7. Kapitel
HARTE PRÜFUNGEN
›Liebster Paul,
verzeih mir, wenn meine Zeilen heute gedämpft klingen. Ich weiß, Du stehst im Feld, weit fort an der russischen Küste, der Krim und siehst an jedem Tag dem Tod in vorderster Front ins Auge. Mein Herz zittert vor Angst, wenn ich auch nur daran denke, in welcher Gefahr Du tagtäglich schwebst. Ich kämpfe dagegen nur mit mir selbst, mit dem Schmerz in meinem Innern, der wie ein Eisenring meine Brust umschnürt und dessen ganze Wahrheit ich immer noch nicht fassen kann. Gestern haben wir meine liebe Mutter beerdigt! Obwohl sie seit Monaten nicht mehr sie selbst war, weil sie sich nach Lutz‘ Tod mehr und mehr mit Beruhigungsmitteln und Alkohol betäubte, so war es doch bitter, dass sie so plötzlich verlöscht ist. Aber noch schwerer war es zuzusehen, wie sich ihr Verfall beschleunigte. Großmama Louise zog es vor, die Augen vor den Tatsachen zu verschließen, und auch für Theo und Gertraud ist es wohl besser, dass sie nicht ganz begriffen haben, was sich hier wirklich abgespielt hat. Sie werden Mama so in Erinnerung behalten, wie sie war.
Sicher hast Du jetzt ganz andere Sorgen, aber ich wollte Dir doch auch schreiben, was in der Heimat passiert und wie sehr mich die vergangenen Ereignisse niedergedrückt haben. Mein Leben ist ein wenig in Unordnung geraten, und es gibt noch etliches Andere, das ich nur Dir sagen möchte – nicht aber in einem Brief. Man weiß ja nie, wer ihn sonst noch liest.
Wirtschaftlich leiden wir keine Not; Louise hat gute Beziehungen zu den ehemaligen Kunden des großväterlichen Unternehmens, unter denen sich viele Bauern im Umfeld von Königsberg befinden, die uns treu mit guten Dingen wie Butter, Eiern und Fleisch beliefern. Manchmal zahlt sie auch mit Teilen unseres Silberbestecks – aber was macht das schon, wir haben ja so viele Garnituren! Aber was rede ich da – wie belanglos erscheint mir all das bei dem Gedanken, dass Du Tag für Tag Dein Leben aufs Spiel setzt. Wenn dieser Krieg nur endlich ein Ende fände! Dachten wir nicht einst, das alles wäre nur eine Sache von Monaten? Wie sehr sehne ich mich danach, Dich bei mir zu haben, Dich ganz fest zu umarmen und mich in Deinen Augen wiederzufinden! Habe ich Dir überhaupt schon gesagt, wie unendlich viel es mir bedeutet, Deine Zeilen in Händen zu halten? Ich kann sie gar nicht oft genug lesen und trage Deine Briefe tagelang an meiner Brust, bis sie ganz zerknittert sind.
Inzwischen gehe ich weiter zur Uni und lerne wie besessen, das lenkt mich von meinem Kummer ab. Aber auch dort weht der Geist des Nationalsozialismus, der mittlerweile einen solchen Zwang annimmt, dass keiner es wagt, sich ihm zu widersetzen. Vielleicht denkst Du anders darüber – aber ich empfinde den Druck, der eine freie Meinung nicht zulässt, wie einen Stein auf der Brust!
Wenn ich nur wüsste, wo Du jetzt bist, was Du tust und wie Du Dich fühlst! Ich bete jeden Tag für Dich! Möge Gott Dich schützen und bald heimkommen lassen! Ich umarme Dich mit meiner ganzen Kraft und Liebe meines Herzens, das nur für Dich schlägt und Dich so unsagbar vermisst! Auf immer und ewig. Deine Magdalena‹
Sie setzte den Schlusspunkt, faltete das Papier zusammen und wischte sich die Tränen aus den Augen. In letzter Zeit musste sie überhaupt ständig weinen, es war wie ein Ventil, um Trauer, Angst und Unsicherheit herauszulassen. Schließlich hatte sie niemanden, mit dem sie reden konnte, über Hanna, über Franks Verhaftung und über all das, was sie seit geraumer Zeit bedrückte.
