2. KAPITEL

Madeline hätte im Moment zu gerne Kirk angerufen. Seit sie auseinandergegangen waren, hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen. Sie befürchtete nur, dass sie wieder in den alten Trott verfallen würde, falls sie sich schon wieder ins Bequeme und Angenehme flüchtete. Für Kirk und sie bestand auf lange Sicht ohnehin keine realistische Aussicht auf ein gemeinsames Glück. Sie wollte Kinder; er lehnte Nachwuchs kategorisch ab. Er wollte Stillwater verlassen und die Welt kennenlernen, sie hingegen in der Nähe ihrer Angehörigen bleiben und sowohl ihr Haus behalten, als auch ihren Beruf weiter ausüben. Da war es ratsam gewesen, rechtzeitig Schluss zu machen und nach vorn zu schauen. Besser für sie beide.

Gut möglich, dass sie mit dieser Entscheidung richtiglag. Nur war das Leben ohne Kirk für Madeline derweil verdammt einsam, zumal sie heute nicht in die Redaktion gefahren war. Sie hatte zwar keine fest angestellten Mitarbeiter – gerade mal drei Zusteller, die sich einmal pro Woche mit dem Austragen der Zeitungen etwas dazuverdienten –, aber die kleinen gepachteten Redaktionsräume des Stillwater Independent lagen direkt an der High Street, und deshalb schauten stets jede Menge Besucher bei ihr vorbei. Im Allgemeinen hatte sie gern Leute um sich; als Journalistin musste man schließlich den Finger am Puls der Stadt behalten. Heute hingegen stand ihr weder nach Fragen noch nach Mitgefühl der Sinn. Vor allem aber hatte sie keine Lust, sich mit möglichen Reaktionen auf den Fund des Autowracks auseinanderzusetzen.

Mit schlechtem Gewissen, weil sie in dieser Situation einfach kniff, nahm sie ihre Katze Sophie auf den Arm und fuhr mit dem Kinn über das weiche Fell. Wäre der Vermisste nicht ihr Vater gewesen, hätte sie über das Geschehen am Baggersee längst einen Artikel verfasst und ihn ganz oben auf der Titelseite platziert, fette Schlagzeile inklusive – “Cadillac des Reverend aus Baggersee geborgen”. Aber sie fühlte sich eben befangen und angesichts der Hektik nach dem tödlichen Unfall der kleinen Rachel Simmons – der Suche, der Bestattung, der Woge des Mitgefühls für die Hinterbliebenen – irgendwie auch seelisch angeschlagen.

Nach dem strapaziösen Morgen konnte sie sich zum Schreiben nicht aufraffen. Jedenfalls noch nicht. Sie hatte an diesem Tag ohnehin nicht viel zustande gebracht. Außer in der Wohnung hin- und herzutigern oder im Internet herumzusurfen, immer auf der Suche nach jemandem, der ihr vielleicht helfen konnte.

Sie setzte die Katze wieder ab, schnappte sich den alten Quilt ihrer Mutter von der Couch, und trat, die Decke um die Schultern geschlungen, ans Fenster. Es war schon recht spät geworden. Und es regnete immer noch.

Gott, wie sie es satthatte, dieses ständige Nieseln, die Kälte! Das permanente Getrommel der Regentropfen auf dem Dach zerrte an ihren Nerven. Und alles um sie herum war feucht und klamm und roch irgendwie schimmelig.

Sie warf einen Blick auf ihre Autoschlüssel, die auf dem antiken Sekretär neben der Haustür lagen. Vielleicht, ermunterte sie sich selbst, solltest du mal raus aus der Bude, deine Verwandten besuchen? Der sanfte Stundenschlag der Dielenuhr verriet ihr jedoch, dass es dafür schon viel zu spät war. Den langen Weg zu der Farm, auf der Clay und Allie wohnten, wollte sie sich sowieso nicht machen. Dort war sie aufgewachsen, und eine Stippvisite hätte doch nur weitere Erinnerungen an ihren Vater ausgelöst.

Bilder des angeseilten, von Schlamm und Rost bedeckten Cadillacs kamen ihr wieder in den Sinn. Sie drückte sich die Handballen auf die Augen, sah aber trotzdem wieder, wie Pontiff die Kamera ihres Vaters hochhielt, hörte das metallische Kreischen, das Platschen des Wassers, das aus der aufgehebelten Wagentür schwappte … das Echo von Chief Pontiffs Ausruf: “Das war’s.”

