18. Kapitel
SEHNSUCHT

Später hatte sich Magdalena oft gefragt, warum es sie trotz der Kriegswirren, trotz der persönlichen Gefahr, in die sie sich begab, noch einmal nach Königsberg gezogen hatte. Es war die Sehnsucht nach Paul, nach der Vergangenheit, die Ohnmacht, mit der sie ihn gesucht und nicht gefunden hatte. Sie wollte Gewissheit. Lebte er – existierte sie noch für ihn? Wo war er geblieben? Was war inzwischen geschehen? Aber auch ein unbestimmtes Heimweh nach der Vergangenheit, nach der heilen Welt, die es einmal für sie gegeben hatte, nach Vertrautheit und einer Sicherheit, die längst nicht mehr bestand. Aber sie wollte auch wissen, wie es ihren Geschwistern inzwischen ergangen war. Schließlich waren sie das Einzige, was ihr von ihrer Familie noch geblieben war. Das Gefühl, das sie zu dieser Reise trieb, war mit der bloßen Notwendigkeit nicht erklärbar, aber die abgeschottete Berliner Mansarde, die Enge, in der sie mit ihrem Kind bei Willi lebte, hatten sie fast erdrückt. Dazu kamen die Unsicherheit und ständige Angst vor dem Fliegeralarm, bei dem sie in den Keller laufen mussten, die Panik, mit der sie dort auf die Geräusche herabfallender und über ihnen explodierender Bomben horchten und hofften, dass es sie diesmal nicht treffen würde.

Es war eine Erleichterung und ein Glücksfall gewesen, dass Frau Lindental ihr so großherzig angeboten hatte, Paula zu versorgen. Magdalena war sicher, dass ihr Kind bei ihr in guten Händen war. Sie hatte ihre Tochter gern, aber auf eine vernünftige, eher sachliche Art, die jede mütterliche Verzückung ausschloss; vielleicht deshalb, weil sie den Vater, Heinz Richter, schon längst aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte.

Vor dem Spiegel hatte sie ihre langen blonden Haare straff zu einem strengen Dutt frisiert und unter einem Herrenhut verborgen, sodass man sie beinahe für einen Jungen halten konnte. Die Zugfahrt ging wegen plötzlicher Bombardements und einiger, ungeklärter Aufenthalte ziemlich langsam vonstatten. Nach Königsberg schien kaum jemand mehr zu fahren, und die Abteile waren leer. Doch die Züge aus der Gegenrichtung, dem Osten, waren überfüllt mit Flüchtlingen, und die Menschen eilten mit Koffern und Paketen über die Bahnsteige zu den Gleisen. Es wimmelte auf den Bahnhöfen wie auf einem Ameisenhaufen.

Magdalena saß am Fenster und hielt ihren Blick während der Fahrt so aufmerksam auf die vorüberfliegende, vertraute Landschaft geheftet, als müsse sie sich alles gut einprägen, um es sich später wieder ins Gedächtnis rufen zu können. Die weiten Ebenen mit ihren Seen, umsäumt von Kiefern und Birkenwäldchen – wie schön das doch alles war und wie anders als die kalte, zerstörte Steinwüste Berlins. Ihr Herz begann heftiger zu schlagen, als sie sich Königsberg näherten. Niemand beachtete sie auf dem Bahnhof, niemand erkannte sie mit ihrem Hut, den sie tief in die Stirn gezogen hatte.

Sie nannte dem Taxifahrer die Adresse ihrer Schwester, das Rittergut der von Treskows, etwas außerhalb, in der Nähe von Ellerkrug.

Dann stand sie vor dem weitläufigen Herrenhaus und fühlte, wie ihre Knie plötzlich ganz schwach wurden. Sie klingelte und verlangte die Hausherrin zu sprechen. Nach wenigen Minuten stand Gertraud vor ihr in einem eleganten, beigefarbenen Seidenkleid, und ihr Gesicht drückte zuerst Erschrecken und dann Erkennen aus.

»Du, Magdalena?« Es war wie ein Aufschrei.

