11. Kapitel
DIE HOFFNUNG STIRBT ZULETZT

Als sich Paul pflichtbewusst an der Frontleitstelle in Berlin meldete, erfuhr er zu seiner Überraschung, dass seine gesamte Einheit unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall von Manstein bereits schon in den Norden Russlands verlegt worden war und er sich daher unverzüglich in Richtung Ilmensee in Marsch zu setzen habe. Da diese plötzliche Änderung an oberster Stelle im Führerhauptquartier beschlossen worden war, blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Befehl Folge zu leisten.

Innerlich war er aufgewühlt, tieftraurig und fühlte sich so hilflos wie noch nie in seinem Leben. Immer noch wusste er nicht, was mit Magdalena passiert war. Das, was der SD-Mann ihm erzählt hatte, der die von Waldensche Villa bewachte, schien ihm so absurd! Wenn er bloß wüsste, was wirklich geschehen war! Beim besten Willen konnte er sich nicht vorstellen, dass sie irgendwelche strafbaren Handlungen begangen hatte!

Die nun folgende, tagelange Fahrt, zusammengepfercht mit anderen Kameraden in den unbequemen, langsam dahinrumpelnden Güterwaggons, die manchmal stundenlang auf den Gleisen stehen blieben, weil Partisanen die Strecke sabotierten, erwies sich auch diesmal als anstrengend und langwierig. Es ging nicht richtig voran, die Soldaten dösten vor sich hin oder vertrieben sich die Zeit mit Karten- und Würfelspielen. Obwohl bei den unfreiwilligen Aufenthalten in unwegsamen Gegenden immer eine Wache die Umgebung observierte, blieb ein mulmiges Gefühl, das jedes Rascheln hinter Büschen oder Bäumen verdächtig scheinen ließ.

Nach zwei Tagen Fahrt musste die Lok nach einer Explosion durch Sprengstoff erneut auf freier Strecke anhalten und wohl oder übel die Fahrt unterbrechen, bis der Schaden behoben war. Die Verursacher, versteckte Partisanen, blieben unsichtbar, alles schien ruhig, und keine Seele war in der menschenleeren Gegend zu erblicken.

Paul hatte bisher kaum Schlaf gefunden. Um ihn herum schnarchten die Kameraden und in dem abgeschotteten Waggon herrschte verbrauchte und stickige Luft, die das Atmen erschwerte. So leise wie möglich schob er eines Nachts heimlich die knarrende Schiebetür auf und zwängte sich durch den engen Spalt. Es war leichtsinnig und verboten, was er da tat, aber in diesem Augenblick war es ihm egal – der Drang, an die frische Luft zu kommen, war einfach zu groß. Er warf einen Blick nach vorne zu den Mechanikern, die die Lok abgekoppelt hatten und sich bemühten, die von der Sprengladung zerstörten Schienen und beschädigten Teile zu ersetzen und zu reparieren. Das konnte dauern – und bis dahin saßen sie fest!

Damit die Wache nicht aufmerksam wurde, schob er sich langsam an den Wänden des Güterwaggons entlang und ließ sich in eine Senke gleiten, die mit hohem, kühlem Gras bewachsen war.

Mit einem wohligen Seufzer legte er sich lang auf den Rücken und starrte in den weiten, glitzernden Sternenhimmel über ihm, unter dem sich die Silhouetten der fernen Gebirgsläufe kühl und unnahbar am Horizont abzeichneten. Seine Zukunft schien plötzlich von vielen unwägsamen Gefahren umgeben, die sich wie dunkle Schatten drohend aus dem Nichts erhoben. Er dachte an Magdalena – daran, dass sie ihn vielleicht brauchte, während ein ungewisses Schicksal ihn von ihr fernhielt und ihn in den größten Zwiespalt seines Lebens stürzte! Am liebsten hätte er alles im Stich gelassen, um zu ihr zu gelangen, sie zu beschützen, vor dem Unbekannten, Bedrohlichen, von dem er nicht genau wusste, was es war. Doch sich von seiner Truppe länger als erlaubt zu entfernen nannte man desertieren – ein Vergehen, das hart bestraft wurde.