Sie trat vom Fenster zurück und ging in ihre altmodisch eingerichtete Küche. Dort lag auf ihrem kleinen Schreibtisch eine ausgedruckte Liste mit Namen von im Internet aufgespürten Privatermittlern. Einige von ihnen hatte sie vorhin bereits angerufen, jedoch ohne Erfolg. Entweder hatten sie zu viel zu tun oder sahen sich außerstande, nach Stillwater anzureisen und die erforderlichen Ermittlungen aufzunehmen. Oder sie hatten sich auf einschlägige Fälle spezialisiert, etwa auf verschollene Kinder oder untreue Ehemänner.

Allerdings hatten ihr einige der Detekteien einen gewissen Hunter Solozano empfohlen. Der finde alles und jeden, so hieß es, und nehme häufig Aufträge einfach der Herausforderung wegen an. Als sie jedoch die ihr übermittelte Telefonnummer anwählte, hatte sie über die Voicemail lediglich den Hinweis erhalten, dass für neue Nachrichten kein Platz mehr sei.

Mit einem unterdrückten Seufzer griff sie erneut nach ihrem schnurlosen Telefon und versuchte es noch einmal bei diesem Mr. Solozano. Es war zwar schon nach Mitternacht, doch das war ihr egal. Es handelte sich ja vermutlich um einen Geschäftsanschluss, also machte die Uhrzeit sicher keinen Unterschied. Vielleicht konnte man endlich eine Nachricht hinterlassen, damit ihr zumindest ein Funken Hoffnung blieb.

Eigentlich hatte sie mit den üblichen drei Klingeltönen gerechnet, bis der Anrufbeantworter ansprang. Daher zuckte sie regelrecht zusammen, als sich fast postwendend eine tiefe Stimme meldete.

“Herrgott noch mal, Antoinette! Kriegst du den Hals denn überhaupt nicht voll?”

Madeline war wie vom Donner gerührt. “Und wenn hier gar nicht Antoinette ist?”

Einen Augenblick herrschte verblüfftes Schweigen. “Kommt drauf an”, entgegnete der Mann am anderen Ende dann geistesgegenwärtig, “wer Sie sind und was Sie wollen.”

“Kommt ebenso drauf an”, gab sie zurück, “ob Sie Hunter Solozano sind.”

“Ja, das bin ich.”

“Und sind Sie so gut, wie alle Welt behauptet?”, fragte sie freudig erregt.

Er lachte leise in sich hinein. “Noch besser. Erst recht, wenn Sie Sex meinen.”

Völlig auf ihr Vorhaben fixiert, hatte sie also prompt ins Fettnäpfchen getreten. Sie hüstelte, verärgert und peinlich berührt zugleich. “Ich meinte Ihre professionellen Fähigkeiten.”

“Aha, also ist es geschäftlich.”

“Richtig.”

“Um halb elf abends.”

Seine Zeitzone! Madeline war die Vorwahl sowieso schon seltsam vorgekommen. Zum Glück gehörte sie zu einer Region weiter westlich von ihr. Wäre es ostwärts gewesen, hätte er vermutlich noch mehr Anlass zur Beschwerde gehabt. “Für mich hören Sie sich aber hellwach an”, meinte sie zögernd und klopfte mit einem Bleistift auf die Schreibtischplatte.

“Ihretwegen und wegen meiner Ex!” Bedeutungsvoll senkte er die Stimme. “Und falls Sie noch nicht von allein drauf gekommen sind: Da befinden Sie sich nicht gerade in allerbester Gesellschaft.”

Leicht irritiert massierte sie sich die Stirn. “Ich dachte, ich hätte Ihre Firmennummer gewählt.”

“Das heißt, Sie haben gar nicht damit gerechnet, dass einer abnimmt. Toll. Dann hat es ja bestimmt auch Zeit bis morgen.”

“Nein”, rief sie, ehe er auflegen konnte. “Sie waren bis jetzt nie erreichbar”, fuhr sie etwas forscher fort, ermutigt durch das Ausbleiben des Klickens. “Und ihre Mailbox war voll.”

Er kam ihr nicht mit Ausreden und versprach ihr auch nicht, sich erst später um ihr Anliegen zu kümmern. Daher redete sie weiter, bemüht, ihn an der Strippe zu halten, bis er ihr eine feste Zusage gegeben hatte – oder eben nicht. “Konnte ich ja nicht ahnen, dass man mir Ihren Privatanschluss gegeben hat.”

“Ist es nicht, sondern mein Handy. Wenn Sie mich sprechen wollen, gibt es nur diese eine Nummer. Ich mag es halt simpel und überschaubar.”