»Gertraud!« Magdalena nahm den Hut ab und fiel ihr stürmisch um den Hals, doch die Schwester befreite sich sogleich, scheinbar peinlich berührt. »Komm schnell, bevor dich jemand sieht! Um Gottes willen, wie kannst du uns so ohne Vorwarnung überfallen! Zum Glück ist Gottfried nicht da!«

Magdalena, vom kühlen Empfang durch die Schwester nicht überrascht, gab zurück: »Wenn es dir unangenehm ist, kann ich ja wieder gehen. Ich konnte mich leider nicht anmelden … wollte einfach nur wissen, wie es dir geht. Es ist inzwischen so viel geschehen!«

»Geh doch bitte schon voraus!« Gertraud trat noch einmal vor die Tür und sah sich dort nach allen Seiten um. »Wir wollen schließlich keine Schwierigkeiten bekommen …« Sie folgte ihr durch die Halle in den Salon und bot ihr einen Platz auf der konservativen Sitzgruppe an. Magdalena betrachtete die Schwester erstaunt. Nichts an dieser ein wenig zu steif und korrekt wirkenden jungen Dame mit den aufgesteckten Haaren erinnerte mehr an das unsichere und manchmal ziemlich rechthaberische BDM-Mädel, das Magdalena in Erinnerung hatte. Sie bemühte sich um ein Lächeln, während Gertraud unauffällig auf die Uhr sah. »Nun? Ich hoffe, es geht dir gut?«

»So gut, wie es einem in diesem unmenschlichen Krieg gehen kann.«

»Fängst du schon wieder mit deinen negativen Bemerkungen an«, erregte sich Gertraud sogleich. »Ich möchte nicht, dass Gottfried das hört.«

»Gottfried, Gottfried! Kannst du ihn nicht für ein paar Minuten aus dem Spiel lassen!«, erwiderte Magdalena gereizt. »Lass uns doch mal von etwas anderem reden.«

»Wovon? Von deinen Verfehlungen, mit denen du unsere Familie in Verruf gebracht hast, vielleicht?« Die Schwester war immer noch die gleiche streitsüchtige Kratzbürste geblieben.

»Ich bleibe nicht lange in Königsberg«, lenkte Magdalena müde ein. Sie hatte keine Lust, auf den Ton ihrer Schwester einzugehen. »Nur, um etwas zu erledigen. Vielleicht kannst du mir wenigstens ein Glas Wasser geben. Aber ich wollte natürlich vor allem dich und Theo wiedersehen. Wie geht es ihm, unserem kleinen Bruder?«

»Möchtest du Tee?« Gertraud versuchte, ihre Erregung zu mäßigen und wenigstens höflich zu wirken. Aber auf ihren Wangen bildeten sich rote Flecken. Als Magdalena bejahte, klingelte sie nach dem Hausmädchen.

»Theo geht es sehr gut«, fuhr sie ruhiger geworden fort. »Er wollte in die Fliegerstaffel zu den Jagdbombern – hat sich freiwillig gemeldet. Vorläufig wurde er aber erst zum Flakhelfer eingeteilt. Er wartet noch auf seine Zulassung. Wir haben ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen.«

Magdalena krampfte die Hände zusammen. »Er will in die Fliegerstaffel? Ist er denn nicht zu jung dazu? Das ist doch wahnsinnig gefährlich!«

Gertraud zuckte die Achseln. »Was ist nicht gefährlich? Er ist alt genug, um selbst zu entscheiden, was er tun will und was nicht. Und wir leben eben in einer Zeit, in der man etwas riskieren muss, wenn man dazugehören will, wie Gottfried immer sagt. Er selbst war einige Zeit im Innendienst, nachdem er diesen Unfall hatte. Das hat ihm gar nicht gepasst. Du weißt natürlich nichts von dem Absturz seiner Maschine, den er überlebt hat. Er hatte zum Glück nur ein paar Knochenbrüche. Jetzt geht es ihm wieder gut und er fliegt schon wieder. Der Führer hat ihm das Eiserne Kreuz verliehen. Darauf ist er sehr stolz.«

»Das ist …wohl für ihn sehr wichtig. Grüße Gottfried von mir. Und Theo, wenn du ihn siehst – gib ihm einen Kuss von mir und drücke ihn ganz fest«, sagte Magdalena wehmütig, als das Mädchen in weißer Schürze ein Tablett mit zwei Tassen und einem dampfenden Kännchen vor sie hinstellte. »Sag ihm, dass ich sehr oft an ihn denke!«