Zum ersten Mal in seinem Soldatenleben tauchten Zweifel in seinem Innern auf, die Frage, wofür er überhaupt kämpfte und sein Leben einsetzte. Was machte er hier, auf unbekannter Erde um fremdes Land streitend, hin und her geschoben wie eine Schachfigur, die nur eine Funktion, aber keinen eigenen Willen mehr besaß? Gelenkt vom Schaltpult eines Konferenztisches, an dem unbekannte Generäle über Landkarten saßen, die über das Geschick der 11. Armee entschieden und eine neue Schlacht bestimmten, die genauso blutig und grausam sein würde wie die letzte? Auf dem Papier schien alles so einfach – von der Krim, der glorreichen Eroberung von Sewastopol gleich weiter an einen anderen Schauplatz dieses weiten Landes! Aber wo war das Ende, wo führte überhaupt dieser Krieg hin?

Ein leiser kalter Nachthauch, wie eine Ankündigung des baldigen Winters, strich über seinen schmerzenden Kopf und die heißen Lider, und er spürte, wie ihm die Augen langsam zufielen. Doch noch bevor er in einen leichten Schlaf sinken konnte, wurde er von einem Lichtblitz und einer darauf folgenden scharfen Detonation unsanft aufgerüttelt; einem Zerbersten und Knirschen von Eisen, das die bisher friedliche Nacht durchbrach. Er sprang auf, fuhr mit der Hand zur Waffe – doch es knallten bereits Schüsse in der Nähe, auf die Kampfgeschrei anstürmender Partisanen antwortete, die sich aus dem Hinterhalt auf den Transportwaggons stürzen wollten, um Waffen und Waren zu erbeuten.

Maschinengewehrsalven der aufmerksamen Wachen ratterten durch die Luft, mähten einen Teil der Angreifer nieder und schreckten die anderen zurück, die sich in wilder Jagd in die umliegenden Wälder flüchteten.

»Verdammt!«, fluchte Paul und duckte sich tiefer in das hohe Gras. Die Waffe im Anschlag, kroch er nach einer Weile, in der alles wieder ruhig geworden war und der Mond hinter einer Wolke verschwand, aus der Senke. »Lästige Kerle! Warum lassen sie uns nicht einfach in Ruhe?«, brummte er zu sich selbst. Immer auf der Hut, nicht im Eifer des Gefechtes von einer Wache mit dem Feind verwechselt zu werden, schob er seinen Körper langsam voran. Als er sich im Schatten des Zuges erhob, stolperte er beim ersten Schritt über etwas Weiches am Boden, das leise aufstöhnte. Er packte fest zu und fasste in warmes klebriges Blut, das dem Mann, den er am Kragen hielt, aus einer Wunde lief und von dem sein Hemd halb durchnässt war. Sieh an, ein verletzter Partisan! Ihn halb zur Seite zerrend, hob er die Waffe, bereit abzudrücken. Diese Burschen verstellten sich manchmal, und im Zweifelsfall war es besser, gleich zu schießen, bevor man selbst dran glauben musste! Den Finger bereits am Abzug, zögerte er in dem Augenblick, als ein schwacher Strahl des Mondlichtes auf das Gesicht des Mannes fiel, in dem die vor Angst weit aufgerissenen Augen um sein Leben flehten. Er murmelte etwas auf Russisch, machte das Kreuzzeichen und hob die Hand. Paul hielt still, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

»Briederchen, Gnade …«, stammelte der Verwundete jetzt auf deutsch, »erst mir das gäben …« Seine Augen wanderten hastig zu seiner Brust, wo unter dem an der Schulter blutgetränkten, halb offenen Hemd ein Rosenkranz mit einem Kreuz um seinen Hals hing. »Vor Starben.«

Paul fühlte, wie seine Kehle eng wurde.

