerdem wollte ich vor meiner Mutter zu Hause sein.

Officer Grimsman: Hat das geklappt?

Montgomery: Nein.

Officer Grimsman: Sie war schon da, als du ankamst?

Montgomery: Ja.

Officer Grimsman: War sie sauer auf dich?

Montgomery: Was glauben Sie wohl?

Chief Jenkins: (wendet Polizeigriff an)

… damit Verdächtiger nicht zuschlagen kann – so stand es auf den Rand gekritzelt. Nach Hunters Gefühl war hier nicht Clay derjenige, der die Fäuste fliegen ließ.

Chief Jenkins: Officer Grimsman stellt hier die Fragen! Nicht du!

Montgomery: (knallt mit Kopf auf den Tisch) Klar war sie sauer auf mich! Ich hatte gegen ihre Anweisung verstoßen.

Officer Grimsman: Wurdest du bestraft?

Montgomery: Sie sagte, die Strafe würde folgen, sobald mein Stiefvater nach Hause käme.

Officer Grimsman: Also war der noch nicht da?

Montgomery: Wie oft soll ich das denn noch sagen?

Direkt unter dieser Zeile folgte wieder eine geschwärzte Passage.

Officer Grimsman: Machte sich denn keiner langsam Sorgen, wo der blieb?

Montgomery: (Antwort unartikuliert, schwer verständlich)

Officer Grimsman: Clay?

Montgomery: Nein. Wir dachten, er wäre in der Kirche aufgehalten worden. Manchmal hatte er noch … irgendwelche Sitzungen … Da wurde es schon mal spät. (schüttelt Chief Jenkins ab)

Mit düsterer Miene blätterte Hunter das Protokoll durch. Der Chief hatte Clay also die ganze Zeit im Polizeigriff? Oder hatte er ihn festgehalten, damit sein Kollege den Jungen auch richtig “überreden” konnte?

Was immer auch vorgefallen sein mochte – die nächste Zeile fehlte wieder.

Chief Jenkins: Was ist mit dir?

Montgomery: Ich habe nichts zu verbergen.

Officer Grimsman: Hat er dich bestraft, als er nach Hause kam? War es so, Clay? Ist die Sache ein wenig ausgeartet? Kannst es uns ruhig sagen. Es wäre besser für dich und für deine Mutter, weißt du?

Montgomery: Er kam aber doch gar nicht nach Hause!

Chief Jenkins: Und doch habt ihr die Polizei nicht verständigt.

Montgomery: Warum sollten wir euch Arschkrampen einschalten?

Wieder eine unlesbar gemachte Zeile. Vermutlich war erneut etwas aus dem Protokoll gestrichen worden. Hunter schüttelte den Kopf. Einen 16-Jährigen zusammenschlagen? Eine Sauerei war das.

Chief Jenkins: Und jetzt noch mal, aber anständig!

Montgomery: Wir sind ins Bett. Wir meinten, der würde schon irgendwann eintrudeln.

Chief Jenkins: Deine Mutter hat nicht auf ihn gewartet?

Montgomery: Ich glaube nicht.

Officer Grimsman: Was hat sie denn gemacht?

Montgomery: Soweit ich weiß, hat sie ihm das Abendessen in den Kühlschrank gestellt und ist schlafen gegangen.

Chief Jenkins: Hört sich so an, als wär’s ihr piepegal gewesen, dass er später kommt als sonst.

Montgomery: Sollte sie etwa heulen? Weil sein Abendessen kalt wurde?

Officer Grimsman: Und der Gedanke, ihm könnte was zugestoßen sein, der hat dich wohl nicht weiter gestört, was, Junge?

Montgomery: Wenn mich was stört, dann dass ich hier schon acht Stunden rumhocke.

Officer Grimsman: Tut uns leid, dass wir dir Umstände machen, aber möglicherweise geht es hier um ein Menschenleben. Oder ist dieser Mensch vielleicht schon tot?