Gertraud beugte sich, zunehmend nervös werdend, vor. »Magdalena, ich möchte nicht unhöflich sein, wenn ich gleich zum Punkt komme. Aber du wirst immer noch von der Gestapo als Staatsfeindin gesucht. Deine Freunde sind in dieser Sache sehr streng bestraft worden. Denkst du nicht, dir könnte das Gleiche geschehen, wenn man dich erwischt? Wir verstehen nicht, wie du dich zu einem kriminellen Akt herablassen konntest!«

»Krimineller Akt? Da bin ich anderer Meinung. Wenn wir den Krieg verlieren, wirst du schon wissen, was ich damit meinte.«

»Den Krieg verlieren?« Gertraud sprang entsetzt auf. »Jetzt geht das schon wieder los! Wie kannst du so etwas sagen! Du rufst das Unheil ja förmlich herbei.« Sie ging mit klappernden Absätzen im Zimmer auf und ab. Dann blieb sie dicht vor Magdalena stehen. »Wenn du wüsstest, welche Unannehmlichkeiten wir durch dich hatten! Mehrmals sind wir verhört worden. Es war so beschämend ! « Sie nahm ihr Taschentuch und knüllte es zwischen den Fingern. »Nimm es mir bitte nicht übel, ich sage es nur ungern: Aber es ist mir lieber, du verlässt unser Haus, bevor Gottfried kommt. Er würde sich schrecklich aufregen! «

Magdalena erhob sich. Sie hatte ihre Tasse noch nicht ganz ausgetrunken. Gertraud hatte sie kaum zu Wort kommen lassen, sie nicht einmal gefragt, wie es ihr ginge und was sie inzwischen erlebt hatte. »Ja, es ist wohl besser, wenn ich gleich gehe!« Sie nahm ihre Reisetasche. »Adieu.«

»Versteh mich bitte nicht falsch!«, versuchte diese, halbherzig einzulenken. »Aber wenn du etwas brauchst … ich habe Geld und kann dir auch ein paar Goldmünzen geben. Für alle Fälle. Trotz der Geldentwertung sind wir nicht arm – du kannst es ruhig annehmen.«

Magdalena zögerte einen Augenblick. »Das wäre sehr nett. Damit könntest du mir wirklich helfen!«

Gertraud öffnete mit einem Schlüssel das Fach eines kleinen Schreibtisches und händigte ihr die Münzen und einige Scheine Reichsmark aus. »Wenn du für die Mark nichts mehr bekommst, kannst du zumindest die Münzen eintauschen. Und lass wieder von dir hören, nicht wahr? Wir sind doch schließlich Schwestern!«

»Ja«, sagte Magdalena und ließ alles in ihre Jackentasche gleiten, ohne es anzusehen. »Das sind wir! Vielen Dank. Und sag Gottfried besser gar nichts davon, dass ich da war!«

Gertraud nickte erleichtert und umarmte sie flüchtig. »Wenn ich sonst noch was für dich tun kann – meine Möglichkeiten sind allerdings begrenzt. Ich könnte dem Kutscher Bescheid geben, dass er dich ein Stück bis zur Straßenbahnhaltestelle mitnimmt, was denkst du?«

»Das wäre sehr nett!« Magdalena nahm ihren Hut und winkte der Schwester noch einen kurzen Gruß zu, bevor sie hinaustrat. Die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, konnte Gertraud nicht mehr sehen. Aber solche Sentimentalitäten hätten sie vermutlich auch nicht interessiert.

