13. Kapitel
UNGEWOLLTE BEZIEHUNGEN
Am nächsten Tag eröffnete ihr Johanna mit verkniffener Miene, dass ihr erst einmal sehr geholfen wäre, wenn sie sich vormittags um die beiden Kleinen kümmerte und am Nachmittag deren Bruder Klaus bei den Schulaufgaben beaufsichtige. Magdalena gehorchte, aber es schien ihr schwieriger, einen Bienenschwarm einzufangen, als die beiden temperamentvollen Mädchen, Britta und Agnes, und den ziemlich ungezogenen Klaus im Zaum zu halten. Aber das war noch gar nichts gegen die Älteste, Katharina, die lang aufgeschossen, mit aparten grünen Augen und feuerrotem Haar, mehr Zeit vor dem Spiegel als bei ihren Hausaufgaben verbrachte. Das hübsche, aber sehr eitle Mädchen war ein schwieriger Charakter, ihrer Mutter ziemlich ähnlich. Sie sah ihr vom ersten Tag an mit Ablehnung entgegen und da der Altersunterschied zwischen ihnen nicht allzu groß war, weigerte sie sich vor allem, ihr zu gehorchen.
Als die Hupe des grauen Cabriolets am Donnerstagnachmittag im Hof ertönte, fühlte Magdalena sich von vielen unsichtbaren Augen beobachtet. Sie hatte diesem Moment mit gemischten Gefühlen entgegengesehen – aber beschlossen, sich mit dem Kriegsreporter gut zu halten: Es gab einfach keine bessere und gefahrlosere Möglichkeit, ihre Post zu befördern, als wenn Richter sie in Berlin in den Briefkasten warf! Sie musste ihn hinhalten – und wenn er dann in ein paar Wochen abfuhr, war sie ihn ohnehin los!
Sie erkannte ihn kaum, als er diesmal in Zivil ausstieg, die Zigarette im Mundwinkel, in einem hellen Anzug und einen beigen Pullover lässig über die Schultern gehängt. Er begrüßte sie mit einem Handkuss und hielt ihr die Autotür auf, aber gerade, als sie einsteigen wollte, öffnete sich das Hauptportal und Margarete, die langen, flammend roten Haare offen über die Schultern gebreitet, stand in ihrem weißen Seidenkleid im Rahmen und beobachtete sie aufmerksam und mit unverhohlener Neugier.
»Was ist denn das für ein schönes Kind?«, fragte Richter und musterte das Mädchen voller Bewunderung.
»Katharina von Papenburg, die Älteste der Geschwister. Sie ist erst fünfzehn, aber schon ziemlich frühreif!«, gab Magdalena kurz Auskunft. »Jetzt fahren Sie schon los! Es ist mir gar nicht recht, dass wir so ein Aufsehen erregen. Meinem Onkel wird das nicht passen!«
»Schon gut, schon gut!« Richter gab so heftig Gas, dass der Wagen mit einem Satz vorwärtsschoss und aufheulend über die Landstraße brauste.
»Entschuldigung! Aber meine Schwester hat mir das Auto geliehen – es macht wirklich Spaß, es einmal ordentlich auszufahren!« Er beschleunigte weiter, als sie in die asphaltierte Straße einbogen, und er nahm die nächste Kurve mit quietschenden Bremsen.
»Bitte fahren Sie langsam – ich kann das nicht vertragen!«, bat Magdalena nervös, doch der Fahrer warf ihr nur einen spöttischen Seitenblick zu und ließ seinen Fuß auf dem Gaspedal. Erst als sie sich dem Ort näherten wurde er langsamer, und sie fuhren am Garten und Park des fürstlich Claryschen Schlosses sowie dem Denkmal König Friedrich Wilhelms III. vorbei. In der Stadtmitte, am Kurgarten, hielt Richter an. Sie stiegen aus und gingen zu Fuß weiter. Richter zeigte sich auf einmal von einer sehr angenehmen und unterhaltsamen Seite. Er wusste allerhand zu erzählen von der Geschichte der Stadt, von den Treffen bedeutender Persönlichkeiten wie Goethe und Beethoven, die unter vielen anderen Berühmtheiten einst das Wasser der gesundheitsfördernden Teplitzer Thermen genossen hatten. Staunend promenierte Magdalena mit ihm am neuen Stadttheater, dem palastartigen Kaiserbad und den pompösen Trinkhallen vorüber und vergaß beinahe, dass sie nicht ganz freiwillig hierhergekommen war. Es war ein ungewöhnlich warmer, spätherbstlicher Tag, und die Sonne glänzte beinahe sorglos auf den Dächern und dem Turm der evangelischen Kirche im Zentrum der Stadt. Sie fühlte sich so unbeschwert wie lange nicht mehr, lief um den barocken Brunnen des Steinbades und ließ ihre Hand vom kühl rauschenden Wasser umspielen. Es war erstaunlich, dass dieses bezaubernde Kurstädtchen so friedlich schien und so wenig vom Krieg berührt! Nach dem belebenden Spaziergang fuhr Richter in die Kaiserstraße, wo er den Wagen in der Nähe der stadtbekannten Konditorei »Lindenkaffee« parkte, die für ihren guten Kuchen bekannt war. Sie ließen sich an einem Tisch nieder, der ein wenig verdeckt in einer kleinen Nische stand, und Richter bestellte Malzkaffee und Limonade sowie ein Stück Blechkuchen mit Streuseln.
Obwohl es verlockend aus der Backstube roch und der Kuchen gut aussah, stocherte Magdalena darin herum. Sie wusste nicht, wie sie Richter ihr Anliegen beibringen sollte, ohne dass er sie für aufdringlich hielt. Schließlich griff sie in ihre Tasche, holte den Brief und die Karte hervor und legte beides vor ihn auf den Tisch.
»Sie haben mir doch versprochen, in Berlin Post für mich einzuwerfen, nicht wahr?«, sie bemühte sich, ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang zu verleihen, doch sie klang rau und angestrengt.