“Sie haben kein Büro?”

“Ein kleines, aber da erwischt man mich nur selten.”

Maunzend rieb sich Sophie an Madelines Beinen, aber sie war zu beschäftigt, um darauf einzugehen. “Soll ich daraus schließen, dass Sie an einem Ausbau ihrer Geschäftsbeziehungen nicht interessiert sind?”

“Ich hab mehr als genug zu tun.”

Eine wenig ermutigende Antwort … “Schön für Sie, ich gratuliere”, sagte sie.

“Nun ja, in den Abgründen menschlicher Unzulänglichkeit herumzuwühlen hat auch seine Schattenseiten.”

“Wieso machen Sie dann nicht was anderes?”

“Tja, manche Menschen können eben gut Häuser bauen. Ich gehöre nicht zu der Sorte.”

Zwischenmenschlicher Umgang zählte anscheinend ebenfalls nicht zu seinen Stärken. Allerdings hatte sie zu viele positive Referenzen über ihn bekommen, als dass sie jetzt, da sie ihn schon mal an der Strippe hatte, gleich die Segel streichen wollte. “Ich hätte da eine echte Herausforderung für Sie.”

“Ich bin müde und möchte ins Bett”, sagte er. “Trotzdem, danke für den Anruf.”

“Kann ich Ihnen wenigstens meine Nummer geben? Damit Sie mich morgen früh zurückrufen können?”

Langes Schweigen.

“Hallo?”, hakte sie nach.

“Ich könnte Sie an einen jungen Kollegen verweisen.”

Möglicherweise war der etwas umgänglicher. “Taugt der denn was, Ihr Kollege?”

“Hat ‘ne Zeit lang bei mir im Büro gearbeitet. Datenbank-Recherche. Bekam neulich seine eigene Lizenz. Hat zwar nicht viel Erfahrung, ist aber eifrig und lernt schnell.”

Lernt? “Nein danke, lassen Sie mal. Ich brauche jemanden, der sein Handwerk versteht.”

“Tja, was soll ich da sagen, Mrs. …”

“Barker. Aber ich bin und war nie verheiratet. Madeline reicht.”

“Also, Miss Barker, falls ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt haben sollte: Ich bin nicht interessiert. Nach ihrem Akzent zu urteilen wohnen Sie sowieso nicht gerade bei mir um die Ecke.”

“Ich wohne in Stillwater, Mississippi. Und Sie?”

“L.A.”

“Ziemlich überlaufene Gegend”, stellte sie in der Hoffnung fest, sie könne so auf eine der Schattenseiten des Großstadtlebens verweisen.

“Stimmt, aber wenn Sie mal hier gewesen wären, wüssten Sie auch, warum das so ist.”

“Ich zahle auch ordentlich.” Stirnrunzelnd blickte sie auf ihr Ein- und Ausgabenbuch, das offen neben ihrem Ellbogen lag. Eigentlich hatte sie diese Karte gar nicht ausspielen wollen. Sie hielt ja nur mit knapper Not sich selbst und die Zeitung finanziell über Wasser. Wie sollte sie da horrende Honorare bezahlen?

“Wenden Sie sich am besten an eine Detektei vor Ort”, schlug er vor.

Ein Gefühl von Panik stieg in ihr auf, und ihre Finger verkrampften sich um den Hörer. “Aber ich habe Ihnen ja noch gar nicht gesagt, was ich von Ihnen will!”

“Lassen Sie mich raten. Ich soll den Drachen erlegen, der Ihnen nächtens den Schlaf raubt.”

Sie warf einen Blick auf die rechts von ihr hängende Küchenuhr, hundemüde und offenbar beträchtlich neben der Spur. Allem Anschein nach ließ die Erschöpfung in ihrer Stimme sie nicht gerade überzeugend wirken. “Ist das nicht meistens so bei Ihren Klienten?”

“Heutzutage setzen die mich eher auf ihre Ehepartner an. Sie fragen sich, ob die Geld beiseiteschaffen oder fremdgehen oder so. Mit dem Wissen hoffen sie, bei einer Scheidung besser abzuschneiden. Oder sie wollen ausstehende Schulden eintreiben. Der Drache meiner Klienten ist also häufig blanke Geldgier.” Eine kurze Pause folgte. “Passen Sie in irgendeine dieser Kategorien, Miss Barker?”