Montgomery: Was weiß denn ich? Möglicherweise geht es ihm blendend. Hier in unserer kleinen heilen Welt, da herrscht doch Friede, Freude, Eierkuchen. Außerdem ist er Geistlicher. Wer tut schon einem Prediger was?

Chief Jenkins: Tja, das ist eben die Frage!

Montgomery: Ich denke mal, er hatte die Schnauze voll von diesem Scheißkaff und …

Noch mehr geschwärzte Stellen …

Officer Grimsman: Machte deine Mutter sich Sorgen? Hat sie versucht, ihn zu erreichen?

Montgomery: Keine Ahnung.

Officer Grimsman: Ihr seid ins Bett gegangen?

Montgomery: Sag ich doch! Mrs. Ledermann da drüben hat alles mitgeschrieben. Wenn Sie nicht durchblicken, soll sie es halt noch mal vorlesen.

Officer Grimsman: Du mieser …

Schwarze Passagen, wieder einmal.

Chief Jenkins: Und ihr seid sofort schlafen gegangen?

Montgomery: (Nickt, einmal)

Officer Grimsman: Du warst nicht aufgeregt oder bange wegen der bevorstehenden Strafe?

Montgomery: Ich war nicht sonderlich scharf darauf.

Officer Grimsman: Mit was für einer Strafe hast du denn gerechnet?

Montgomery: Mit Stubenarrest.

Stubenarrest?, fragte sich Hunter. Irgendwie klang Clays Antwort wenig glaubhaft.

Officer Grimsman: Hatte er dir früher schon mal Stubenarrest aufgebrummt?

Montgomery: Ja.

Officer Grimsman: Wofür?

Montgomery: Für das Übliche.

Officer Grimsman: Geht’s nicht etwas genauer?

Montgomery: Er hat mich hinter der Scheune mit einem Mädchen erwischt. Beim Fummeln.

Officer Grimsman: Mit welchem Mädchen?

Montgomery: Sage ich nicht.

Officer Grimsman: Wehe dir, es war meine Tochter!

Montgomery: Werden Sie sowieso nie erfahren.

Officer Grimsman: Du kleine Drecksau …

Der Rest war wieder geschwärzt. Ganz offensichtlich Urkundenfälschung, gar keine Frage. Die schwarzen Stellen auf den Seiten, Tonfall und Fragenfrequenz – all das deutete auf Gewaltanwendung hin. Wenn Hunter sich nicht schwer irrte, hatte Clay in jener Nacht ziemlich viel Prügel einstecken müssen. Trotzdem war er nicht eingeknickt und hatte Grimsman nicht verraten, ob das betreffende Mädchen, das er damals befummelt hatte, seine Tochter gewesen war. Das nötigte Hunter sogar ein anerkennendes Schmunzeln ab.

Das Telefon klingelte. Er senkte das Protokoll, das er gerade las, lehnte sich zurück und griff nach dem Hörer.

Von Schlaflosigkeit geplagt, schlüpfte Clay leise und ohne seine Frau aufzuwecken aus dem Bett und ging in sein Arbeitszimmer, wo er sich in den Papierkram zu vertiefen gedachte. Am liebsten aber hielt er sich draußen in der Scheune auf und bastelte an seinen Oldtimern, wodurch er mit dem Bürokram öfters schon mal in Rückstand geriet. Nun duldete es aber keinen Aufschub mehr. Rechnungen mussten beglichen werden, die Buchführung für die Steuererklärung war fällig.

Er nahm sich die Tagespost vor, die Whitney ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. Sie lief gern hinaus zum Briefkasten und kam sich wichtig vor, wenn sie die eingetroffenen Briefe oder Pakete ins Haus holte. Normalerweise sammelte sie auch sämtliche Reklame ein, weil sie gern damit spielte. Heute allerdings hatte es wohl nicht den Anschein, als habe sie schon Beute gemacht. In der Post befand sich nämlich etwas, das sie sich sonst gleich unter den Nagel gerissen hätte – Kreditkartenwerbung sowie ein dicker Katalog von einem Bürobedarfshandel. Wahrscheinlich hatte auch Allie die Post nicht durchgesehen, dachte er. Sie war nämlich noch ungeöffnet.