Die Stadt zeigte ihr gewohntes Gesicht, nur schien sie weniger belebt als sonst, sei es, dass sie, aufgeheizt von der frühen Sommerhitze, von Menschen gemieden wurde, oder dass eine allgemeine Verminderung der Einwohnerzahl eingetreten war. Die Menschen eilten mit besorgten Gesichtern an ihr vorbei, denn in der Tageszeitung konnte man die beunruhigende Nachricht lesen, dass der Russe sich weiter näherte und bereits die Rigaer Bucht erreicht hatte. Bei einer Invasion in der Normandie sollten mehr als eine Million Mann gelandet sein. In großen Buchstaben wurde jedoch gleichzeitig triumphierend gemeldet, dass in der Heeresversuchsanstalt die Entwicklung der deutschen Flüssigkeitsrakete A 4, der sagenhaften »Geheimwaffe« endlich abgeschlossen sei. In einer diesbezüglichen Ansprache im Radio kündigte Hitler großspurig an: »Sie wird den Feind das Fürchten lehren!«

Neue Hoffnung kam auf. Würde sich das Blatt noch einmal wenden? Ängstlich um sich blickend, standen die Leute in den Ecken beisammen, um über die neue Lage zu diskutieren.

Magdalena schien nichts zu berühren. Wie unter einem Zwang stehend, streifte sie durch die vertrauten Straßen, am Dom vorbei, an der Universität und setzte sich dann, erschöpft von den warmen Temperaturen, auf eine Bank am Pregel. Sie war sehr vorsichtig in ihrer Angst, plötzlich Bekannten zu begegnen, die sie erkennen konnten oder schlimmstenfalls Anton Schäfer selbst über den Weg zu laufen. Und sie machte einen großen Bogen um ihr heimisches Stadtviertel – weil sie es niemals fertiggebracht hätte, emotionslos vor der zerstörten Stätte zu stehen, an der ihr Elternhaus in Schutt und Asche gesunken war.

Schließlich beschloss sie, nicht länger hinauszuschieben, weswegen sie eigentlich gekommen war. Sie fasste sich ein Herz und schlug den Weg zur Wohnung von Pauls Schwester ein. Wenn sie noch dort wohnte, musste sie ihr Auskunft über ihn geben, ob sie gut oder schlecht war. Ihre Hände zitterten, als sie den Finger auf die Klingel legte, so als habe sie Angst vor dem, was sie erwarte, vor dem, was nach so langer Zeit über ihn zu erfahren war. Christine Hofmann öffnete die Tür. Sie sah ihr überrascht entgegen, erkannte sie nicht sogleich, doch als sie ihren Hut abnahm und sich vorstellte, bat sie sie freundlich herein. Es roch angenehm nach frisch zubereiteter Suppe, was in Magdalena sogleich ein bohrendes Hungergefühl auslöste. Sie hatte seit gestern kaum etwas gegessen. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht beim Essen!«, sagte sie höflich.

»Nein, machen Sie sich keine Sorgen, ich koche nur schon vor!«

Magdalena kam ohne Umschweife auf den Grund ihres Besuches zu sprechen. »Ich nehme an, Sie wissen alles über mich. Und ich will Sie auch gar nicht in Verlegenheit oder Unannehmlichkeiten bringen. Deshalb werde ich gleich wieder verschwinden.

Ich bitte Sie nur, niemandem zu erzählen, dass ich hier war.« Ihr Herz klopfte laut. »Wie geht es Paul? Wo ist er? Lebt er noch – geht es ihm gut? Unser Kontakt ist damals abgebrochen, obwohl ich alles versucht habe, ihn zu erreichen. Hat er … hat er irgendwann einmal über mich gesprochen?«

Eine bange Schweigeminute entstand. Christine sah sie unsicher an und schien zu überlegen, wie sie ihre Worte formulieren sollte.

»Paul ist sehr verschlossen. Ich weiß nie genau, was in ihm vorgeht. Die plötzliche Trennung – alles, was damit zusammenhing – das war wohl ein Schock für ihn. Ich glaube, es hat ihn ziemlich verletzt, dass Sie ihm keine Nachricht gesandt haben und so plötzlich verschwunden sind …«

»Aber ich hatte ja einen besonderen Grund … und das habe ich versucht, ihm in einem Brief zu erklären …«

»Die Feldpost ist manchmal etwas unzuverlässig!«, unterbrach Christine. »Paul ist in Russland. An der Front. Es gab dort nichts Wichtigeres, als ums Überleben zu kämpfen. In Leningrad ist er vor einiger Zeit sehr krank geworden. Malaria, Typhus. Man hat ihn nach Hause geschickt, und er war ziemlich lange hier im Hospital. Eine junge Ärztin hat sich sehr um ihn gekümmert …« Sie brach ab. »Ohne sie wäre er wahrscheinlich nicht so schnell gesund geworden.«