»Bittä …«, bat die Stimme in einem beinahe kindlichem Ton, und Paul zog schließlich mit einem harten Griff den Rosenkranz unter seinem Hemd hervor. Der Verletzte drückte ihn sogleich inbrünstig an seine Lippen. »Jätzt du kannst schießen!«

Er schloss mit einem hörbaren Aufatmen die Augen, während Paul auf ihn hinunterstarrte und langsam, mit einem tiefen Seufzer seine Waffe wieder in sein Koppel schob. Er hatte dem Feind eine Sekunde zu lang in die Augen gesehen, die Sekunde, in der ihm bewusst wurde, dass dieser auch nur ein Mensch wie er selbst war, sein Bruder. Er nahm das Bündel des Verwundeten und legte es unter seinen Kopf. Der schlug die Augen wieder auf, sah ihn erstaunt an und vergaß, seine Lippen weiter im Gebet zu bewegen. Reglos, fast ohne zu atmen, verharrten beide minutenlang in dieser Pose, bevor Paul sich auf die Knie niederließ und die Waffen des Mannes an sich nahm. Mit einer vorsichtigen Bewegung schob er sein blutiges Hemd beiseite. Ein unterdrücktes Ächzen zeigte, dass es sich möglicherweise um einen Einschuss im Schlüsselbeinbereich handelte. Die Kugel war jedoch nicht eingedrungen und ganz oberflächlich betrachtet, sah die Wunde eher nach einem Streifschuss aus. Er nahm zwei Verbandspäckchen aus seinem Rucksack und umwickelte mit festen Griffen die Schulter des Verletzten.

»Wie kommt es, dass du deutsch sprichst?«, fragte er, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, einen feindlichen Partisanen mitten im Krieg in der weiten Steppe Russlands zu verbinden.

»Meine Muttär … deutsch.« Von leisem Stöhnen unterbrochen, suchte der Verletzte nach den richtigen Worten. »Vatär deutsch! Gesiedelt hier! Alle tot, alle!« Er schloss die Lider, sei es, dass er ohnmächtig wurde, oder es ihm schwerfiel zu sprechen.

»Da, trink!« Paul hielt ihm den Becher aus seiner Feldflasche hin. »Und dann mach, dass du fort kommst! Ich muss jetzt zu meinen Leuten. Es wird bald hell, und dann fahren wir weiter!«

Er trank gierig, und als Paul die Flasche zuschraubte und sich erhob, machte er eine Bewegung, als wolle er ihn zurückhalten.

Paul sah ihn erstaunt an.

»Briederrchen!«, stammelte er. »Du von Gott gesandt, um mich zu retten … du mich mitnämen!«

»Was willst du? Ich kann dich nicht mitnehmen!« Paul schüttelte den Kopf über so viel Einfalt. Bei diesen Russen, die oftmals eine Mischung verschiedener Völkerkulturen waren, vermengte sich manchmal Glaube mit diffusem Aberglauben und allerlei Hokuspokus. Der Verwundete ging auf die Knie und hob bittend die Hände. Erst jetzt sah Paul, dass er fast noch einen Jungen vor sich hatte. Die blauen Augen in dem geschwärzten Gesicht unter dem braunen, glatten Zottelhaar blickten ihn mit solcher Intensität und Dankbarkeit an, dass er ganz verlegen wurde.

»Aber das geht doch nicht!«, sagte er ungeduldig. »Das wirst du doch verstehen, dass ich keinen Russen mitnehmen darf! Ihr seid unsere Feinde!«

»Gefangenär, ich!«, beharrte der Junge. »Ich bleiben! Wenn gesund, dann arbeiten … Stiefel putzen, alles tun! Hier in Dorf, die anderen mich machen kaputt … « Er simulierte das Abdrücken einer Pistole: »Puff! Hassen alle deutsch Mann!«

Paul, der nicht die geringste Ahnung hatte, warum der Junge dachte, seine Landsleute würden ihn töten, schüttelte den Kopf.