»Ja, gerne – aber was bekomme ich denn dafür von Ihnen?« Richter sah ihr wieder so tief in die Augen, dass ihr ganz schwindlig wurde und legte seine Hand wie zufällig auf ihr Knie. »Ich bin niemand, der ganz ohne Gegenleistung nett zu einer Frau ist, das sollten Sie von vornherein wissen!« Magdalena wollte seine Hand fortschieben, doch sie war von seiner offenen Antwort wie gelähmt. Langsam streichelte er mit der anderen über ihre blonden Locken und öffnete die Spange, mit der sie im Nacken gehalten waren.
»So sind sie noch viel hübscher«, murmelte er und ringelte mit sanftem Kitzeln dicht an ihrem Hals entlang eine glänzende Strähne um seine Finger. Magdalena durchfuhr unwillkürlich ein Schauer bei seinen Berührungen, aber gerade, als sie ihn entschlossen von sich schieben wollte, ließ er sie von selbst los. Die Bedienung stellte die Limonade, ein wässrig schäumendes, gelbliches Gebräu auf den Tisch.
Er fasste sie wieder um die Taille und zog sie leicht an sich. Diesmal wehrte sie sich nicht, denn wenn sie jetzt nicht stillhielt und seine zweifelhaften Zärtlichkeiten duldete, würde er sich bestimmt weigern, die Briefe zu befördern, und das bedeutete, dass es vorläufig keine Möglichkeit gab, sich mit Paul in Verbindung zu setzen.
»Wären Sie denn so nett … ich meine, könnten Sie für mich in Berlin vielleicht auch ein Postfach eröffnen?«, fragte sie ihn mit einem möglichst unschuldigen Lächeln. »Ich ließe dann vielleicht mit mir reden!«
Richter streifte sie mit einem rätselhaften Blick. »Von zu langem Reden halte ich nichts.« Er zog sie enger an sich. Sein Gesicht war vor ihr, ihr beider Atem mischte sich für ein paar kurze Sekunden, und sie sahen sich aus nächster Nähe an, wie zwei Gegner, von denen jeder sein Ziel erreichen wollte. Der gefürchtete Kuss blieb zu Magdalenas Überraschung allerdings aus; er ließ sie plötzlich los und rückte sogar ein wenig von ihr ab.
»Ist das … so etwa wie ein Handel, den Sie mir da gerade vorgeschlagen haben? Oder irre ich mich?«, fragte er fast nachdenklich.
Als sie nicht antwortete, fuhr er fort. »Sagen Sie mir die Wahrheit. Irgendetwas stimmt doch bei Ihnen nicht. Warum sind Sie hier? Wovor sind Sie auf der Flucht?«
»Das … möchte ich nicht sagen!« Magdalena biss sich auf die Lippen. »Es muss Ihnen genügen, dass ich von der Polizei gesucht werde. Wenn man mich findet, lande ich vielleicht im Gefängnis … « Sie konnte nicht mehr weitersprechen, weil Tränen in ihre Augen stiegen.
Richter nickte. »Verstehe! Sie haben irgendetwas angestellt, Dummheiten gemacht. Das habe ich mir schon gedacht. Aber irgendwann werden Sie mir davon erzählen.«
Magdalena nickte stumm. Eine Zeit lang herrschte Schweigen.
Er zündete sich eine neue Zigarette an und blies den Rauch an die Decke. »In ein paar Wochen bin auch ich wieder an der Front. Glauben Sie nur nicht, dass das Leben eines Kriegsberichterstatters weniger gefährlich ist als das eines Soldaten. Ich bin jetzt fünfunddreißig, da macht man sich so seine Gedanken. Das, was ich im Feld sehe, stimmt meist nicht mit dem überein, was die Wehrmacht als Meldung herausgibt. Ich persönlich glaube nicht, dass wir den Krieg noch gewinnen können. Aber was tun, wenn dieses ganze System mit all seinen ausgeklügelten Überwachungsstrukturen mit einem großen Knall zusammenbricht?« Er strich eine braune Haarsträhne, die ihm in die bereits von tiefen Falten durchzogene Stirn gefallen war, unwillig beiseite.
»Ja, ja, genau so denke ich auch!«, stimmte Magdalena aufgeregt zu, die froh war, dass das Gespräch eine andere Richtung angenommen hatte. »Aber erst, nachdem mein Bruder gefallen ist, der diesen Krieg von Anfang an gehasst hat, ist mir das klar geworden …«, sie brach ab, aus Angst, schon zu viel gesagt zu haben.
»Dann genießen wir also das Leben, solange wir es noch haben!«, sagte Richter zynisch und packte Magdalena bei den Schultern. »Aber dazu gehört, dass du sehr nett zu mir bist.« Er küsste sie rasch auf den Hals. »Wie zart deine Haut ist...«, murmelte er. Sie wehrte sich, wollte von ihm abrücken, doch die Nische ließ ihr wenig Freiraum. Sie schützte zwar vor neugierigen Blicken der wenigen Kaffeehausbesucher, bot aber keine Möglichkeiten zum Entweichen. Die Bedienung war im Verkaufsraum verschwunden, und er zog sie jetzt mit festem Griff an sich und presste trotz ihres Widerstrebens seine Lippen auf ihren Mund. Diesmal hatte sie keine Chance, aber auch nicht die Kraft, sich zu wehren. Er ist der Einzige, der dir helfen kann – du musst dich gut mit ihm stellen, drängte die Stimme in ihrem Innern. Paul, dachte sie noch, ich tu es doch für dich … für uns!