Während Clay die Umschläge sichtete, warf er die Kreditkartenwerbung in den Papierkorb – Finanzieren auf Pump war seine Sache nicht, von Immobilien vielleicht abgesehen – und legte die Rechnungen zu dem Stapel, den er sowieso überweisen wollte. Dann fiel ihm der unterste Brief auf. Der war an ihn adressiert und anscheinend auf einer alten Schreibmaschine getippt, statt per Computer gedruckt.

Um ein Haar wäre das Schreiben ebenfalls im Papierkorb gelandet. In den vergangen Jahren hatte er reichlich anonyme Briefe erhalten. Einige forderten ihn zu Reue und Buße auf, andere versprachen ihm, er werde in der Hölle schmoren für seine Missetat am Reverend. Diesen Unsinn wollte er sich nicht mehr antun. Die Taten hingegen, die er bereute, die machte ihm kein Mensch zum Vorwurf. Wenn er den Abend Revue passieren ließ, wurde ihm jedes Mal klar, dass er sich heute genauso entscheiden würde, wie er es damals getan hatte.

Unschlüssig ließ er die Hand mit dem Schreiben über dem Papierkorb verharren. Die mit ihren Vorwürfen, dachte er, die können mich mal! Die hatten ja keine Ahnung, was er durchgemacht hatte, machten sich keinen Begriff von den Kämpfen, die er nach wie vor ausfechten musste. Warum sollte er seinen Kritikern weiterhin eine Zielscheibe bieten?

Dann fiel ihm auf, dass die Sendung nicht offiziell von der Post zugestellt wurde. Sie war nicht frankiert.

Gespannt, wieso ihm jemand eine Nachricht persönlich zustellte, riss er das Kuvert auf und zog ein liniertes Blatt heraus.

Der Brief war mit derselben Schreibmaschine getippt wie schon die Adresse auf dem Umschlag, doch von wem er stammte, war nicht zu erkennen. Der Inhalt umfasste ganze fünf Wörter:

Stopp sie. Sonst mach ich’s.

“Hallo?” Den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, blätterte Hunter rasch weiter durch das Vernehmungsprotokoll.

“Hast du’s auch bequem?”

Es war Madeline. Er stellte den Fernseher leiser. “Alles bestens. Mache mich gerade mit den Akten vertraut. Wo hast du die überhaupt her?”

“Ich habe sie mir letzten Herbst für eine Weile ausgeliehen und alles kopiert.”

“Normalerweise gibt die Polizei so etwas an Zivilpersonen gar nicht raus. Nicht mal zur Ausleihe. Wäre viel zu riskant.”

“Als Herausgeberin der Zeitung bin ich so was Ähnliches wie eine Gerichtsreporterin. Und nachdem sie Clay voriges Jahr laufen lassen mussten, gingen sie mit den Akten sowieso ziemlich nachlässig um. Allie hatte sie bereits gesichtet und nichts gefunden. Es sah so aus, als verliefe die Sache im Sande. Deshalb fragte ich Allies Vater, ob ich nicht auch mal ‘nen Blick reinwerfen dürfte. Er war gerade beurlaubt worden und dabei, nach Florida umzuziehen. Er hatte also nichts zu verlieren und wusste sowieso, dass ich sie auch wirklich zurückbringen würde.”

“Weiß Pontiff auch, dass du Kopien angefertigt hast?”

“Keine Ahnung, aber als ich die Originale zurückbrachte, da war er dabei.” Er merkte ihr an der Stimme an, dass sie wieder angespannter wurde. “Und? War die ganze Kopiererei auch der Mühe wert? Hast du etwas Aufschlussreiches gefunden?”