»Dann hast du also Angst – vor deinen eigenen Mitkämpfern? Trotzdem kann ich dich nicht mitnehmen – es geht wirklich nicht!«

Der enttäuschte Blick des Jungen ging ihm irgendwie nahe. Er wandte sich um und ging zum Waggon zurück. Doch wie von unsichtbarer Hand angehalten, blieb er plötzlich stehen. Ihm war etwas eingefallen. »Hmm … warte mal – eigentlich könnte ich tatsächlich Hilfe brauchen. Es gibt im Zug einen Verschlag, in dem ich mein Spezialgepäck aufbewahre … darum könntest du dich kümmern. Es ist sehr schwer, und du musst achtgeben, dass mir da keiner drangeht!« Er wusste selbst nicht, warum er das sagte, warum er ausgerechnet einem wildfremden Russenjungen die wertvollen Ersatzteile und Medikamente anvertrauen wollte, jemandem, der ihn jederzeit bestehlen und umbringen konnte! Was für ein Blödsinn! Trotzdem fuhr er fort. »Aber das ist ziemlich eng und unbequem! Schließlich bist du ja verwundet!«

»Nix schlimm … bloß kleines bisschen wund!«, beteuerte der Junge, obwohl er um die Nase ziemlich blass aussah und sich der Verband rot gefärbt hatte. »Ist bald gut!«

»Hmm!« Paul schwankte noch. »Schwörst du mir, keine schlechten Absichten zu haben?«

Der Junge nickte begeistert und hob die gesunde Hand zum Schwur. »Bei heiligär Jungfrau Maria!«

»Also gut, wie heißt du?«

»Ich Sascha, Alexander Gregorowitsch Oberbuchski! Oberbuch deutscher Name!«, sagte er stolz und humpelte hinter Paul her, der von außen leise die Gepäckluke öffnete, in der noch genügend Platz für einen Mann war und in dem es sogar noch ein kleines Fenster zur Innenseite des Waggons gab. Er nahm frische Päckchen Verbandszeug aus seinem Rucksack, etwas Zwieback und ein paar Schmerztabletten und stellte ihm zusätzlich eine Reserveflasche mit Wasser in den Verschlag.

»Davon schluckst du jetzt zwei. Bleib ruhig liegen, damit die Blutung aufhört. Und wenn du etwas brauchst, klopf dreimal an die Wand, hörst du? Halt deinen Kopf auf jeden Fall von dem Fensterchen fern, sonst schmeißen dich die anderen gleich raus!«

Sascha nickte und kletterte mit leichten Schwierigkeiten hinein, während Paul die Öffnung hinter ihm zuriegelte und noch einen forschenden Blick auf die Lok warf. Sie schien repariert, war bereits wieder angekoppelt, und damit konnte die Fahrt sicher bald weitergehen. Am Horizont dämmerte bereits der Morgen herauf und die Vögel begannen zu zwitschern. Außer diesem Geräusch war nichts Verdächtiges mehr zu hören und zu sehen, und über die Kameraden hatte sich jener bleierne Schlaf gesenkt, der nach einer halb durchwachten Nacht für die verlorene Zeit entschädigte. Alle ohne Ausnahme schnarchten sie um die Wette, als er die Tür des Waggons hinter sich zuzog und seinen Platz wieder einnahm. Niemand hatte ihn vermisst oder etwas von dem jungen Burschen bemerkt, der mit ihnen jetzt ins Unbekannte fuhr. Immerhin, wenn er sich als zuverlässig erwies, sein in mehrere schwere Säcke verschnürtes, wertvolles Gepäck für die Werkstattkompanie und das Lazarett gut bewachte, es schleppen half und sonstige kleine Dienste leistete, war er sicher gut zu gebrauchen! Aber war dieser Sascha wirklich ein in Russland angesiedelter Deutscher und so vertrauenswürdig, wie er beteuerte? Sein Gefühl sagte ja, sein Verstand bezichtigte ihn des grenzenlosen Leichtsinns. Aber wenn es nicht stimmte, konnte er ihn schließlich immer noch zum Teufel jagen!

Mit diesen und ähnlichen Gedanken döste er in halbem Wachzustand eine Weile vor sich hin, bis der Zug sich endlich wieder ruckelnd in Bewegung setzte. Vom monotonen Gerüttel eingelullt, schlummerte er jetzt fest ein.

Noch zweimal musste die Lok, die zur Sicherheit Steine vor sich her schob, erneut wegen Minenschäden mitten auf der Strecke anhalten, und wieder dauerte es einige Zeit, bis Maschine und Gleise repariert waren. Heimlich sah er dann durch die Luke, doch Sascha war noch da und zwinkerte ihm so vertrauensvoll zu, als würden sie sich schon seit langer Zeit kennen.