Unerwartet ließ er sie los und rief laut nach der Bedienung. »Zahlen!«
»Sprich endlich mit ihr!«, zischte Johanna wutentbrannt, die ohne zu klopfen in das Zimmer ihres Mannes gestürmt war. »Es ist deine Pflicht. Wir kommen in Teufels Küche. Ich will endlich wissen, was sie angestellt hat und warum sie sich auf einmal bei uns einnistet!«
»Beruhige dich doch!« Ludwig sah sie über die Brillengläser sorgenvoll an. »Soll ich meine Großnichte etwa hinauswerfen!«
»Großnichte oder nicht!«, schnaubte seine Frau wütend. »Eine Hure ist sie. Da kommt dieser Mann und holt sie ab – ich dachte, sie ist verlobt? Das lass ich mir nicht länger bieten. Das hier ist ein ehrbares Haus. Wir müssen wissen, warum sie hier ist. Sonst soll sie sich wieder nach Hause scheren. Ruf Louise an und frag sie!«
»Hab ich doch schon!«, seufzte Ludwig ergeben und setzte die Brille ab. »Mehrmals. Aber die Leitung ist entweder unterbrochen oder es geht niemand ran. Ich kann meine Schwester nicht erreichen.«
»Dann schreib ihr!«, böse funkelte Johanna ihn an. »Was bist du nur für ein Schlappschwanz!«
»Jetzt reicht es aber!« Er erhob sich von seinem Sitz. »Ich habe es längst getan, aber die Post kam zurück. Du vergisst wohl, dass unser Land im Krieg ist, auch wenn wir hier unten noch nicht allzu viel davon gespürt haben.«
»Heute Abend muss es eine Aussprache geben – oder ich schmeiße dieses frühreife Weibstück eigenhändig hinaus!« Die Tür schlug erneut mit einem Knall hinter ihr ins Schloss. Ludwig zuckte zusammen und starrte ratlos aus dem Fenster.
Magdalena stieg in den Wagen, und Richter, ein wenig nachdenklich, fuhr diesmal langsamer an als gewöhnlich.
»Ich habe übrigens herausbekommen, aus welchem Grund du dich hier versteckst!«, begann er ohne Einleitung und ohne sie anzusehen. »Meine Verbindungen zur Presse haben mir dabei geholfen.« Es entstand eine Pause, in der Magdalena wie erstarrt neben ihm saß. Dann sagte sie tonlos: »Und nun – was wollen Sie jetzt tun?«
Er stoppte den Wagen abrupt, beugte sich zu ihr und zog ihren Kopf an den langen, lockigen Haaren zu sich heran. »Nichts natürlich! Solange du ein sanftes Lämmchen bist und dich meinen Wünschen fügst, wird kein falsches Wort über meine Lippen kommen!« Er sah ihr lächelnd in die Augen, bevor er den Arm um sie legte und sie mit einer Leidenschaft küsste, die sie überraschte. Eine ganze Weile ließ er sie nicht los, als erwarte er, dass sie seine Küsse mit der gleichen Intensität erwiderte. Doch sie ließ alles über sich ergehen, hielt still wie eine reglose Puppe, bis er sie unvermittelt wütend von sich stieß. »Wenn du allerdings in Zukunft immer so leblos in meinen Armen liegst, werde ich mir das Ganze doch noch überlegen!« Er packte das Steuer mit beiden Händen und gab so heftig Gas, dass der Motor brüllend aufheulte und der Wagen vorwärtsschleuderte. Magdalena begann lautlos zu weinen; sie konnte den Tränen, die über ihre Wangen strömten, nicht mehr Einhalt gebieten.
Richter starrte durch die Windschutzscheibe. Was war bloß auf einmal in ihn gefahren? Für ihn war dieses Mädchen doch nur eine vorübergehende Affäre – nicht einmal der Typ, der ihn sonst schwach machte! Aber trotzdem und ganz gegen seine Vorsätze, sich nie von Gefühlen leiten zu lassen, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er musste sie haben – aber es irritierte ihn ungemein, dass seine Verführungskünste ins Leere gingen, er nicht das geringste Entgegenkommen spürte und sie ihn so distanziert und kühl ansah. Früher hätte er sich in einem solchen Fall sofort zurückgezogen, doch diesmal war er unruhig und hielt es nach einer schlaflosen Nacht keine vierundzwanzig Stunden aus, sie wiederzusehen. Bei seiner Erfahrung und seinem Äußeren war es bisher nie ein Problem gewesen, eine Frau zu betören – aber hier war das ganze Repertoire seines Charmes wirkungslos. Trotzdem reizte ihn ihr Widerstand – wenn alles nichts half, musste er ihn eben mit Gewalt brechen.
Er stoppte den Wagen in einer unscheinbaren Straße vor einer Reihe von grauen Mietshäusern und riss sie wieder in seine Arme. »Komm mit mir!«, hörte sie seine Stimme heiser, wie von weit her, belegt vor unterdrückter Leidenschaft an ihrem Ohr. »Ich habe ein eigenes Zimmer. Es ist nicht weit von hier.«
Magdalena schlang die Arme um seinen Hals. Sie wagte keinen Widerstand mehr, als er sie mit sich zog. Oberhalb der geräumigen Wohnung seiner Schwester, in einem mehrstöckigen Bau, stand ihm ein Dachstübchen mit eigenem Aufgang zur Verfügung, das er spartanisch eingerichtet hatte.
Als sie jedoch mit rasenden Pulsen dieses Zimmer betrat und auf das Bett starrte, das ordentlich aufgeschlagen war, hätte sie sich am liebsten umgedreht und wäre die Treppe hinuntergeflüchtet. Doch er versperrte ihr den Weg, sein kantiges Gesicht zeigte Entschlossenheit, in seinen Augen stand Begierde und so etwas wie Sehnsucht. Er fing sie in seinen Armen auf, als habe er ihren Fluchtversucht vorausgeahnt und hielt sie wie mit Eisenklammern fest. Langsam zog er ihr mit einer Hand die Bluse von den Schultern, und während sie ihren Oberkörper wie unter einem Krampf anspannte, tastete er mit einem wollüstigen Seufzer über ihre zarten Brüste. Nun ging alles sehr schnell, er zog sie an sich, erstickte ihren Widerspruch und ihre Proteste mit seinen leidenschaftlichen Küssen und trug sie aufs Bett. Magdalena konnte nichts anderes tun, als sich seinem Gewicht und den Knien, mit denen er ihre Schenkel gewaltsam auseinanderpresste, nur wie wild entgegen zu stemmen. Doch ganz plötzlich erkannte sie, dass jegliche Gegenwehr in dieser fortgeschrittenen Situation sinnlos war. Sie bäumte sich noch einmal auf, warf den Kopf zurück und sank dann mit einem tiefen Stöhnen zusammen. Was nun kam, spürte sie nur noch verschwommen, so, als geschähe es einer anderen Person. Sie gab nach, und alles wurde weich, schmelzend, durchzogen von einem unbekannten Gefühl, das durch alle Glieder bis ans Herz zu dringen schien. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst, bis es langsam verebbte.