“Das nicht, nur …” Sie bemühte sich redlich, die Geduld nicht zu verlieren und seine schnoddrige Art einfach zu ignorieren. “Dann machen Sie es sich also gerne einfach? Nehmen bloß noch den leichten Kram an?”

“Ich nehme den Kram, der mir gelegen kommt. West-Küsten-Kram. Im Übrigen bezweifele ich, dass Sie sich mein Honorar überhaupt leisten können.”

Jetzt bückte sie sich doch und tätschelte ihre Katze, die immer noch nicht aufgegeben hatte. “Was soll das denn bitte schön heißen?”

“Ich weiß nicht, liegt vielleicht an Ihrem Akzent.”

Ihr blieb vor Empörung glatt die Spucke weg. “Das … das ist ja die reinste Diskriminierung!”, sagte sie atemlos.

“Na, Sie haben doch angerufen! Es steht Ihnen jederzeit frei, das Gespräch zu beenden.”

Madeline schob Sophie sanft beiseite und stand auf. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, er könne ihr den Buckel runterrutschen. Aber was war ihre Alternative, an wen würde sie sich stattdessen wenden? Jedenfalls an keinen Besseren, nach allem, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatte. “Ich brauche Ihre Hilfe”, flehte sie. In ihrer Not griff sie auf schlichte Ehrlichkeit zurück.

Er fluchte, legte aber nicht auf. Also atmete sie tief durch und wagte einen erneuten Versuch. “Sind Sie noch dran?”

“Um was geht es denn eigentlich?”, fragte er mit einem Hauch Resignation, der Madeline neue Hoffnung gab.

“Um eine Person.”

“Wen genau?”

“Meinen Vater.” Dass er seit ihrem sechzehnten Lebensjahr verschollen war, verschwieg sie. Dass die Aufgabe möglicherweise schwer werden würde, wollte sie am besten nur scheibchenweise zu erkennen geben.

“Wohin ist er Ihrer Ansicht nach denn verschwunden?”

Trotz der vielen Jahre hatte sie sich an den Traum eines Wiedersehens geklammert – bis der Cadillac gefunden worden war. “Ich bin ziemlich sicher, dass er tot ist.”

“Und was macht Sie so sicher …?”

Sie hielt den Atem an und ließ ihn mit jedem Wort stoßweise entweichen. “Er hat sich lange … nicht mehr blicken lassen. Sehr lange nicht.”

“Wie lange?”

“Neunzehn Jahre.”

“Fast zwei Jahrzehnte? Sind Sie da nicht ein bisschen spät dran, Miss Barker?”

Sie war so betroffen von seinem vorwurfsvollen Ton, dass es ihr die Kehle zuschnürte. “Ich habe mein Möglichstes getan”, brachte sie mühsam hervor. Sie hatte sogar zu unzulässigen Mitteln gegriffen: Einmal brach sie in den Autosalon von Jed Fowler ein, ein andermal hatte sie Officer Hendricks benutzt, um Allie glauben zu machen, dass sie sich in akuter Gefahr befände.

“Und was haben Sie dabei in Erfahrung gebracht?”

Sehr wenig. Des Rätsels Lösung lag außerhalb ihrer bescheidenen kriminalistischen Fähigkeiten, leider auch jenseits derer der örtlichen Polizeibehörde. Mr. Solozano hatte ganz recht. Im Grunde hätte sie schon längst einen unbefangenen Privatermittler einschalten müssen. “Nicht genug.”

“Wer hätte denn am meisten von seinem Tod profitiert?”

“So simpel ist die Sache nicht. Meine Stiefmutter hat die Farm geerbt. Aber sie könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.”

“Wer käme da sonst noch infrage?”

“Jed Fowler, ein älterer Herr, der an dem Abend, als mein Vater verschwand, gerade unseren Schlepper reparierte. Der kommt einem zuweilen schon mal ein wenig … na ja, sonderbar vor. Und ein jüngerer Mann. Mike Metzger. Sitzt wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Ich kann aber nicht beurteilen, ob einer von denen etwas mit der Sache zutun hat. Das sollen Sie ja herausfinden.”

“Klingt mir verdächtig nach Mordfall. Wenden Sie sich an die Mordkommission.”

Was für eine Dickfelligkeit! Sie hätte glatt aus der Haut fahren können. Dabei lag doch auf der Hand, dass sie bei einem Zeitraum von zwanzig Jahren die Polizei längst eingeschaltet hatte! Ihm war das offensichtlich mehr als egal; er wollte lediglich mit der Angelegenheit nichts zu schaffen haben. Mochte ja sein, dass dieser Hunter Solozano einen fähigen Privatdetektiv abgab, aber gleichzeitig auch das abgebrühteste Ekel, das ihr je untergekommen war.