Nach einer ganzen, langen Woche kam Paul mit der neu zusammengestellten Truppe und dem blinden Passagier endlich im russischen Norden an. Aber welch neue Überraschung erwartete sie dort! Die Heeresleitung hatte schon wieder umdisponiert! Soldaten und Geschütze, Fahrzeuge und Gebrauchsartikel wurden auf schnellstem Wege auf andere Transportzüge umgeladen, und es gab ein neues Ziel: Leningrad, die schon seit Längerem heiß umkämpfte Stadt, in der man trotz hartnäckiger Belagerung nicht so gut vorankam, wie man es im Führerhauptquartier gerne gesehen hätte.

Die eintönige Fahrt begann aufs Neue, unter den gleichen Umständen. Der Russenjunge Sascha war dank seiner jugendlich kräftigen Konstitution schon bald wieder genesen. Seine Wunde war gut geheilt und hatte keinen größeren Schaden angerichtet. Keiner verstand so richtig, aus welchem Nest er überhaupt kam und ob er tatsächlich deutschstämmig war, aber man duldete ihn inzwischen als Maskottchen, als zugelaufene Hilfskraft, die zwar noch nicht beim Aus- und Umladen der schweren Geräte und Waffen helfen konnte, aber dem Koch der Division gut zur Hand ging und sich auch beim Stiefelputzen und anderen Besorgungen recht geschickt anstellte.

Schon bei der Ankunft der Deutschen am Bahnhof in Mga, einem kleinen Ort, gerieten die Soldaten beim Ausladeversuch ihrer Geräte und Waffen in heftigen Beschuss direkt aus dem Stadtkern von Leningrad. Die Kugeln flogen ihnen nur so um die Ohren, und Paul suchte im Getümmel beherzt unter den Güterwagen Deckung. Er streckte sich lang zwischen den Gleisen aus, Sascha tat es ihm nach, und so verharrten beide mit zusammengebissenen Zähnen über eine Stunde in der eingezwängten Lage, in den Ohren das Stöhnen der Getroffenen und außerhalb liegenden Verletzten, in das sich das Pfeifen der Geschosse mischte, die vorbeizischten und dicht neben ihnen und um sie herum einschlugen.

Erst als der Widerstand und das Feuer ein wenig nachließen, konnten die Sanitäter mit ihren Tragen die Verletzten einsammeln, und gemeinsam mit den Kameraden mühten sich die Soldaten nun mit vereinten Kräften, die übrigen Geschütze und Waffen im Schutz der Nacht so schnell wie möglich auszuladen.

Nach diesem heißen Empfang zog sich die frisch angekommene Division so weit wie möglich aus der Schusslinie in die Leningrad umgebenden Sümpfe, in sogenannte »Bereitstellung« zurück, und die Männer versuchten, soweit es die Umstände erlaubten, sich einigermaßen häuslich einzurichten.

Übermüdet starrte Paul unter seiner provisorischen Zeltplane in die unter einem grauen Himmel liegende Landschaft. Bei seinen Erkundigungen heute an der Front südlich von Leningrad hatte er die Stadt, geschützt von einem Netz von Feldbefestigungen, zum Greifen nahe vor sich gesehen. Auf der Newa konnte er sogar ein zerstörtes Panzerschiff erkennen und ganz in der Ferne drangen durch den Nebel die Spitzen der Isaak-Kathedrale und die Umrisse der Peter-Paul-Festung. Er zweifelte plötzlich daran, dass die Eroberung der Stadt so einfach sein würde, wie sich Hitler das vorstellte. Es hatte zu regnen begonnen – stetig und unablässig rann Wasser vom Himmel herab, und die grauen, nassen Schleier verwandelten das ganze Gebiet im Handumdrehen in eine schmutzig-graue Matschwüste, die wenig Einladendes hatte und den neuen Soldaten schon beim Installieren einen Vorgeschmack davon gab, was später noch mit voller Wucht auf sie zukommen würde.