Großmutter Louise war eine herzensgute Frau, aber auch eine wahre Dame und treue Schülerin preußischer Erziehung, die, geleitet von eiserner Selbstbeherrschung, unangenehme Dinge des Lebens einfach verdrängte. Weder die Trauer über den gefallenen Enkel Lutz noch der Gram über den Tod ihrer Tochter waren ihr äußerlich anzumerken, und nur ihre manchmal verdächtig geröteten Augen ließen vermuten, dass diese Schicksalsschläge nicht spurlos an ihrer Seele vorübergingen.
Seit der Beerdigung der Mutter fühlte sich Magdalena traurig, wie betäubt und erschüttert von der bedrohlichen Wendung, die ihr Leben anzunehmen schien. Alles um sie her schien zu bröckeln: Die Gruppe der Kommilitonen aus der Albertina war aus dumpfer Angst verstummt, seit man Frank verhaftet und Durchsuchungen nach Beweisstücken bei seinen Freunden angestellt hatte, denen zum Glück nichts Konkretes nachzuweisen war. Und Frank schwieg – bisher. Von den anderen hatte sie gehört, dass er und Marga unendlich lange Verhöre über sich ergehen lassen mussten und dass sein Vater aus der Quednauer Schreibstube entlassen worden sei. Auf sie war bisher noch niemand gekommen – doch sie zitterte allein bei dem Gedanken, dass irgendeine Spur zu ihr führen und man bei einer Hausdurchsuchung vielleicht auch Hannas Versteck entdecken würde. Sie zermarterte sich den Kopf, was zu tun wäre. Eines stand jedenfalls fest: Hanna musste fort – aber wohin?
Die Diffamierungen gegen die Juden nahmen unterdessen bizarre Formen an. Die Nachbarn wurden durch Plakate aufgefordert, wachsam zu sein und Meldung zu machen, falls sie etwas Verdächtiges bemerkten. Die Gerüchte verdichteten sich, dass die Königsberger Juden in einem Konzentrationslager bei Minsk getötet worden seien, aber Magdalena hütete sich, der ohnehin verzweifelten Hanna davon zu erzählen; sie ließ ihr die Hoffnung, dass sich ihre Eltern in einem Sammellager vor der Stadt befänden.
Immer in der Nacht, sobald alles im Haus schlief, befreite sie Hanna aus ihrem Versteck, schloss sie erst im Bad ein und ließ sie dann eine Weile im Garten Luft schnappen.
Auch an diesem Abend, an dem es stockdunkel war, weil der Mond sich hinter Wolken verbarg, gingen sie flüsternd zusammen im wild überwachsenen Laubengang des Gartens auf und ab, für dessen Pflege man früher zwei Gärtner gebraucht hatte und den heute nur noch eine Putzhilfe, so gut es ging, in Ordnung hielt. Auf den Rasenstücken war das Gras zu hoch, und überall wucherte Unkraut. Nebenan war schon vor Jahren ein höheres Wohnhaus gebaut worden, das den Villencharakter der Siedlung ein wenig zerstörte und dessen obere Etagen ungehinderten Einblick in den kleinen Park der von Waldens gestatteten. Magdalena war das früher ganz gleichgültig gewesen, doch jetzt sah sie immer wieder unruhig zu dem Fenster mit den zugezogenen Gardinen hinüber. Frau Schmitz, die alleinstehende Nachbarin aus dem letzten Stock, lag den ganzen Tag mit aufgestützten Ellenbogen auf einem Kissen am Fenster und beobachtete, was auf der Straße so vor sich ging. Gegen die pensionierte Lehrerin, die einst mit ihrer inzwischen verstorbenen Schwester zusammengewohnt hatte, empfand Magdalena eine instinktive Abneigung. Griesgrämig und streng von Natur aus, hatte sich diese Frau schon früher ständig bei ihrer Mutter beschwert, sei es, dass die Kinder nicht grüßten, dass sie zu viel Lärm machten, zu laut Radio spielten oder die Erwachsenen es wagten, nach zehn Uhr noch im Garten zu plaudern und zu lachen. Mit ihren kleinen Knopfaugen umheräugend, schien sie nur darauf zu lauern, dass sich etwas ereignete, was die Leere ihrer Tage durchbrach.
Mehrmals fixierte Magdalena jetzt die dunkle Fensterfront, an der sie manchmal einen Schatten hinter der Scheibe zu erkennen glaubte, und zog Hanna vorsichtshalber tiefer unter das Laub des Fliederbaumes auf die darunterstehende, kleine Eisenbank.