“Okay, dann eben nicht. Entschuldigen Sie die späte Störung.” Ihr brach die Stimme. “Jetzt können Sie sich weiter mit ihrer Ex streiten. Hoffentlich gewinnt sie!” Wortlos beendete sie das Gespräch.

Antoinette hatte bereits gewonnen. Hunter warf sein Handy auf den Beistelltisch. Geschah ihm ganz recht, dass diese Madeline Barker sauer auf ihn war. Er hatte es regelrecht darauf angelegt, hatte sie ja bei jeder sich bietenden Gelegenheit provoziert. Nach dem Gespräch mit seiner Exfrau und anschließend einem zweiten mit seiner Tochter – mein Gott, was die ihm an den Kopf geworfen hatte! – konnte ihm nichts Besseres passieren, als sein Mütchen an jemandem zu kühlen, der gar nichts mit der Sache zu tun hatte.

Wohler fühlte er sich allerdings immer noch nicht. Eher im Gegenteil.

Der flimmernde, auf stumm geschaltete Fernseher war die einzige Lichtquelle im Zimmer. Im Allgemeinen wirkte Dunkelheit beruhigend auf Hunter, doch an diesem Abend war es anders. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, stand ziellos auf und setzte sich gleich wieder.

Vergiss das mit Maria. Sie wusste nicht, was sie sagte. Ihre Mutter hat ihr das eingeredet. Wie üblich.

Aber er konnte es nicht vergessen. Der Schmerz war zu konkret, als klaffe eine offene Wunde in seiner Brust. So als habe seine Tochter hineingegriffen, sein Herz in ihre kleine Hand genommen und vollkommen unbekümmert zugedrückt.

In dieser scheußlichen Verfassung grenzte es an ein Wunder, dass die Verzweiflung in der Stimme dieser Barker-Dame überhaupt zu ihm durchgedrungen war.

“Diese Frau ist nun wirklich nicht mein Problem!”, sagte er laut. Das Problem war vielmehr seine Tochter. Genauer gesagt, die Tatsache, dass seine Ex-Frau die Kleine gegen ihn aufhetzte. Obwohl er exorbitante Summen an Unterhalt zahlte – gerade erst diesen Monat hatte er Antoinette zweitausend Dollar außer der Reihe überwiesen –, gab sich seine Ex nie zufrieden. Er bezweifelte sogar, dass das überwiesene Geld seiner Tochter wirklich zugute kam. Bei der letzten Begegnung mit Antoinette war ihm aufgefallen, dass sie eine neue Nase im Gesicht trug, und ihre Brüste nach einer Vergrößerung dermaßen üppig ausgefallen waren, dass sie wie eine Porno-Queen auf ihn wirkte. Auch wenn er nicht mehr mit ihr verheiratet war: Wie sie das Geld mit vollen Händen ausgab, sich in der Schickeria-Szene von Los Angeles tummelte und versuchte, mit den Reichen und Schönen mitzuhalten, das war einfach nur peinlich. Die gemeinsame Tochter empfand solche Allüren vermutlich als doppelt unangenehm. Wahrscheinlich gab es im Schulelternrat nicht allzu viele engagierte Mütter, die mit melonengroßen Möpsen erschienen.

Komischerweise hatte sich Antoinettes Hang zu Schönheitsoperationen, Designerklamotten und Prominenten erst nach der Scheidung entwickelt.

Die Gewissensbisse, der eigentliche Grund für seine Lebenskrise, nagten immer stärker an ihm. Wie konnte es sein, dass er alles so komplett vermurkst hatte? Ja, wenn man das Rad noch einmal zurückdrehen könnte …

Aber es war längst zu spät, das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Und nun benutzte Antoinette ihre gemeinsame Tochter, um ihn auszunehmen wie eine Weihnachtsgans. Gleichzeitig sprach sie von ihm wie über den Teufel selbst und machte ihn für sämtliche vorpubertäre Probleme verantwortlich, die Maria in ihrer beider Zusammenleben verursachte.

Automatisch fiel sein Blick auf das Foto seiner 12-jährigen Tochter, das auf einem der leeren Regale über dem Fernseher stand. Es stellte in etwa die einzige Dekoration dar, die in dem Strandhaus noch übrig geblieben war. Antoinette hatte bei ihrem Auszug vor etwas über einem Jahr verbrannte Erde hinterlassen.