Es war ruhig im Zimmer, und nur eine vereinzelte Fliege summte an der Fensterscheibe. Sie fühlte das Kissen unter ihrem Kopf und hatte Angst, die Augen aufzuschlagen. Der Rauch einer Zigarette stieg ihr beizend in die Nase, und sie musste niesen. Richter saß nackt am Fußende des Bettes und beobachtete sie mit seinem seltsamen Lächeln, aus dem sie nicht schlau wurde.
»Ich liebe dich, Kleines«, sagte er ohne große Betonung und streckte die Hand aus, um sie an sich zu ziehen. »Du bist wirklich sehr süß! Komm her!«
Magdalena wich zurück und versuchte, ihre Emotionen zu verbergen. »Aber ich liebe einen anderen Mann – ich bin so gut wie verlobt. Es ist besser, wenn Sie mich in Zukunft in Ruhe lassen!«, sagte sie so kühl sie es vermochte und hielt ihre Bluse vor die Brust. »Sie haben gehabt, was Sie wollten. Jetzt müssen Sie nur noch Ihren Teil einhalten, und dann sind wir quitt!«
Heinz Richter lachte kurz auf, riss ihr die Bluse fort und warf sie in die Ecke. »Nur keine Eile. Du hast es doch auch genossen, oder? Und du wirst mich noch brauchen, glaub mir! Ich hab mir mal die Fakten deines Falles genau angesehen. Mach dir nichts vor – man sucht dich, Schätzchen! Und wenn man dich findet, dann …«, er machte die kurze Bewegung des Halsabschneidens. »Deine jugendlichen Komplizen sind bereits alle inhaftiert. Wer weiß, ob sie noch mal rauskommen oder nicht gar auf mysteriöse Art in einem Konzentrationslager zu Tode kommen! Die Gestapo macht da gar keine Umstände!«
Magdalena fühlte, wie ein Zittern sie überlief und ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Aber was soll ich denn tun?« Sie sank zusammen, schlug die Hände vor die Augen und begann zu schluchzen.
»Gar nichts«, gab Richter zurück und nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette. »Außer, dass du in Zukunft ›Heinz‹ zu mir sagst!« Er nahm ihre Hände und zog sie herunter. Mit verweinten Augen sah sie ihn an, und dieser traurige Blick ließ eine ungewohnte, nie gekannte Zärtlichkeit in ihm aufsteigen. »Versprich es mir!«, bat er sanft. »Dann beschütze ich dich!«
Magdalena nickte tief aufseufzend, und er ließ seine Hände zärtlicher als zuvor über ihren nackten Rücken bis zu den Hüften gleiten, bevor er sie langsam wieder an seine Brust zog.
Als Heinz Richter Magdalena das nächste Mal abholte, sah er Johanna im Garten, die damit beschäftigt war, Rosen zu einem Strauß zu schneiden. Er hatte beschlossen, sich ihr vorzustellen, um die Situation ein wenig zu entschärfen. Ihre Tochter Katharina, die ihr half, die Blüten in einem Korb zusammenzulegen, erblickte ihn sofort und lächelte ihn auf eine Art und Weise an, bei der ihm ganz heiß wurde. Langsam, mit wiegenden Hüften, kam sie auf ihn zu und blieb vor ihm stehen, mit einer lasziven Bewegung ihr rotes Haar zurückstreichend. Der Träger ihres weißen Sommerkleides war über die gebräunten Schultern gerutscht und zeigte wie zufällig den Ansatz ihrer kleinen Brüste. Den Kopf zur Seite gelegt, betrachtete sie ihn ungeniert mit ihren hellen Katzenaugen. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie mit fast piepsiger Kinderstimme, die so gar nicht zu ihrem frühreifen Auftreten passte.
»Ich wollte eigentlich zu Ihrer Mutter!«, sagte er.
»Dort, bei den Rosensträuchern!«, sie wies auf den Garten, wandte sich um und ging so dicht an ihm vorbei, dass ihn ihr Schal mit dem frischen Duft nach Verbenen streifte.
»Warten Sie!«, rief er. »Ich habe für die Kinder – ich meine, für Ihre Geschwister Schokolade mitgebracht! Hier, das ist für Sie!« Er reichte ihr eine Tafel. Sie kicherte, sandte ihm einen schrägen Blick und schob die Schultern zurück. »Dann denken Sie also, ich sei auch noch ein Kind?«
Diesmal verschlug es ihm die Sprache. »Ein ganz schönes Biest für ihr Alter«, dachte er, als sie aus ihrem Korb eine Rose nahm, einen Kuss darauf hauchte und ihm reichte. »Aber vielen Dank. Woher wussten Sie, dass ich Schokolade liebe? Das ist wirklich das Einzige, was wir auf dem Gut nicht haben.« Sie brach ein Stück herunter und steckte es sich gleich in den Mund und leckte sich genießerisch über die Lippen. »Hmmmh, himmlisch!«
Richter hatte sich jetzt wieder gefangen. »Verzeihen Sie, ich habe mich geirrt, Sie sind absolut kein Kind mehr, sondern eine bezaubernde junge Frau! Aber jetzt haben Sie einen Schokoladenfleck auf Ihr Kleid gemacht«, sagte er und streifte leicht ihre Hüften, als wolle er etwas wegwischen. Er registrierte ihre leichte Verwirrung, mit der sie auswich, ihren Korb nahm und mit flatternden Röcken zurück ins Haus lief. Er sah ihr gebannt und fasziniert nach. Wirklich ein verdammt schönes Geschöpf, dachte er, nur leider viel zu jung für mich! Er brauchte einen Moment, um sich von diesem reizvollen Eindruck zu erholen und zu besinnen, weshalb er hergekommen war. Ein Dorn hatte sich schmerzhaft ein Stück in seinen Handballen gebohrt; er zog ihn fluchend heraus und warf die Rose fort. Dann wendete er seine Schritte entschlossen zum Garten. Mit aller gebotenen Höflichkeit und einer gekonnten Verbeugung nannte er der Hausherrin seinen Namen und Beruf, überreichte sein Geschenk und entschuldigte sich, sich nicht schon am ersten Tag vorgestellt zu haben. Der zunächst scheele Blick Johannas auf den gut aussehenden, freundlichen Offizier milderte sich von einer Minute auf die andere. Schließlich musste man auf der Hut sein, weil man heutzutage nie genau wusste, wer Einfluss besaß oder nicht. Ihr Mann hatte recht, wenn er sagte, es sei besser, vorsichtig zu sein und Diplomatie walten zu lassen. Warum die Sache mit Magdalena unnütz aufblähen, sich gar bei der Polizei zu erkundigen, ob etwas gegen sie vorläge? Das würde Aufsehen erregen und hätte unnötige Kontrollen zur Folge, die man auf dem Gut jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte. Lieber schweigen und Gras über die Sache wachsen lassen, bis der ungebetene Gast von selbst verschwand.