»Lass mich doch!« Hanna, deren Nerven durch den inhaltslosen Aufenthalt auf dem Dachboden blank lagen, riss sich beinahe ärgerlich los. »Lange halte ich dieses Versteckspiel nicht mehr aus! Es kann doch nicht sein, dass Jakob noch immer nicht gesund ist. Ich hab das alles satt! Soll ich denn in dieser verstaubten Dachkammer ersticken? Lieber gehe ich zu meinen Eltern ins Lager, da bin ich wenigstens nicht so isoliert. Ich will weg, weg, egal wohin! Heraus aus der engen Kammer! Verstehst du? Sofort!« Ihre Stimme war laut geworden und Magdalena legte den Finger auf den Mund. »Psst!« Sie hatte schon vorher bemerkt, dass Hanna, schon seit Tagen deprimiert, heute ganz besonders schlechter Stimmung war. »Wir müssen deine Flucht in Ruhe vorbereiten. Du kannst nicht so einfach davonlaufen.«
»Morgen werde ich Jakob im Krankenhaus besuchen, ob du willst oder nicht. Mich kennt ja da niemand. Und ich möchte nach unserem Haus sehen – nachts kann ich mich bestimmt hineinschleichen! Aber vor allem muss ich endlich erfahren, wie es meiner Mutter und Felix geht! Du kannst mich nicht länger daran hindern!«
»Warte doch!«, rief ihr Magdalena nach, denn Hanna rannte in plötzlicher Panik über die kleine Wiese zur Gartentür. Magdalena lief ihr nach, hielt sie an ihrem Kleid fest und zerrte sie gewaltsam zurück. »Du kannst nicht zu ihnen …«
»Und warum nicht?« Hanna wand sich unter ihrem Griff. »Sag es mir. Ich habe keine Angst. Alles ist besser als diese schreckliche Ungewissheit!«
Sie öffnete das Gartentor.
»Bleib! Du musst jetzt sehr stark sein. Ich wollte es dir nicht sagen – aber man erzählt in der Stadt, sie … sie seien alle im Lager umgebracht worden ! «
Hanna blieb stehen, als wäre sie vor eine Wand gelaufen. Sie wandte den Kopf und sah sie entsetzt an. Es war plötzlich ganz still und der Mond kam voll hinter einer Wolke hervor und erhellte ihr blasses Gesicht.
»Was meinst du damit?«
Magdalena senkte den Kopf. »Es ist so gut wie sicher, dass man alle jüdischen Lagerhäftlinge in Minsk ermordet und in einem Massengrab beerdigt hat.« Die traurige Wahrheit, mit der sie Hanna bisher verschonen wollte, war nun heraus.
Hanna sank schluchzend in die Knie. »Sag, dass das nicht wahr ist! Bitte! Das kann nicht sein, das ist doch erlogen …ein schlimmes Gerücht, um uns einzuschüchtern … « Tränenüberströmt hielt sie inne. »Sie haben doch nichts getan!«
»Nein. Aber es ist die Wahrheit. Ich habe es in der Zeitung gelesen!« Magdalena fühlte sich hilflos wie nie zuvor in ihrem Leben. Auch sie verstand nicht, wie so etwas geschehen konnte. »Es wäre ja möglich, dass sie nicht unter den Verurteilten waren!« Behutsam legte sie den Arm um Hanna. Das Weinen erschütterte ihren ganzen Körper, doch plötzlich bäumte sie sich auf. »Und Jakob?« Angstvoll sah sie zu Magdalena auf. »Er ist vielleicht auch in Gefahr. Ich muss zu ihm!«
»Beruhige dich – sei leise.« Magdalena sah zum Fenster der Nachbarin hinüber, und es kam ihr so vor, als habe sich oben die Gardine leicht bewegt. »Du musst jetzt vernünftig sein! Wenn dich jemand erkennt, wird man dich fortbringen, und dann steht dir dasselbe Schicksal wie deiner Familie bevor. Und man wird auch mich verhaften! Ich verspreche dir, dass ich morgen ganz bestimmt zu Doktor Friedländer gehe und mich nach Jakob erkundige …«
Hanna schien im Mondlicht so bleich wie der Tod. »Was? Heißt das, du hast noch gar nicht nach ihm gefragt? Du hast mir doch gesagt, es ginge ihm gut – er hat alles bestens überstanden … «
Magdalena zögerte. »Mach keinen Lärm. Du weckst ja die ganze Nachbarschaft auf. Wenn du jetzt durchdrehst, war alles umsonst!« Im Fenster von Frau Schmitz war jetzt ein kleiner Lichtschimmer, wie der winzige Schein einer Kerze, zu erkennen. »Warte wenigstens bis morgen. Dann geh ich gleich ins Hospital – ich verspreche es dir!«
Hanna sank in sich zusammen. Dann nickte sie. Fast apathisch, teilnahmslos ließ sie sich von Magdalena ins Haus ziehen und stieg gehorsam wieder auf den Dachboden, wo sie sich auf ihrem Lager zusammenrollte und den Kopf wegdrehte, ohne ihr gute Nacht zu wünschen.