Am Abend versammelten sich alle in der Kommandozentrale zu einer Lagebesprechung, die der Feldmarschall selbst leitete.

Es schien klar zu sein, dass die Armee sich auf keinen Fall in einen Kampf im Stadtgebiet einlassen durfte. Auf jeden Fall musste die feindliche Front im Süden mit starker Artillerie durchbrochen und dann überraschend die Newa überschritten werden. Es war jetzt nötig, alle zu Kräfte sammeln, um die Sache zu beschleunigen. Durch die ständige Bombardierung durch anfliegende Stukkas, die den Hafen blockierten, dem Andrängen gut ausgerüsteter deutscher Truppen mit stabilen Panzern, würde die Lage für die Leningrader bald so kritisch werden, dass die Kapitulation der Stadt nur noch Tage dauern konnte. Trotz herrschender Hungersnot hatten sich die Bewohner der Stadt bisher geweigert, sich zu ergeben. Sie schienen noch auf ein Wunder zu warten. Und dieses geschah, für alle unvorhersehbar, pünktlich und schleichend mit dem Wetterwechsel zu den üblichen Herbstregen, die jedes Jahr die harte Zeit des Winters einleiteten. Die Deutschen achteten nicht auf dieses Signal. Umtriebige Geschäftigkeit herrschte bei der Einteilung, dem Installieren von Mensch und Gerät, verbunden mit der allgemeinen Erkundung der Lage und des Geländes. Durch die neue Situation und erschöpfende körperliche Arbeit wurde auch Paul ein wenig von seinen düsteren Gedanken und Sorgen um Magdalena abgelenkt. Das Wiedersehen mit den alten Kameraden, der fest zusammengeschweißten Truppe der 11. Armee General von Mansteins, mit denen er an der Krim sozusagen durch Feuer und Eis gegangen war, trug dazu bei, ihn in eine bessere Stimmung zu versetzen.

Es war ein Hallo auf beiden Seiten, als er den guten Hans Bauer wohlbehalten wiedertraf! Sein Bein war jetzt völlig ausgeheilt, er umarmte seinen Lebensretter und hörte gar nicht auf, ihm vor lauter Dankbarkeit auf die Schultern zu klopfen. Nun waren sie wieder zusammen – und wollten es auch gerne bleiben. Die beiden Männer wurden gemeinsam mit einem Neuen namens Willi Demel als Kradmelder eingeteilt. Wenn sie allerdings gewusst hätten, was bei der Wetterlage und der kritischen, strategischen Position bei Leningrad auf sie zukommen würde, wäre ihnen vielleicht ein anderer Posten lieber gewesen. In diesem Moment sahen sie jedoch nur die Vorteile, die größere Freiheit und das eigene, abgesonderte Quartier, das sie zu dritt bewohnen sollten.

Das Wiedersehen wurde erst mal ausgiebig gefeiert und begossen. Willi, dem Neuen, war es gelungen, eine Flasche Wodka zu organisieren, dem die drei am Abend unter einer Zeltplane gründlich zusprachen. Ein köstlicher Duft durchzog die Regenluft.

Sascha hatte für alle Maiskolben am Feuer geröstet, Kartoffeln mit Zwiebeln und viel Knoblauch gebraten, geräucherten Speck aufgeschnitten und eine Dose Sardinen geöffnet. Er hielt sich abseits, hatte seine kulinarischen Schätze auf einem Baumstumpf ausgebreitet und sah nun, seinen Teil genussvoll verzehrend, mit glänzenden Augen zu, wie gut es den Deutschen mundete.

»Wo hast du den eigentlich aufgelesen?« Ein wenig misstrauisch deutete Willi mit dem Kinn zu dem jungen Burschen hinüber. »Der sieht aus wie ein Russe!«

»Sascha ist deutscher Abstammung!«, gab Paul kurz zurück und wischte sich das Öl der knusprigen Bratkartoffeln vom Kinn.

»Pah, wer’s glaubt.« Willi grinste anzüglich. »Hat er das behauptet?«

Paul sah zu Sascha hinüber, der den Kopf mit den dichten schwarzen Locken gesenkt hielt, weil er merkte, dass man über ihn sprach.