“Als aufschlussreich würde ich es noch nicht bezeichnen”, wehrte er vorsichtig ab. “Interessant finde ich allerdings Clays erste polizeiliche Vernehmung. Anscheinend haben die Jungs ihn nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst.”

“Sie waren eben hartnäckig.”

“Ich meinte körperlich.”

Ein kurzes Zögern folgte; nach seinem Eindruck hätte sie wohl gern versucht, das Thema zu vermeiden. “Ja, richtig, das auch.”

“Wie sah er aus, als er nach Hause kam?”

“Ziemlich übel zugerichtet.”

“Hatte die Sache irgendein Nachspiel?”

“Keins. Chief Jenkins behauptete, Clay hätte bei der Vernehmung um sich geschlagen. Sie hätten ihn mit Gewalt auf den Stuhl drücken müssen, der sei dabei mitsamt Clay umgekippt und Clay mit dem Gesicht auf die Tischkante geschlagen.”

Hunter warf einen Blick auf die überdeutlichen Schwärzungen in der Vernehmungsniederschrift. “Was meinte denn Clay zu dieser Version?”

“Er hat ihr nicht widersprochen.”

“Vermutlich weil er glaubte, er könne sowieso nichts dagegen ausrichten.”

“Ich habe ihn seither des Öfteren gefragt, aber er sagt immer, das täte alles nichts mehr zur Sache.”

“Die Aussichten stehen gut, dass es den Fall nicht unmittelbar berührt. Aber wenn ich das lese, kriege ich schon einen Hals.”

“Ich auch.” Sie wechselte rasch das Thema, als fiele es ihr schwer, weiter über Clays Leidensweg zu reden. “Sonst irgendwas Auffälliges?”

Er betrachtete angestrengt ihr Kindertagebuch. “Bis jetzt noch nicht.”

“Na schön. Es wird spät.” Sie nuschelte, offenbar weil sie gähnen musste. “Hau dich mal besser aufs Ohr.”

“Das werde ich tun.” Doch kaum hatte er aufgelegt, wandte er sich wieder seiner Lektüre zu.

Chief Jenkins: Hat sich dein Vater auf der Farm viel mit dir beschäftigt?

Montgomery: Nicht mehr als unbedingt nötig.

Officer Grimsman: Was hat er denn dann gemacht, den lieben langen Tag?

Montgomery: Sich in seiner Bude einen runtergeholt, schätze ich mal. Kann ich endlich gehen? Ich hocke jetzt schon Stunden hier rum. Und ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich weiß nichts. Es gab keinen Zoff. Er kam nur nicht nach Hause.

Officer Grimsman: Möchtest du lieber in einer Gefängniszelle sitzen? Kannst du dich nicht mal einigermaßen zivilisiert ausdrücken?

Montgomery: Wo ist meine Mutter?

Officer Grimsman: Um die kümmern wir uns schon.

Montgomery: So wie um mich, was? Dann gnade Ihnen …

Chief Jenkins: Werd bloß nicht frech, Freundchen!

Wieder geschwärzte Stellen.

Officer Grimsman: Wenn es keine Auseinandersetzung gab – wie erklärst du dir dann dein zerschlagenes Gesicht?

Montgomery: Die blauen Flecken, die ich vor dieser Vernehmung hatte?

Chief Jenkins: Die von vor dem Unfall mit dem Stuhl.

“Unfall?”, brummte Hunter. “Dass ich nicht lache.”

Montgomery: Sagte ich doch schon: Ich bin gegen einen Baum geknallt.

Officer Grimsman: Du bist an dem Abend gar nicht gefahren. Laut Aussage deiner Freunde …

Montgomery (unterbricht): Wir fuhren mit Rhys Franklins Karre zu Corinne. Aber als ich wieder zu Hause war, fiel mir ein, dass ich meine Jacke unten auf der Südparzelle vergessen hatte, wo ich gearbeitet hatte. Wenn einer die klaute, dann gab’s was auf die Ohren, das war mir klar. Also sprang ich in den alten Ford und fuhr sie holen.