Mit einem schlechten Gewissen, weil sie sich bis jetzt nicht getraut hatte, Dr. Friedländer aufzusuchen und sich nach Jakob zu erkundigen, ging Magdalena zu Bett. Im »Volksblatt« war heute ein Foto des Kinderkrankenhauses zu sehen gewesen, auf dessen Fassade jemand mit Farbe »Jude raus« geschmiert hatte! Der angesehene Arzt wurde in letzter Zeit oft angegriffen, und da man ihn immer stärker ins Visier nahm, schien es zweifelhaft, ob er überhaupt noch länger in Königsberg blieb. Wahrscheinlich schonte man ihn nur deswegen, weil man ihn noch brauchte und er so vielen Kindern das Leben gerettet hatte. Immerhin sah man an seinem Beispiel, dass es den Nationalsozialisten trotz aller Hetzparolen und Verhaftungen noch nicht ganz gelungen war, alle angesehenen jüdischen Mitbürger Königsbergs zu verdrängen! Bedenklich waren nur die öffentlichen Kommentare, die immer hämischer und beleidigender wurden und Juden geradezu zu Monstern degradierten!
Am nächsten Tag machte sie sich schweren Herzens gleich nach den Vorlesungen zum Kinderkrankenhaus auf. Sie hatte ein banges Gefühl und ihr Herz klopfte unruhig. Was würde der Arzt sagen? Dr. Friedländer sah ihr tatsächlich mit einem Ausdruck entgegen, der nichts Gutes verhieß. »Dass Sie noch einmal zu mir kommen, hätte ich wirklich nicht mehr gedacht!«, begrüßte er sie mit ernster, aber vorwurfsvoller Miene.
»Ich konnte leider nicht eher. Wie … wie geht es Jakob ?«, stotterte Magdalena, doch der Arzt antwortete nicht gleich. Nach einer stummen Pause, in der er die Blätter auf seinem Schreibtisch durchsah, begann er schließlich: »Sie fragen reichlich spät nach ihm. Er hat es leider nicht geschafft... noch in der Nacht, in der sie ihn brachten, ist er verstorben. Ein Kreislaufkollaps – er war ja völlig ausgetrocknet und hätte bei dem hohen Fieber mehr trinken müssen! Ich konnte Sie nicht benachrichtigen, weil Sie mir Ihren Namen nicht hinterlassen haben. Wir haben ihn in einem anonymen Grab bestattet. Sie … Sie sagten, er wäre der Bruder einer jüdischen Freundin?«
»Ja«, sie sah unschlüssig auf ihre Hände, und versuchte die Tränen zurückzuhalten, »man hat die Familie von Hanna und Jakob in ein Lager gebracht und sie dann ermordet!«
Der Arzt seufzte resigniert und sah auf die Papiere vor ihm: »Ich habe davon gehört, dass man deportierte Juden erschießt – und ich wollte es nicht glauben. Bis ich mich selbst davon überzeugt habe!«
»Warum tut man das?« Magdalena sah ihn verstört an. »Diese Menschen sind doch unschuldig! Man kann doch nicht...«
»Doch, man kann, liebes Kind!«, antwortete der Arzt gefasst. »Und ich befürchte, dass auch mir ein solches Schicksal bald bevorsteht. Es hat sich nur ein wenig herausgezögert, weil man mich in dieser Abteilung so dringend braucht! Und, um ehrlich zu sein, ich konnte es bisher nicht übers Herz bringen, das Hospital zu verlassen. Wenn ich das tue, wird alles hier zusammenbrechen …« Er machte eine umfassende Handbewegung und seufzte erneut tief auf. »Das hier ist mein Lebenswerk! Dafür habe ich Jahrzehnte gearbeitet. Das kann man nicht so einfach im Stich lassen. Verstehen Sie?« Er sah sie fragend an. »Aber ich bin alt und habe gut gelebt. Wenn man mich erschießen will, soll man es tun. Ich möchte zuvor nur meine Angehörigen ins Ausland bringen, sie in Sicherheit wissen. Meine Frau, meine Tochter …«