Mit ernster Miene erwiderte Maria aus dem Foto heraus seinen Blick. Vermutlich hatte der Schulfotograf sie noch aufgefordert, “Cheese” zu sagen. Sie selber schien hingegen zu denken: “Sei nicht albern! Was habe ich schon groß zu lachen?”

Das Verlangen nach einem Drink traf ihn mit derselben Wucht wie die der tosenden Brandung, die draußen gegen den Strand anrollte. Er kam sich hilflos vor, Sklave seines Verlangens nach etwas Scharfem, das ihm in der Kehle brannte und ihn die Welt um sich herum vergessen ließ. Das war doch nicht zu viel verlangt: Nur eine Nacht lang die Realität ausblenden, dann wieder zurück in die Tretmühle. So schlimm wie heute war es noch nie gewesen. So etwas wie an diesem Abend hatte seine Tochter ihm noch nie vorgeworfen.

Lass uns einfach in Ruhe, ja? Du machst alles nur noch schlimmer … Ich will nicht bei dir sein, kapiert? Ist ja doch alles deine Schuld!

Bei dem Gedanken an das Gespräch verzog er unwillkürlich das Gesicht, so als hätte er eine heiße Herdplatte berührt. Er griff nach seinem Schlüssel und der Brieftasche, musste in die Kneipe an der Ecke, wenn er sich volllaufen lassen wollte. Inzwischen seit einem halben Jahr trocken, hatte er keinen Alkohol im Haus.

Doch an der Haustür zögerte er. Ihm war, als folge ihm Marias Blick, als sehe sie ihm vorwurfsvoll nach. Du bist genau das, was man von dir behauptet! Ein Säufer!

Zähneknirschend und mit gesenktem Kopf kämpfte er gegen die Schwäche an, die ihn zu überwältigen drohte. Er musste diesem Drang widerstehen – und sei es nur, um Antoinettes Vorwürfe Lügen zu strafen.

Letzten Endes zwang er sich dazu, zur Couch zurückzugehen. Er nahm seine Gitarre zur Hand, spielte ein paar Akkorde. Alles war so verdammt paradox, dachte er, bemüht, dem Telefonanruf, der ihn so tief getroffen hatte, etwas Gutes abzugewinnen. Einzig der Alkohol hatte ihn in die Lage versetzt, die gereizte Stimmung und latente Unfreundlichkeit zu ertragen, denen er tagtäglich in seiner Ehe ausgesetzt gewesen war. Und unter dem Einfluss von Alkohol hatte er den einen Fehler begangen, den er nie hatte begehen wollen, jenen Fehltritt, bei dem er im Bett der Nachbarin gelandet war – mit dem er seine Ehe zerstört hatte.

In der Hoffnung, sich in die Musik flüchten zu können, spielte er ein paar Songs der Rockgruppe Nickelback vor sich hin. Seine Gitarre half ihm, sich ein wenig zu entspannen. An diesem Abend jedoch bot ihm nicht einmal die Musik ein Ventil für all den aufgestauten Frust. Antoinette hatte ihm versprochen, er dürfe nächstes Wochenende für eine Woche mit Maria nach Hawaii fliegen. Zwei Monate plante er die Reise schon. Dann hatte die Kleine angerufen und ihm mitgeteilt, sie wolle nicht mitkommen …

Lustlos zupfte er noch ein paar Riffs, konnte sich dabei auf nichts richtig konzentrieren. Kehle und Augen brannten, die Muskeln schmerzten von dem krampfhaften Bemühen, seine Sucht zu unterdrücken.

Um auf andere Gedanken zu kommen und nicht an die Absage zu denken, die ihm andauernd durch den Kopf ging, ließ er noch einmal das Telefongespräch mit dieser Südstaatlerin Revue passieren. Wonach suchen Sie denn …? Nach einer Person … Nach wem …? Nach meinem Vater …

Hunter seufzte. Maria wollte ihren Vater nicht einmal besuchen. Da wohnten sie keine zehn Meilen voneinander entfernt, und sie lehnte es ab, ihn zu sehen! Was Antoinette natürlich gerade recht war. Seine Ex hasste ihn – weil er sie nie wirklich geliebt hatte.

Nicht! Denk an was anderes!

Wieder war ihm, als höre er die Stimme von Madeline Barker. Das ist ja reinste Diskriminierung!