Officer Grimsman: Ich dachte, du durftest die Fahrzeuge von deinem Stiefvater nicht fahren.

Montgomery: Schon, nur nicht von der Farm runter.

Officer Grimsman: Wie kam es denn zu dem Unfall?

Montgomery: Ich hatte die Scheinwerfer nicht eingeschaltet, aus Angst, mein Stiefvater könne gerade nach Hause kommen und merken, dass ich nicht im Hause war. Ich bin zu schnell gefahren und auf dem Rückweg mit dem rechten Vorderrad in den aufgeweichten Rand vom Entwässerungsgraben geraten. Ich habe das Steuer zu scharf herumgerissen und bin gegen einen Baum gedonnert.

Officer Grimsman: Und das mit deinem Gesicht bei dem Aufprall? Wie ist das passiert?

Montgomery: Was meinen Sie wohl? Damit bin ich gegen das Scheißlenkrad geknallt.

Chief Jenkins: Jetzt reicht es aber mit deiner ewigen Gossensprache!

Montgomery: (keine Antwort)

Chief Jenkins: Zurück zu dem Unfall. Du hast keine Hilfe geholt?

Montgomery: Nein, ich hatte Schiss, mein Stiefvater könnte jeden Moment nach Hause kommen. Da wollte ich möglichst schon im Bett liegen.

Officer Grimsman: Der musste den Schaden früher oder später doch sowieso entdecken!

Montgomery: Ach, die alte Schleuder, die war schon so verbeult – da hoffte ich, er würde es nicht merken.

Officer Grimsman: Und dein vermatschtes Gesicht auch nicht, was?

Montgomery: Ich musste ja am nächsten Morgen schon in aller Frühe zur Schule.

Officer Grimsman: Und wenn er dich gesehen hätte?

Montgomery: Dann hätte ich ihm gesagt, ich wäre in eine Prügelei geraten oder so.

Officer Grimsman: Du gibst also zu, dass du ein Lügner bist.

Montgomery: Ich sage nur, erstens ist bei dem Unfall an der alten Karre nicht viel passiert, und zweitens wollte ich mir nicht noch mehr Stress einhandeln, als ich sowieso schon hatte.

Laut Clays eigener Aussage hatte sein Gesicht also schon vor dem Betreten der Polizeiwache so verquollen ausgesehen. Etwaige dort erlittene Verletzungen hatte er sich nach dem Unfall zugezogen oder – wie es die Polizei andeutete – in einer Auseinandersetzung mit Barker.

Hunter zog einen DIN-A4-Umschlag mit der Aufschrift Fotos hervor. Er enthielt etliche Aufnahmen von Clay mit Datum auf der Rückseite. Ein Foto stammte vom 5. Oktober, dem Tag nach dem Verschwinden des Reverend, aber noch von vor der Vernehmung. Darauf hatte Clay ein blaues Auge, eine geschwollene Lippe und eine Platzwunde an der Wange.

Verletzungen, wie man sie sich durchaus bei einem Aufprall auf ein Lenkrad zuziehen konnte. Allerdings wirkten sie auf ihn eher wie die Folgen einer Schlägerei …

Kurz entschlossen griff Hunter zum Telefon und wählte Madelines Nummer.

“Hallo?”, nuschelte sie hörbar benommen.

“Schon geschlafen?”

“Noch nicht ganz. Was gibt’s?”

“Weißt du noch, wie Clay nach der polizeilichen Vernehmung aussah?”

“Übel. Bei dem Schlag auf die Tischkante hatte er sich das Nasenbein gebrochen.”