»Hören Sie, Herr Doktor, ich habe Vertrauen zu Ihnen …«, stieß Magdalena plötzlich hervor. »Hanna, meine Freundin …« Sie stockte, doch unter dem gütigen, abwartenden Blick des Arztes fuhr sie fort: »... lebt in einem Versteck auf dem Dachboden unseres Hauses! Nachdem man nachts ihre Mutter abgeholt hatte, standen sie und ihr Bruder Jakob schutzlos da. Sie wussten nicht wohin! Und dann wurde der Kleine in seinem Versteck gleich krank – was hätten wir denn tun sollen?« Sie machte eine Pause und sah mit Tränen in den Augen vor sich hin. »Alles ging so schnell. Hanna war mit meinem Bruder Lutz zusammen. Er ist gefallen, aber ich weiß, dass sie sich sehr lieb hatten.« Sie schluchzte auf. »Herr Doktor, helfen Sie mir! Ich habe keine Ahnung mehr, wie alles weitergehen soll. Ich kann Hanna ja nicht die ganze Zeit auf dem Dachboden einsperren! Und wie soll ich ihr jetzt auch noch beibringen, dass Jakob, ihr kleiner Bruder, tot ist?« Sie schluchzte leise vor sich hin, während Dr. Friedländer, den Kopf in die Hände gestützt, ratlos zu sein schien. Schließlich begann er mit einer müden, fast tonlosen Stimme. »Ich würde Ihnen gerne helfen, mein Kind, aber ich weiß selbst nicht, wie! Vielleicht …«, er zögerte und dachte nach, »kann sich Ihre Freundin ja meiner Frau und Tochter anschließen. Ich habe da etwas organisiert – ein Schiff soll sie ins liberale Schweden bringen. Dort werden Juden aufgenommen und man kümmert sich um sie. Hat Ihre Freundin einen gültigen Pass?«
Magdalena verneinte. »Alles ging so schnell! Sie konnte nicht einmal mehr in ihr Haus zurück. Es war bewacht.«
Dr. Friedländer schüttelte den Kopf. »Eine verzwickte Sache!« Als er die verzweifelte Miene Magdalenas sah, setzte er nach einer Weile hinzu: »Ich könnte ausnahmsweise versuchen, einen falschen Pass für sie aufzutreiben. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Geben Sie mir die Beschreibung Ihrer Freundin. Aber das ist gefährlich, auch für mich!«
»Ihr richtiger Name ist Hanna Kreuzberger. Sie hat lange dunkel gelockte Haare, braune Augen, ist schlank und etwa 1,65 groß«, sagte Magdalena rasch, und der Arzt notierte alles auf einem Zettel. Er stand auf und ging zum Fenster. »Kommen Sie in zwei Tagen wieder, dann gebe ich Ihnen Bescheid!«
Magdalena erhob sich mit einem erleichterten Lächeln. »Ich danke Ihnen. Sie sind so gut!« Sie trat ein paar Schritte auf den Arzt zu, doch der wehrte ab. »Lassen Sie nur – wir müssen erst abwarten.«
Mit gemischten Gefühlen kehrte Magdalena nach Hause zurück. Die Möglichkeit zur Flucht war sicher ein Lichtblick für Hanna. Aber das mit Jakob – wie würde sie die traurige Nachricht verkraften?
Louise hielt gerade ihren Mittagsschlaf, aber die Geschwister, die bei einer Veranstaltung der Hitlerjugend waren, konnten jeden Augenblick zurückkehren. Es war einfach zu riskant, gleich zu Hanna hinaufzusteigen und mit ihr zu sprechen. Am Abend war es auf jeden Fall sicherer. Sie streckte sich in ihrem Zimmer auf dem Bett aus, auf die Stille horchend, die das Haus seit dem Tod der Mutter umfing, und dachte nach. Selbst die wenigen Dienstboten, die noch geblieben waren, fürchteten sich in letzter Zeit vor einem lauten Wort, einem Lachen. Alles war plötzlich anders geworden.