Als Richter Magdalena aus dem Haus kommen sah, verabschiedete er sich mit einer höflichen Floskel und ging ihr entgegen. Johanna sah den beiden mit einem Ausdruck der Missbilligung nach und schüttelte den Kopf. So sympathisch der Offizier auch wirkte, so war er doch wohl eher ein Herzensbrecher als ein ernsthafter Bewerber. Diesem kleinen Flittchen Magdalena müsste man mal ordentlich die Leviten lesen! Dabei hatten die eingebildeten von Waldens doch immer so auf ihre Ehre geachtet! Eine Schande war das! Sie nahm sich vor, ihr in Zukunft möglichst aus dem Wege zu gehen. Sollte Ludwig sich doch drum kümmern und ihr hoffentlich recht viele Besorgungen und Pflichten auftragen, die auf dem Gut vonnöten waren.
Am nächsten Tag hatte Magdalena eine ernste Unterredung mit ihrem Großonkel. Nach dem üblichen Morgenritt hatte er sie mit einer Miene, die nichts Gutes versprach, in sein Büro gebeten. Er sah auf, klappte seine Bücher zu, als sie eintrat, und lehnte sich zurück.
»Nimm bitte Platz, Mädchen«, er wies auf den dicken Ledersessel vor dem Schreibtisch. »Ich habe mehrfach vergeblich versucht, deine Großmutter zu erreichen und ich vermute fast, Louise möchte nicht mit mir sprechen! Du bist jetzt über eine Woche hier. Aber wenn du noch länger meine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen willst, musst du mir endlich sagen, warum du eigentlich gekommen bist. Wir vermuten, dass es einen ganz besonderen Grund gibt – nachdem wir uns schließlich jahrelang nicht gesehen haben.« Er heftete seine von kleinen Fältchen umgebenen graubraunen Augen in dem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht mit einem gütigen Ausdruck auf sie. Selbst mit zweiundsiebzig sah er noch ausgesprochen attraktiv aus, ganz Kavalier alter Schule. Magdalena dachte, dass er in seiner Jugend sicher der Schwärm aller Mädchen gewesen sein musste, schlank, elegant und mit tadellosen Manieren.
»Nun?«, seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Was hast du mir dazu zu sagen?«
Magdalena schlug die Augen nieder. »Ja, es gibt einen Grund. Ich habe … mitgeholfen, Flugblätter zu verteilen«, sagte sie leise. »Wir«, sie verbesserte sich, »meine Kommilitonen in der Uni und ich, wir wollten einfach unsere freie Meinung äußern. Gegen das nationalsozialistische Regime und den Krieg – und dagegen, das man die Juden umbringt!«. Ihre Stimme wurde jetzt laut und aufgebracht, »denn das sind unsere Freunde und Mitschüler gewesen … «
»Willst du wohl still sein!«, zischte ihr Ludwig mit rotem Kopf zu und schloss das Fenster. »Du bist dir scheinbar nicht im Klaren darüber, was du mit deinem unbedachten Tun angerichtet hast? Und jetzt willst du uns wohl auch noch mit in diese dumme Geschichte reißen!«
Sie holte tief Luft und schluckte ihre Erbitterung herunter. Es hatte wahrscheinlich keinen Sinn, dem Onkel Näheres zu erklären. Er verstand nicht, was sie meinte, oder wollte es nicht verstehen.
Ludwig versuchte, Ruhe zu bewahren. Nach einer Weile reichte er ihr sein blütenweißes Taschentuch und sah sie vorwurfsvoll an:
»Die Zeitungen haben über diese Geschichte geschrieben – aber nie wäre mir eingefallen, dass gerade du darin verwickelt bist!« Er stand auf und ging mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. »Glaub mir, ich würde dir wirklich gerne helfen. Aber wenn ich dich bei mir beherberge, mache ich mich strafbar!«, sagte er schließlich trocken und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich muss in erster Linie an meine Familie denken, das verstehst du doch!«
»Bitte, Onkel Ludwig!«, Magdalena sah ihn flehend an. »Lass mich wenigstens so lange bleiben, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Du kannst mich doch einstellen, unter falschem Namen, als Magd, irgendwo, in der Landwirtschaft, in der Küche! Ich mache alles – niemand wird wissen, wer ich bin!«
Er wiegte den Kopf und dachte nach, während er mit unruhigen Händen seine Pfeife stopfte. »Auch im Stall?«, fragte er nach einer Weile vorsichtig. »Dort brauchen wir jemanden und dort wäre es zumindest am unauffälligsten.«
»Natürlich, wo du willst! Ich mache alles, ich schwöre es!«
»So, so! Aber noch eins: Wer ist dieser Kerl da in dem auffälligen Wagen, der dich immer abholt?« Er hielt ein brennendes Streichholz an den Tabak und paffte einige Male. »Das geht natürlich nicht so weiter, da fangen die Leute gleich an zu reden.«
»Herr Richter ist Offizier und Kriegsberichterstatter, ein Freund meines Verlobten Paul – er soll nur ein wenig auf mich aufpassen!« Die Lüge ging ihr flott über die Lippen. »Ich wollte mich gut mit ihm halten. Und er hat mir wirklich sehr geholfen. Er wird mir auf jeden Fall einen falschen Pass beschaffen. Als Alma Kurz, polnische Landarbeiterin. Nur, damit ihr keine Schwierigkeiten bekommt!« Sie lächelte Ludwig an und wunderte sich über ihren Erfindungsgeist. Beim nächsten Mal würde sie Heinz tatsächlich fragen, ob er ihr ein solches Papier beschaffen könne!