Hunter legte die Fotos weg und schob die Akte beiseite, damit er sich besser auf dem Bett zurücklehnen konnte. “Diese Mrs. Ledermann, die Protokollantin – wohnt die noch hier in der Gegend?”

“Ja, aber in Vollzeitpflege. Sie hat Alzheimer. Warum fragst du?”

“Ich versuche, mir ein Bild zu machen. Ich weiß nicht recht, ob ich die Version der Polizei plausibel finden soll.”

“Welcher Vorfall kommt dir denn nicht ganz koscher vor?”

“Der mit dem umgekippten Stuhl. Vielleicht auch der mit dem Unfall.”

“Mit dem hatte auch die Polizei so ihre Probleme”, sagte sie. “Meine Mutter hat in einer separaten Befragung ausgesagt, Clay habe sich das Gesicht verletzt, als sie ihn unabsichtlich mit dem Ellbogen anstieß, weil sie etwas aus dem Schrank holen wollte.”

“Warum diese Abweichung?”

“Ich glaube, meine Mutter wusste nichts von dem Unfall und befürchtete wohl, die Hämatome im Gesicht wären ein Schuldindiz.”

“Was das beweist, ist dir klar, oder?”

“Es beweist, dass sie Angst hatten”, gab sie zurück, einen Hauch zu schnell. “Dass sie befürchteten, sie würden für etwas belangt, das sie nicht getan hatten.”

“Es beweist aber auch, dass sie bereit war, für ihn zu lügen.”

Madeline gab keine Antwort. Hunter konnte es ihr nachfühlen. Hier handelte es sich um eins jener Details, die sie lieber verdrängte.

“Hatte der Wagen eigentlich sichtbaren Schaden genommen?”, wollte er wissen.

“Eine Delle, genau an der richtigen Stelle”, sagte sie triumphierend, auf einmal hellwach.

Grübelnd starrte er unter die Zimmerdecke. “Der alte Pick-up existiert wohl nicht mehr?”

“Nein, der war damals schon uralt. Wir haben ihn kurz darauf verschrotten lassen. Wir haben alles verkauft, was wir nicht unbedingt brauchten, damit wir etwas zu essen hatten.”

“Schlug dein Vater Clay eigentlich?”

“Geschlagen? Nein. Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie du es meinst.”

“Wie denn sonst?”

“Mein Vater hielt viel von körperlicher Züchtigung, Hunter. So ist er selber erzogen worden, und so sollten seine Kinder ebenfalls diszipliniert werden. Jedenfalls hat man ihm das so beigebracht. ‘Wer mit der Rute spart, verzieht das Kind’ und so weiter. Aber er hat es nie übertrieben, und Schläge gab’s nur, wenn wir ungezogen waren.”

Hunter langte zum Lichtschalter und knipste die Leuchte aus, um seine Augen zu schonen. “Und wie oft hat Clay sich danebenbenommen?”

“Das kam schon mal vor. Stellte aber an sich kein Problem dar.”

Das glaubst du, durchfuhr es ihn. Ob sie wohl von allem wusste, was auf der Farm vorgefallen war? Clay war ziemlich häufig auf dem Feld und damit auch außer Sichtweite. Nach allem, was Hunter bislang zusammengetragen hatte, war er nicht allzu scharf darauf gewesen, seine Schwestern und seine Mutter in seine Probleme einzuweihen. Schon damals hatte er sich instinktiv vor sie gestellt.

“Dann lasse ich dich jetzt mal weiterschlafen”, sagte er.

“Und du?”

“Ich bin momentan noch zu aufgekratzt. Später vielleicht, in ein paar Stunden.”

“Fehlt dir was?”

Er drückte sich mit Daumen und Zeigefinger auf die geschlossenen Lider. “Ich stelle mir die ganze Zeit vor, wie du heute Morgen in dem Hemd und den Boxershorts aussahst.”

Sie dämpfte verführerisch die Stimme. “Gefiel dir wohl, hm?”

“Aber hallo!”, betonte er und legte auf.