Die Geschwister hatte der Tod der Mutter am heftigsten getroffen, obwohl sie sich in letzter Zeit wenig um sie gekümmert hatte. Gertraud wirkte plötzlich viel erwachsener – das bedeutete aber auch, dass es eine neu erwachte Rivalität zwischen ihnen gab. Über beide Ohren in Gottfried von Treskow verliebt, war sie rasend eifersüchtig, weil ihr Angebeteter sie wie Luft behandelte und nur ihr, Magdalena, den Hof machte. Eines Tages hatte sie ihm daher deutlich gemacht, dass sie einen anderen liebe und so gut wie verlobt sei. Gottfried war schockiert, er blieb nun aus, und das bedeutete eine mittlere Katastrophe für Gertraud, die jeden Abend todunglücklich in die Kissen heulte, unausstehlich wurde und ihre Schwester mehr hasste denn je. Louise, die sah, wie ihre Enkelin litt, versuchte vergeblich zu intervenieren – und endlich nahm Gottfried beim nächsten Heimaturlaub wieder eine Einladung zum Essen an. Er hatte unterdessen einen gehörigen Dämpfer in seiner Karriere erhalten und beklagte sich bitter darüber, dass man ihn von der Flugstaffel vorübergehend in den Innendienst versetzt habe. Aus dem ehemals gefeierten Helden war wieder ein ganz gewöhnlicher Leutnant geworden, denn unterdessen hatte ein deutsches U-Boot tatsächlich den englischen Flugzeugträger im Mittelmeer versenkt. Niemand sprach mehr von seinem glorreichen Treffer, der »Beinahe-Versenkung« des feindlichen Schiffes. Sein Ansehen schwand, und genauso, wie man ihn früher herumgereicht hatte, so wenig interessierte nunmehr seine Geschichte, die er bei passender Gelegenheit trotzdem gerne zum Besten gab.
Mit entsprechender Herablassung wandte sich sein Augenmerk jetzt endlich Gertraud zu, deren anbetende und verliebte Blicke nicht länger zu übersehen waren. Der pummelige, schüchterne Backfisch, der früher kaum ein Wort herausbekam, hatte sich mittlerweile zu einem hübschen Mädchen mit unübersehbaren weiblichen Formen gewandelt. Die kindlichen Zöpfe waren verschwunden und ihr langes blondes Haar fiel offen und glänzend auf die Schultern. Bereits Stunden, bevor man Gottfried zum Essen erwartete, verfiel Gertraud in fieberhafte Geschäftigkeit und Unruhe. Sie drehte Locken, cremte und parfümierte sich heimlich aus Louises Tiegeln und probierte ihren gesamten Kleiderschrank durch. Später hing sie dann mit glänzenden Augen an Gottfrieds Lippen, die Wangen rosig angehaucht und tat, als bemerke sie nicht, dass der Träger ihres Sommerkleides halb von den Schultern gerutscht war. Gottfried fühlte sich geschmeichelt – und Magdalena war froh, den hartnäckigen Verehrer los zu sein. Trotzdem war das Verhältnis der beiden Schwestern seitdem gespannt, und Gertraud beobachtete sie in Gegenwart ihres Angebeteten mit eifersüchtigen und misstrauischen Augen. Niemanden überraschte es dann, als Gottfried schließlich um Gertrauds Hand anhielt. Sie war überglücklich, und Magdalena freute sich aufrichtig mit ihr. Das Datum der Hochzeit wurde allerdings erst auf den Monat nach dem Trauerjahr anberaumt.