Ludwig nickte bedächtig und sog an seiner Pfeife. »Gut, das klingt plausibel. Ich spreche mit Johanna darüber. Aber wie stellst du dir deine Zukunft vor? Was wirst du später tun? Du kannst dich doch nicht ewig bei uns verstecken. Du musst Deutschland verlassen!«
Magdalena erstarrte. »Meinst du das im Ernst?«
»Es tut mir leid, dass ich so etwas aussprechen muss – aber im Deutschen Reich wirst du in Zukunft mit deiner Meinung wohl allein dastehen. Wenn wir den Krieg gewonnen haben, herrscht Zucht und Ordnung!«
Wenn wir den Krieg gewonnen haben! Magdalena zog es vor, nicht zu antworten. Glaubte der Großonkel wirklich an ein solches Märchen?
»Danke!«, sagte sie stattdessen mit einem warmen Unterton und ergriff seine Hand. »Ich danke dir sehr für dein Verständnis, Onkel Ludwig! Du hast mir in diesem Moment das Leben gerettet!«
»Na, na!« Der Onkel entzog ihr die Hand fast verlegen. »Ich bemühe mich, dir zu helfen, kann aber nichts versprechen. Allzu lange kannst du jedenfalls nicht mehr dableiben.« Er seufzte. »Denk an meine Worte!«
Von dem Tag an arbeitete Magdalena in abgenutzten Arbeitshosen, ein schlichtes Kopftuch um ihr aufgestecktes Haar gebunden, im Stall; sie mistete aus, schob die Schubkarre durch die Stallgasse, teilte den Pferden den Hafer zu und schleppte Strohballen. Zeus, ein rabenschwarzer Wallach, wieherte schon nach kurzer Zeit, wenn sie den Stall betrat und sah sie mit seinen dunklen Samtaugen so ruhig an, als verstehe er ihren Kummer. Manchmal schmiegte sie den Kopf an seinen warmen biegsamen Hals, und er schnupperte mit seinen flaumigen Nüstern zart an ihrer Hand, als wolle er ihr zu verstehen geben, dass er mit ihr fühlte.
Johanna betrachtete sie von jetzt an sehr von oben herab und würdigte sie kaum mehr eines Wortes. Nur die kleineren Kinder kamen sie ab und zu besuchen, und sie beaufsichtigte Britta manchmal beim Ponyreiten. Abends war sie nach der harten, körperlichen Arbeit meist erschöpft; sie aß ihre einfache Mahlzeit in der Küche und zog sich sogleich in ihr Mansardenzimmer zurück. Von ihrer Großmutter hatte sie, wie ausgemacht, nichts gehört. Wenn sie überwacht wurden, dann war selbst das kleinste Lebenszeichen, der geringste Hinweis auf ihren Aufenthalt gefährlich. Aber Louise fehlte ihr sehr, und sie spürte erst jetzt, wie sehr ihre Gradlinigkeit, ihr Rat, aber auch ihre Wärme Bestandteil ihres Lebens gewesen waren.
In der Zeit, in der Richter seinen Heimaturlaub in Teplitz verbrachte, sahen sie sich beinahe jeden zweiten Tag. Auf ihre Bitte trafen sie sich nun vorsichtshalber in dem kleinen Wäldchen, das der Allee zum Gut vorlag. Er vermied es nun auch, mit ihr zu oft in der Stadt oder in Cafés gesehen zu werden und bestimmte, dass sie gleich auf sein Zimmer zu gehen hatten. Clarissa, seine Schwester, sah ihnen manchmal nachdenklich nach, wenn sie nach oben verschwanden, aber sie war so mit ihrem eigenen Leben, ihrer Schwiegermutter und ihren Kindern beschäftigt, dass sie die neue Affäre ihres leichtlebigen Bruders nicht besonders interessierte.
Gezwungen, ihre wahren Gefühle und bitteren Reuegedanken völlig aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, konzentrierte sich Magdalena nun allein darauf, zu funktionieren, den anstrengenden Alltag zu bestellen und dabei ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Aber es war wie eine Falle, in die sie getappt war, die sie von allen Seiten umschloss; ein Fehltritt, der weitere nach sich zog und drohte, sie in einen Abgrund stürzen zu lassen, aus dem es schwer sein würde, wieder herauszukommen. Die Studentin Magdalena von Walden aus Königsberg, verlobt mit dem Unteroffizier Paul Hofmann, gehörte plötzlich nur noch einer nebelhaften, glücklichen Vergangenheit an, einer Zeit, von der sie hoffte, sie würde einmal wiederkommen, wenn alle Prüfungen überstanden waren. Bis dahin musste sie Alma Kurz, eine polnische Landarbeiterin, bleiben, die sich einem Mann hingab, der sie erpresste. Und das war immerhin weitaus besser, als mit dem Tode bedroht zu sein oder in einem düsteren Gefängnis einer ungewissen Zukunft entgegenzugehen.
Genau das war in diesem Tagen nämlich Thema Nummer eins des Teplitzer Wochenblatts, dessen Redaktion in vielen Einzelheiten empört über die Königsberger »Schmutzschmierer« der verbotenen Flugblattaktion berichtete. Ludwig hatte ihr die Ausgabe ohne besonderen Kommentar aufs Zimmer gelegt. Fassungslos und am ganzen Körper zitternd, las sie von dem vernichtenden Urteil, das über ihre Freunde, Frank Schäfer, seine Schwester Marga, Alfred und die anderen, nach einem kurzen Prozess gesprochen wurde. Sie waren ohne Verzug in ein Konzentrationslager nach Treblinka überstellt worden, und man wusste nicht, ob sie von dort jemals wiederkommen würden!