Mit nachdenklicher Miene stellte er die Gitarre zur Seite. Mississippi stand nicht gerade besonders weit oben auf seiner Liste der attraktivsten Reiseziele. Aber mit Notlagen kannte er sich aus. Und hier hielt ihn doch sowieso nichts, oder? Allein in einem leeren Haus, nur die Gitarre als Gesellschaft, Tag und Nacht schuftend, damit er nicht rückfällig wurde und wieder dem Alkohol verfiel.

Mittlerweile führte er ein so erbärmliches Dasein, dass es jeder Beschreibung spottete. Er liebte Kalifornien, hatte sein ganzes Leben hier in Newport Beach verbracht, doch ihm war, als höre er im stetigen Tosen der Brandung, die nur knapp zwanzig Schritte von seiner Haustür entfernt an den Strand rollte, nur immer wieder den einen Namen: Maria … Maria … Maria …

Nur ein Idiot verdarb es sich mit der eigenen Tochter! Und nur ein noch größerer Idiot legte den Strick, mit dem er sich aufhängen wollte, in die manikürten Hände seiner rachsüchtigen Exfrau, damit sie die Schlinge zuziehen konnte …

Vielleicht war es Zeit, mit diesem ganzen Theater Schluss zu machen. Auf keinen Fall wollte er seine Tochter dazu zwingen, ihn zu besuchen. Die Vorstellung, sie noch unglücklicher zu machen, als sie sowieso schon war, war ihm unerträglich. Maria hatte ihn wissen lassen, dass es für alle Parteien besser wäre, wenn er sie in Ruhe ließe. Vielleicht tat ihm ein Tapetenwechsel ja wirklich mal ganz gut? Es brachte weiß Gott niemandem etwas, wenn er hier herumhockte und allmählich durchdrehte. Allein nach Hawaii, das kam allerdings auch nicht infrage. Das brachte ihn womöglich nur auf dumme Gedanken. Am Ende hätte er es vermutlich nicht mal einen Tag ausgehalten und sich wieder in die nächste Kneipe geflüchtet.

“Ach, zum Henker”, knurrte er und knipste die Schreibtischlampe an, damit er die Nummer des Anschlusses erkennen konnte, von dem aus Madeline Barker ihn angerufen hatte.

Vom schrillen Klingeln aufgeschreckt, hob Madeline schlaftrunken den Kopf. War es etwa schon Morgen?

Sie fühlte sich verspannt und am ganzen Körper wie zerschlagen. Als sie blinzelnd auf ihre Armbanduhr schaute, wusste sie auch wieso: Es war erst ein Uhr morgens! Also konnte sie allerhöchstens zwanzig Minuten geschlafen haben. Und da sie am Schreibtisch eingenickt sein musste, hatte sie sich wohl den Nacken verrenkt.

Wieder schrillte das Telefon. Mit Mühe hob sie den Hörer ans Ohr; beinahe wäre er ihr aus der Hand geglitten. “Hallo?” Ihre Stimme klang kehlig und rauh.

“Miss Barker?”

“Ja?”

“Hunter Solozano hier.”

Sie fuhr hoch und stand einen Moment vor Anspannung auf den Zehenspitzen. “Was kann ich für Sie tun, Mr. Solozano?”

“Sie können mir den nächstgelegenen Flughafen verraten!”

“Weshalb … Sie wollen vorbeikommen? Hierher?”

“War das nicht genau Ihr Anliegen?”

“Ja, sicher, nur …” – vor lauter Aufregung kribbelte ihr die Kopfhaut – “… wir haben ja das Prozedere noch gar nicht besprochen.”

“Mein Honorar beträgt tausend Dollar pro Tag. Plus Spesen.”

Tausend Dollar pro Tag! Sie schlug sich die Hand vor den Mund.

Solozano redete ungerührt weiter. “Sie sagten, das mit dem Honorar wäre kein Problem. Gilt das noch?”

Das würde sie ja ein kleines Vermögen kosten, sogar noch mehr, als sie erwartet hatte. Allerdings wollte sie auch nicht zugeben, dass sie jetzt doch noch ins Trudeln kam. Jedenfalls nicht nach dem, was er ihr vorhin an den Kopf geworfen hatte. Liegt vermutlich am Akzent. Mochte ja sein, dass sie aus seiner Sicht in den Wäldern hauste, doch eine ungebildete, weltfremde Landpomeranze war sie deshalb noch lange nicht. “Klar. Kein Problem”, log sie frech.

“Gut. Die ersten fünftausend sind als Vorschuss fällig.”