»Seine Eltern sind vor zweihundert Jahren nach Russland ausgewandert, als Katharina die Große deutschen Einwanderern anbot, sich auf ihrem Land anzusiedeln«, antwortete er lakonisch.

»Ach so ist das!« Willi biss in einen saftigen Maiskolben. Mit vollem Mund fragte er: »Und wieso bleibt er dann nicht auf seiner Scholle?«

»Seine Eltern sind tot.« Paul nahm einen kräftigen Schluck aus der Wodkaflasche. »Man hat ihn gezwungen, bei der Partisanenbewegung gegen die Deutschen mitzumachen, um zu beweisen, dass er jetzt zu den Bolschewiken gehört. Sein Großvater war dagegen – da hat man ihn brutal niedergeschlagen. Er ist an seinen Verletzungen gestorben. Sascha hat die erstbeste Gelegenheit genutzt, um aus dem Dorf zu fliehen …«

»Schönes Märchen! «, spottete Willi. »Der wird dir eines Nachts die Kehle durchschneiden! Komm mal her Bursche, nimm einen Schluck, moi druk (mein Freund)...« Er schwenkte die Schnapsflasche.

Sascha errötete, blieb aber sitzen.

»Lass ihn doch in Ruhe!«, mischte sich Hans ein. »Der tut ja keinem was. Ist ja fast noch Kind – wohl kaum älter als fünfzehn!«

»Siebzehn!«, verbesserte Paul. »He, Sascha, komm doch mal her!«, winkte er dem Jungen, doch der schüttelte den Kopf und begann die Pfanne zu säubern, indem er sie mit einem Büschel Blätter ausrieb. In diesem Augenblick begann es, aus der Ferne zu pfeifen und zu donnern.

»Geht das jetzt schon wieder los!«, knurrte Hans ungnädig, doch nach einem heftigen Einschlag ganz in der Nähe, bei dem die Erde bis zu ihnen hinüberspritzte, suchte er hinter einem Baum Deckung und warf sich wie alle anderen platt auf den Boden. Ein neuer Treffer zerfetzte die Zeltwand wie Papier und ließ sie in Flammen aufgehen. Pfanne und Topf waren umgefallen und alles wurde durcheinander gewirbelt.

»Na das kann ja munter werden!« Willi hob erst nach einer Weile vorsichtig den Kopf. »Schätze, wir müssen uns hier einen stabileren Bunker bauen, sonst fliegt uns die Hütte beim nächsten Beschuss noch ganz um die Ohren!«

»Und wir mit«, fügte Hans hinzu und kroch aus dem schlammgefüllten Graben, in den er mit dem eingeübten Reflex Hals über Kopf hineingesprungen war. »Eine Sauerei ist das!«, schimpfte er, schüttelte den Dreck aus seinen Klamotten und wischte die Schmutzspritzer aus dem Gesicht. Er starrte auf die heruntergebrannte Plane.

Sascha, blass wie ein Leintuch und zu Tode erschrocken, saß immer noch halb gebückt an seinem Platz am erloschenen Feuer und hielt die Pfanne in der Hand, an der ein Granatsplitter abgeprallt war. Wie ein Schutzschild hatte sie ihn vor dem sicheren Tod bewahrt.

»Glück gehabt, Junge!«, rief ihm Paul zu, »aber das nächste Mal musst du dich etwas schneller in Sicherheit bringen!«

Dieser betrachtete die zerbeulte Pfanne von allen Seiten, warf einen dankbaren Blick zum Himmel, bekreuzigte sich mehrfach und küsste das Heiligenbild, das um seinen Hals hing.

»Kein Wunder, dass die Bolschewiken den nicht behalten wollten! Der ist denen zu gläubig.« Willi pickte die Reste aus seinem Kochgeschirr. »Aber für uns bist du in Ordnung, Kleiner. Deine Knoblauchbratkartoffeln waren ungewöhnlich, aber wirklich gut! Und nächstes Mal nimmst du besser einen Stahlhelm, um deinen Kopf zu schützen!« Er stülpte ihm den Helm über den Kopf und brach dann in Lachen über das verdutzte Gesicht Saschas aus. Erst als die anderen lauthals mit einfielen, zog ein breites Grinsen über das Gesicht des Jungen.