Am nächsten Tag meldete sie sich krank, sie war erkältet, fieberte und konnte das Bett nicht verlassen. Ihre Nerven flatterten, und sie hatte das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, laut zu empören gegen das ungerechte Verfahren des »Mundtotmachens«. Doch keiner erschien, um nach ihr zu sehen, und sie hatte sich nie im Leben verlassener und unglücklicher gefühlt.
In Katharinas jungem, aber nicht ganz unschuldigem Herzen hatte die Begegnung mit dem gut aussehenden Fremden Heinz Richter einen besonderen Eindruck hinterlassen. Neugier und romantische Gefühle mischten sich nach und nach zu einer unerklärlichen Sehnsucht, ihn wiederzusehen, und sie musste Tag und Nacht nur an ihn denken. Seine unverhohlen bewundernden Blicke hatten ihr völlig den Kopf verdreht, und sie beneidete Magdalena, der seine Aufmerksamkeit galt. Jeden Tag wartete sie jetzt am Fenster auf sein Erscheinen, oder sie spazierte unschlüssig im Garten umher, in der Hoffnung, dass er vorbeikäme. Doch nur noch selten ließ Richter sich jetzt in der Nähe des Windenstein'schen Guts sehen.
»Kathi! Wo warst du? Was machst du eigentlich die ganze Zeit da draußen?« Die Stimme der Mutter klang mehr als ungnädig. »Zieh dir endlich etwas an. Es ist Herbst und ziemlich frisch.«
»Ich war beim ›Bund junger Mädchen‹«, rief Katharina mit gespielter Munterkeit hinüber, »wir hatten ein Treffen und haben Ingrids Geburtstag gefeiert!« Es war eine glatte Lüge, denn Katharina kam gerade von einem Spaziergang durch das kleine Wäldchen neben dem Gut zurück. Wie schon vermutet, hatte sie dort mit eigenen Augen gesehen, dass Magdalena sich mit dem Offizier traf, der ihr so heiße Blicke zugeworfen hatte! Sie war aufs Höchste erregt. Was fand dieser Mann bloß an dieser faden blonden Gans? Sie mochte sie nicht – schon bei ihrer Ankunft auf Gut Windenstein hatte sie eine unerklärliche Antipathie gegen sie gefühlt. Aber jetzt, seit sie jede Nacht von dem gut aussehenden Fremden träumte, war zu dieser persönlichen Abneigung auch noch ein nie gekanntes, geradezu brennendes Gefühl von Eifersucht gekommen.
Sie setzte sich ins Gras, lehnte sich gegen einen Baumstamm und träumte vor sich hin. Ein richtiger Mann, an dessen durchtrainiertem Körper die Uniform wie angegossen saß und dessen helle Augen im leicht gebräunten Gesicht einen festhielten und nicht mehr losließen. Und wie er sie angesehen hatte! Ein Blick, der alles sagte und ihr jetzt noch Schauer über den Rücken jagte! Sie seufzte. Natürlich war sie ihm zu jung, das hätte sie sich ja denken können. Aber sie würde ihm zeigen, dass sie schon reifer war als ihre Jahre. Im nächsten Monat, im November war sie endlich sechzehn! Ein neuer, tiefer Seufzer entstieg ihrer Brust. Das Einzige, was sie über ihn wusste, war, dass er Kriegsberichterstatter war, aber ihr Stolz verbot ihr, Magdalena über ihn auszufragen. Sein Auto hatte jedenfalls eine Teplitzer Nummer. Sie sah in die vorbeiziehenden Wolken, die durch die Baumkrone schimmerten, und spürte, wie die Sehnsucht, ihn zu sehen, jeden vernünftigen Gedanken in ihr auslöschte. Sollte sie ihm einen Brief schreiben, ihm erklären, was sie bewegte und ihn um eine Unterredung unter vier Augen bitten? Wie sollte er sonst erfahren, welch unauslöschliche Gefühle sie für ihn empfand? Auf dem Hof schob Magdalena jetzt rumpelnd und voller Anstrengung eine Karre voller Heuballen für die Pferde vorbei. Sie presste die Lippen zusammen, als sie die Rivalin erblickte. Wie unschuldig dieses falsche Biest doch tat! Sie musste sie aus dem Haus ekeln.
Da Richter jedoch weiterhin das Gut mied, ergab sich keine Gelegenheit für Katharina, ihm ihren mit viel Emphase verfassten Brief zuzustecken. Doch sie war erfinderisch und ließ Magdalena, gerade als sie am Nachmittag das Haus zu einem Treffen verlassen wollte, ausrichten, sie müsse sofort Zeus, den schwarzen Wallach, satteln, da ihr Vater vorhabe auszureiten. Magdalena kehrte gehorsam in den Stall zurück und Katharina machte sich in aller Eile auf den Weg.
Sie erblickte Richter sofort am Waldweg, wie er, lässig gegen den Kühler seines Cabriolets gelehnt, eine Zigarette rauchte. Sich ein Herz fassend, lief sie quer über die Wiese direkt auf ihn zu. Als sie so heftig atmend, mit glühend roten Wangen und fiebrig glänzenden Augen vor ihm stand und ihn schwärmerisch ansah, konnte er ein geschmeicheltes Lächeln nicht unterdrücken. Seine Wirkung auf Frauen war eben unzweifelhaft. Aber Achtung – dieses junge Ding da – und dazu noch in seiner Heimatstadt, da war Vorsicht geboten!
Er schloss den obersten Knopf seiner Uniformjacke, die vorzüglich saß, und räusperte sich. »Was für ein Glück ich habe – das schönste Mädchen der Stadt ausgerechnet hier zu treffen!« Weltmännisch und überlegen küsste er ihr die Hand.
»Magdalena kann leider nicht pünktlich kommen, sie ist noch beschäftigt …«, stieß sie beinahe atemlos hervor. »Und da ich gerade zufällig … vorbeikam « Glutrot geworden hielt sie inne. Dann brach es förmlich aus ihr heraus. »Warum haben Sie sich nie mehr auf dem Gut sehen lassen? Ich hätte Ihnen so vieles zu sagen gehabt … lesen Sie das!«, rasch drückte sie ihm ihr Briefchen in die Hand. »Aber verurteilen Sie mich bitte nicht!«
»Aber liebes Kind, Sie sind doch noch so jung …«, wollte Richter verlegen beginnen, doch sie legte den Finger an die Lippen. »Sagen Sie jetzt nichts. Und antworten Sie mir unter einem anderen Namen.« So schnell sie konnte, lief sie davon, während ihre langen, roten Locken wie Flammen um ihren Kopf tanzten.