Unruhig sah Magdalena jetzt immer wieder auf die Uhr. Die Zeit zog sich hin. Unten hörte sie jetzt Louise rumoren und Theo spielte im Garten Fußball. Wie Blei lag es auf ihrer Brust und die Aussprache mit Hanna stand wie ein Schreckgespenst vor ihr. Wie würde sie reagieren? Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Auf jeden Fall musste sie in Zukunft noch vorsichtiger sein als bisher. Anton Schäfer, der aus seiner Judenfeindlichkeit keinen Hehl machte, lief ihr immer öfter »rein zufällig« über den Weg, wenn sie zur Universität musste. Vielleicht beobachtete er sie ja auch, weil er irgendeinen Verdacht hatte? Aber sicher war sie zu empfindlich geworden und sah auf einmal überall Gefahren. Wie auch immer, es war auf jeden Fall besser, ihn wegen seines Einflusses bei der Partei nicht ganz zu verstimmen und ab und zu seine Einladung zum Kaffeetrinken anzunehmen. Es war immer eine Überwindung, sie musste sich zusammennehmen und ihren Widerwillen gegen Antons schlechten Atem, seine schiefen Zähne und sein hochtrabendes Geschwätz hinter einer lächelnden Miene verbergen. Trotz seiner wasserhellen, ein wenig vortretenden Glupschaugen, den fettigen, aschblonden Haaren und der schmächtigen Brust schien er sich als einer jener Helden zu betrachten, die auf den Kriegspropaganda-Plakaten abgebildet waren. Angeekelt sah sie an ihm vorbei, wenn er sich mit Schaumbläschen in den Mundwinkeln über die Juden ereiferte und darüber, dass man in der Universität noch andere Personen in Verdacht habe, über die Frank Schiffner zwar verbissen schwiege, die man aber »schon noch kleinkriegen würde«. Jedes Mal, wenn er das sagte, begann Magdalenas Herz heftig zu klopfen. Was wäre, wenn er daraufkam, dass sie bei der Flugblattaktion auch mit dabei war? Gut, dass sie die restlichen Flugblätter geschickt im Keller unter einem Stapel rußiger Kohlen versteckt hatte – bei der nächstbesten Gelegenheit würde sie das Papier im Kamin einfach verbrennen.
Sie schob die beunruhigenden Gedanken beiseite und erhob sich. Im Haus war es jetzt völlig ruhig, und sie beschloss, doch nicht bis zum Abend zu warten. Sie musste es hinter sich bringen, Hanna die schlechte Nachricht mit der bitteren Wahrheit so schonend wie möglich beibringen. Vorsichtig horchte sie in den Gang und stieg dann entschlossen, aber auf Zehenspitzen die Stufen empor und ließ den geölten, jetzt völlig geräuschlosen Tritt zum Dachboden herunter. Hanna sah ihr schon gespannt, aber mit vom Weinen glänzenden Augen entgegen. Auf ihrer Stirn stand Schweiß. Trotz des geöffneten Fensters war die Luft stickig, fast unangenehm drückend, denn die Sonne erhitzte die Dachschindeln. Magdalena setzte sich ihr gegenüber auf die Decke am Boden. Es war, als befände sich in ihrem Mund ein zähes Hindernis, das ihre Sprache blockierte und die Worte, die sie formen wollte, nicht herausließ. Sie setzte zweimal an, doch dann schwieg sie, in der Angst, Hanna würde losheulen, einen Schreikrampf bekommen und die ganze Umgebung alarmieren. Doch Hanna sah sie nur unentwegt mit ihren wie erloschen wirkenden Augen an, die verkrampften Hände wie zum Gebet gefaltet. Erst jetzt löste sich Magdalenas Zunge und die grausamen Worte traten über ihre Lippen. »Es war zu spät, die Ärzte haben alles versucht. Sein Kreislauf hat schlappgemacht. Jakob hat nicht gelitten... Verzeih mir, aber ich hatte nicht den Mut, es dir eher zu sagen.«
Hannas Augen wurden starr, ihre Lippen weiß. Sicher hatte sie schon längst Schlimmes für den zarten Bruder geahnt, doch jetzt, in der Gewissheit, dass der Kleine nicht mehr lebte, sank sie wie ohnmächtig zurück.
Magdalena kroch zum Wassereimer, feuchtete ein Taschentuch an und legte es ihr auf die Stirn. »Hanna, komm zu dir!«, flüsterte sie eindringlich an ihrem Ohr. »Ich weiß, es ist hart für dich. Aber du musst jetzt stark sein. Dr. Friedländer wird dir helfen, nach Schweden zu gelangen. Da bist du in Sicherheit! Deine Mutter – deine Familie würde wollen, dass du überlebst!« Hanna schlug die Augen auf und seufzte tief. »Am liebsten wäre ich auch tot!«