Vor Schreck biss sie sich auf die Unterlippe. Schon die Summe war so gewaltig, dass für nächsten Monat nicht viel übrig bleiben würde, um die laufenden Kosten zu decken. Die Zeitung war eher eine Liebhaberei; leben konnte man von ihr kaum. “Wie lange wird die Ermittlung denn wohl in Anspruch nehmen … so nach Ihrem Gefühl?”

“Kann ich von hier aus schlecht beurteilen”, sagte er schulterzuckend. “Wie wichtig ist es Ihnen denn mit der Sache?”

Angesichts der finanziellen Belastung wurde ihr ganz flau. Wenn dieser Solozano nur einen Monat blieb, lief das auf eine Rechnung von über zwanzigtausend Dollar hinaus. Bei freien Wochenenden, wohlgemerkt.

Sei’s drum, er war ihre letzte Hoffnung. Sämtliche anderen Möglichkeiten waren ausgeschöpft. “Wichtiger, als mir je etwas im Leben gewesen ist.”

“Wunderbar, dann bin ich pünktlich am Donnerstag bei Ihnen.”

Sie musste schlucken. “Donnerstag schon?”

“Ja, Sie haben Glück. Eigentlich wollte ich in Urlaub, aber das hat sich gerade zerschlagen.”

Glück? Bei tausend Dollar pro Tag plus Unkosten? “Äh … nur mal sicherheitshalber – was beinhalten denn Ihre Spesen? Flugticket plus Hotel?”

“Plus Mietwagen, Kost und Logis, etwaige Laboruntersuchungen von gefundenem Beweismaterial und dergleichen.”

“Verstehe …” Das konnte eine lange Liste werden. Bei seinem Honorar waren die anfallenden Spesen wohl ihre geringste Sorge. Aber das mit dem Beweismaterial, das klang aus seinem Munde doch schon recht optimistisch!

“Erledigen Sie die Hotelbuchung, oder soll ich das übernehmen?”, wollte er wissen.

Madeline ließ den Hörer von einer Hand in die andere wandern und wischte sich die feucht gewordenen Handflächen an der Jogginghose ab. “Ich dachte … also, ich hatte mir überlegt …”

“Was überlegt, Miss Barker?”

Sein ungeduldiger Ton machte sie langsam nervös. “Gäb’s da vielleicht ‘ne Möglichkeit, das Ganze etwas günstiger zu gestalten?”

“Günstiger gestalten?”, wiederholte er argwöhnisch.

“Ich habe hier noch eine separate Einliegerwohnung und dachte, ich könnte Sie vielleicht so lange dort unterbringen. Sehr ruhig gelegen”, fügte sie hinzu. “Ich lebe allein.”

“Und womit soll ich fahren?”

“Mit meinem Wagen.”

“Und Sie fahren womit?”

“Mein Stiefbruder leiht mir bestimmt einen der Trucks von seiner Farm. Die Dinger mögen zwar nicht besonders viel hermachen, weil damit immer Erde und Futter transportiert wird, aber einen hat er bestimmt für mich übrig.”

Offenbar machte es Hunter nichts aus, in der Einliegerwohnung zu wohnen und ihren Wagen zu fahren, denn er sagte sofort zu. “Soll mir recht sein. Heißt das, Sie holen mich am Flughafen ab?”

Wenn sie ihn chauffierte, ergab sich zumindest die Möglichkeit, sich während der Fahrt zu unterhalten. Dann konnte er gleich bei der Ankunft in Stillwater mit seinen Nachforschungen beginnen. Es erschien ihr sinnvoll, die Kosten möglichst in Grenzen zu halten, zumal es ja keine Garantie gab, dass am Ende irgendetwas bei diesem Auftrag herauskam. Ob er wohl Spuren fand, die alle anderen übersehen hatten? Oder würde er sich letztendlich als ebenso erfolglos erweisen wie die Polizei? Möglicherweise ruinierte sie ihre Finanzen für nichts und wieder nichts. Wegen eines Hungers, der nie gestillt werden konnte …

“Miss Barker, sind Sie noch dran?”

Sie schluckte abermals, denn jetzt war ihr der Hals wie ausgedörrt. “Ich hole Sie ab. Am besten fliegen Sie nach Nashville, okay?”

“Liegt das näher als Jackson?”

“Ungefähr zwei Autostunden.”

“Einverstanden. Ich buche über das Internet und melde mich morgen früh.”

“Alles klar.” Sie tat so, als sähe sie das Ganze ebenso nüchtern wie er. Doch als sie das Gespräch beendete, konnte sie den Blick nicht vom Telefon wenden.

“Wenn das mal gut geht”, murmelte sie unsicher.