Magdalena senkte den Kopf. Ihr Herz klopfte plötzlich unruhig. »Eine junge Ärztin? Aber … wo ist er jetzt? Kann ich ihn sprechen, ihm schreiben?«

Christine zuckte die Schultern. »Irgendwo im Osten, in Russland. Ich weiß es nicht so genau. Er hat schon länger nicht mehr geschrieben. Oder die Feldpost ist nicht angekommen. Vielleicht weiß Dr. Gabriele Braun mehr, die Ärztin, die sich hier um ihn gekümmert hat. Eigentlich verdankt er ihr sein Leben. Er war wirklich am Ende – aber durch sie ist er wieder richtig aufgelebt. Die beiden haben sich oft getroffen, als Paul in Königsberg war.«

»Sie haben sich oft getroffen?«

»Ja, möchten Sie ihre Adresse?«

»Nein … nein danke«, wehrte Magdalena rasch ab und erhob sich. Ihr war, als habe sie ein eiskalter Guss getroffen. »Ich glaube, ich weiß jetzt alles, was ich wissen wollte. Nun muss ich leider gehen.«

»Ich würde Ihnen gerne einen Teller Suppe anbieten«, fügte Christine mit einem besänftigenden Lächeln hinzu, »wenn Ihnen meine Gemüsesuppe nicht zu fad ist! Ich habe die Karotten nämlich selbst aufgesammelt.«

»Nein, vielen Dank!« Magdalena schüttelte den Kopf, obwohl ihr Magen im selben Augenblick laut knurrte. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. »Ich danke Ihnen auch für Ihre Auskunft. Grüßen Sie Paul von mir und sagen Sie, mir ginge es gut! Mein … mein Lebensgefährte erwartet mich.«

»Ja, aber …« Die junge Frau war verwirrt. »Warten Sie doch! Ich hätte da noch etwas für Sie … « Sie lief schnell ins Schlafzimmer, um das Paket zu holen, das sie in Pauls Namen für sie aufbewahrte. »Hier!«

Als sie zurückkam, war das Zimmer leer. Magdalena war schon aus der Tür die Treppe hinuntergelaufen. »Fräulein von Walden!«, rief sie durch das Treppenhaus. Niemand antwortete. Kopfschüttelnd betrachtete sie das Paket in ihren Händen, bevor die die Schlaufe öffnete. Es waren Briefe darin, ein ganzer Stapel!

Für den Rest des Tages sperrte Magdalena sich in dem kleinen Zimmerchen ein, das sie ein wenig außerhalb, im Hinterhof in der Hafenstrasse bei einem mürrischen Kneipenbesitzer, gemietet hatte. Ihr war, als sei die Welt für sie zusammengebrochen. Immer hatte sie das Gefühl gehabt, es werde einmal ein Wunder geschehen und Paul und sie würden sich am Ende doch wieder treffen und in die Arme fallen. Aber vielleicht war inzwischen zu viel Zeit vergangen – die Trennung zu lang und die Gründe zu undurchsichtig gewesen. Jedenfalls hatte sie jetzt die Gewissheit, dass es für ihn eine andere gab, eine Ärztin, die auf ihn wartete – und dass er sie wahrscheinlich längst vergessen hatte! Sie musste sich damit abfinden und dieses Kapitel in ihrem Leben abschließen. Das Schicksal hatte es so gewollt, und es war zwecklos, sich dagegen zu sträuben. Eine ganze Weile lag sie reglos auf ihrem Bett, erfüllt von der dumpfen Ahnung, dass dieser unsinnige Krieg ihr ganzes Leben verpfuscht hatte. Draußen brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel und heizte den kleinen Raum gehörig auf. Was blieb ihr jetzt noch anderes übrig, als wieder nach Berlin zurückzufahren? Sie hatte keine Heimat mehr, hier befand sich nichts, was sie noch halten konnte. Nur Paula, ihre kleine Tochter, wartete noch auf sie, und sie nahm sich vor, sie gut zu erziehen und sie vor allem vor dem zu beschützen, was ihr selbst widerfahren war.