Ihr amüsiert nachsehend, steckte Richter das Papier in seine Tasche. Die Kleine war wohl verliebt in ihn! Und eine gute Partie wie diese Katharina von Papenburg war ernsthaft zu überdenken. Ein vermögendes Mädchen aus gutem Haus – in allen Ehren natürlich! Warum eigentlich nicht?
Der Tag, an dem Heinz Richters Urlaub endgültig beendet war, kam schnell heran. Magdalena wartete allerdings schon ungeduldig darauf, dass er endlich nach Berlin fahren, ihren Brief an Paul einwerfen und das versprochene anonyme Postfach für künftige Briefe anlegen würde. Er hatte sich vorläufig gehütet, sich dem Windenstein’schen Anwesen noch einmal zu nähern, da ein leidenschaftlich verliebter Backfisch wie Katharina mit ihrem ungestümen Temperament möglicherweise zu allem fähig sein würde. Und auf ihren schwärmerischen Brief hatte er ein wenig doppeldeutig geantwortet – ihr versprochen, dass er sie nach seiner Rückkehr mit Erlaubnis der Eltern besuchen wolle. Bis dahin würde er sich allerdings über weitere Nachrichten von ihr sehr freuen …
In einem Anflug von Großzügigkeit hatte er Magdalena den Platz gezeigt, wo er den Reserveschlüssel zu seinem kleinen Dachzimmer aufbewahrte, für den Fall, dass sie in Schwierigkeiten geriete.
Seine Mission als Kriegsberichterstatter führte ihn in der Hauptstadt zunächst zum Berliner Blatt »Stimme des Volkes« und dann, vorbei an zerborstenen Mauern etlicher Ruinen, direkt ins Propaganda-Ministerium, wo er die notwendigen Instruktionen erhalten sollte, bevor er in den Osten zur Heeresgruppe Mitte abreiste. Er hoffte, alles erledigen zu können, bevor wieder neue Angriffe die Stadt bedrohten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, welch großer Gegensatz hier zu der friedlichen Kleinstadt Teplitz bestand, in der kaum Bombardierungen stattfanden und wo bis auf die härter werdenden Lebensmittelrationierungen nicht allzu viel vom Krieg zu spüren war.
Nachdem er sich ein Zimmer in einer bescheidenen Pension in Dahlem gemietet, sich zwei Tassen dünnen Kaffee und einen Kuchen aus trockenem Wasserteig zum Abendessen in einem Café gegönnt hatte, fuhr er mit der Straßenbahn in die Stadt. Plötzlicher Fliegeralarm zwang ihn und die anderen Fahrgäste, auszusteigen und in einem nahe gelegenen Luftschutzkeller Schutz zu suchen. Als es nach zahlreichen Einschlägen endlich wieder Entwarnung gab und er, seine staubige Kleidung abklopfend, aus dem Unterschlupf kroch, begann das zuerst wie leer gefegte Berlin sich langsam wieder zu beleben. Die Feuerwehr heulte durch die von Bomben stark zerstörten Straßen und er machte sich über die Trümmer in Richtung Kurfürstendamm zu Fuß auf den Weg. Am Deutschen Theater, vor dem etliche gut gekleidete Menschen an der Kasse Schlange standen und wo man eine Aufführung von Hebbels »Maria Magdalena« mit der schönen Hilde Krahl in der Hauptrolle gab, hielt er Ausschau nach einer Bar, in der er etwas trinken konnte. Am Anbau des Theaters hing zufällig ein Postkasten, und er zog die Karte und den Brief Magdalenas mit der Feldpostnummer Paul Hofmanns aus seiner Tasche. Nach kurzem Zögern warf er die Karte ein, dreht dann den Brief in seiner Hand, riss ihn auf und überflog die erste Zeile. »Mein liebster Paul …«In einer eifersüchtigen Regung zerfetzte er ihn wütend in kleine Stücke und warf ihn zusammengeknüllt in den nahe gelegenen Papierkorb. Wer wusste, ob dieser Soldat, ihr Verlobter, nicht schon längst gefallen war und unter russischer Erde lag? Was ging ihn das überhaupt an? Er betrat eine kleine, provisorisch beleuchtete Bude, in der Getränke ausgeschenkt wurden, und bestellte sich irgendein rumähnliches Gesöff, das er gleich hinunterkippte. Es war ohnehin vernünftiger, die ganze Geschichte mit dem Mädchen so schnell wie möglich zu vergessen. Die harte Verurteilung der Flugblattschmierer, in die sie verwickelt war, gab zu denken. Wenn das aufkam, konnte so eine Bekanntschaft seiner Karriere enorm schaden. Besser, gleich einen Schlussstrich unter die Affäre ziehen – ja vielleicht sogar der Polizei einen kleinen Hinweis über ihren Aufenthalt geben! Er war zwar ein wenig verliebt gewesen, aber solch ein Risiko war es dann doch nicht wert. Es gab schließlich viele süße Frauen. Vor allem wartete ja noch dieses blutjunge Schnuckelchen von Katharina auf ihn, die völlig verknallt schien. Zwar noch ein grünes Ding, aber eine Partie, wie man sie sich nicht besser wünschen konnte! Das konnte was fürs Leben sein, da hatte er ausgesorgt und musste nicht mehr mit jedem Pfennig knausern!
Also, das lächerliche Versprechen mit dem Postfach jetzt einfach ganz ohne großen Umstand vergessen. War ohnehin viel Lärm um nichts. Er zahlte und pfiff gut gelaunt einer jungen Frau nach, die mit schwingenden Hüften in einem weiß getupften Kleid vorbeiflanierte. Sie drehte sich um, lächelte ihn an, und er zwinkerte ihr selbstbewusst zu. Die Versuchung war eben überall – auch inmitten Trümmern, Angst und heulenden Sirenen!