Irgendwann war sie vor Kummer und Erschöpfung tief eingeschlafen, schrak aber mitten in der Nacht vom ohrenbetäubenden Geheul der Sirenen hoch. Sie wusste erst gar nicht, wo sie sich überhaupt befand, und lief auf den kleinen, baufälligen Balkon, von dem aus man das Zentrum der Stadt überblicken konnte. Am Himmel rasten aus der Ferne bereits Markierungsflugzeuge heran, denen gewöhnlich die Bomber folgten. Wie, als wenn es sie gar nichts anginge, beobachtete sie, wie die Schleusen geöffnet wurden und ihre tödliche Fracht entluden. Mit pfeifendem Geheul explodierte das unheilvolle Gemisch am Boden. Als wäre es ein buntes Schauspiel, sanken jetzt die sogenannten »Christbäume« als Zielmarkierung für die Bomber herab. Über der gesamten Stadt ging nun ein solches Feuerwerk von Granaten, Sprengbomben und zischenden explodierenden Leuchtkaskaden britischer Militärflugzeuge nieder, dass es so aussah, als sei das Weltende gekommen. Statt sich jedoch sofort in Sicherheit zu bringen, konnte sie sich mit einer Art selbstmörderischer Erstarrung nicht von dem flammenden Schauspiel losreißen, das die absolute Zerstörung ihrer Heimat einzuleiten schien, den Untergang der alten Welt mit allem, was Menschen hier gebaut und geliebt hatten. Erst als dichter Rauch die Feuerhölle verdunkelte und der Dachstuhl des Nachbarhauses in Flammen aufging, kam Leben in ihre Glieder, und ihr Verstand schaltete sich ein. Sie stürzte herunter, auf der Suche nach dem nächsten Luftschutzkeller und ließ sich vom Strom der Menschen mitziehen. Später wusste sie nicht mehr genau, wie sie, von anderen Flüchtenden gedrängt, in irgendeinem Bunker gelandet war. Dann, als die Entwarnung kam und sie mit den anderen den Unterschlupf verließ, glaubte sie, in einen Alptraum, eine andere Welt zu treten. Um sie herum gab es nur noch eine Trümmerwüste, über der ein kleines Stück mondheller Nachthimmel schimmerte. Zwischen heißen, staubigen Ruinen und herabgerissenen Steinbrocken versuchte sie, sich einen Weg zu ertasten. Ein lockeres Mauerstück fiel von irgendwo herab und verletzte sie am Kopf. Wohin man sah, brannte und schwelte es. Sie musste husten, rang nach Luft und rieb sich ihre Augen, in denen es wie Sandpapier scheuerte. Mühsam kroch sie über Steine und Bruchstücke bis zum Fuß einer abgebrochenen Hausmauer, um sich herum stöhnende, staubbedeckte Menschen, manche wie graue Klumpen, mit verkrümmten Gliedern leblos daliegend. Irgendetwas lief über ihr Gesicht. Es war Blut, und sie tastete nach der Platzwunde am Hinterkopf. Mechanisch wischte sie sich die Hände an ihrem Kleid ab. Doch das blitzende Licht, die feuerspeienden Krater der Hölle, das Dröhnen, Jaulen und Zischen hatte nur kurz nachgelassen und jetzt kam es aufs Neue heran.

Ohne nachzudenken begann sie zu laufen, an herausgerissenen Türen und Eisenteilen vorbei, über gesplittertes Fensterglas, das auf der Straße lag, geradewegs auf die vorstädtischen Wiesen zu. Aber es war wie in einem jener Alpträume, in dem man mit aller Kraft rennt, aber trotzdem nicht vorwärtskommt. Sie konnte kaum atmen, irgendetwas nahm ihr die Luft, der Qualm, die überall flackernden Brände, die sich ausbreitende Hitze. Der Boden klebte wie geschmolzenes Blei an ihren Füßen. Mit ihr rannten Menschen um ihr Leben, trugen etwas, schoben Karren, auf denen ihre Habe lag. Doch niemand achtete auf den anderen, einer stolperte über den anderen, in der Hast, der Welle der Vernichtung zu entkommen. An allen Ecken und Enden flammte, brannte und glühte jetzt das ehrwürdige Königsberg, so lange, bis beinahe nur noch Asche und Ruinen übrig blieben.