»Ich lärnen!«, brachte er stolz hervor, »aber niemals Angst habä, niemals!«

Die anderen schmunzelten mit der Nachsicht der Älteren, während herabrieselnde Regenschauer die letzte Glut an den Zeltplanen von selbst löschten.

In den nächsten Wochen waren die drei fast nur damit beschäftigt, in mühsamer Arbeit Birkenstämme zu zersägen und damit einen provisorischen Schutzwall gegen die russischen Dauerangriffe aufzubauen. Der Regen rauschte unablässig weiter aus grau zusammengeballten Wolken, fiel wie eine Flut vom Himmel, die Mensch und Material durchtränkte und den trockenen Boden in ein einziges, schmutziges Wasserloch verwandelte. Das unberechenbare Wetter veränderte die Situation und die Deutschen, überzeugt, den Sieg bereits in der Tasche zu haben, sahen sich gezwungen, wegen der unerwarteten Naturgewalten ihre Taktik zu ändern. Durch das Einsetzen der Regenperiode kam der Kampf auf beiden Seiten fast völlig zum Stillstand, denn in den endlosen Sümpfen um Leningrad gab es mit einem Mal kein Vorwärtskommen mehr. Das Transportieren von Waffen und Geräten schien ein Ding der Unmöglichkeit, und der Boden des aufgeweichten, morastigen Geländes entwickelte sich plötzlich zu einem Schwamm, der Material wie ein durstiger Moloch schluckte und Fahrzeuge und Panzer wie Spielzeuge in seinen matschig-klebrigen Grund saugte, aus dem man sie nur schwer wieder herausbringen konnte.

Hitler, von der neuen Lage informiert, deren Ausmaß er jedoch aus der Ferne nicht so genau einschätzen konnte, erteilte nun den Befehl zum Stillhalten, dem »Aushungern« der Stadt unter weiterer intensiver Belagerung und scharfem Beschuss. Die zusätzlich angeforderte Bodenunterstützung AR 62, der Paul nun angehörte, war allerdings von Regen und Schlamm wie gelähmt und kam kaum einen Meter vorwärts. Man war gezwungen abzuwarten, bis der Regen aufhörte und sich der Boden wieder etwas festigte.

Den fast schon verzweifelten Leningradern machte die Schlammperiode, die den Gegner vor unerwartete Probleme stellte, neue Hoffnung. Obwohl sie kaum mehr Reserven hatten und das Schicksal der Stadt so gut wie besiegelt schien, wehrte sich die dezimierte Bevölkerung jetzt wieder mit neuer Kraft gegen die drohende Besetzung. Sie wollten nicht aufgeben, auch wenn die Zufuhr von Lebensmitteln für die eingekesselte Bevölkerung seit längerer Zeit nur noch über den Ladoga See möglich war und Hungersnot und großes Elend herrschten. In der Minderzahl gegen die Deutschen, kämpften die russischen Soldaten mit einer Besessenheit ohnegleichen weiter, auch wenn Morast und Regen sie behinderten und sie nicht ausreichend Munition besaßen. Dem Befehl Stalins folgend, begannen sie jetzt, die wertvollen kleinen Schlösser in der Umgebung der Stadt in Brand zu setzen und alle Werte zu zerstören, die den Feinden vielleicht in die Hände fallen könnten.

Um ihr Ziel zu erreichen, brachten die neu angekommenen deutschen Truppen alles zum Einsatz, was ihnen zur Verfügung stand. Sie hatten, so gut es ging, das Gelände erkundet und nun war es oberstes Gebot, für sicheren Grund zu sorgen, über den Lastwagen, Panzer und Geschütze vorwärtsrollen konnten, ohne dass sie schon nach wenigen Metern stecken blieben und einsanken. Der Nachschub deutscher Pioniere arbeitete Tag und Nacht fieberhaft an neuen Knüppeldämmen über das unwegsame Sumpfgebiet, damit schwere Waffen, Raketen und Werfer mit der nötigen Munition überhaupt an die Kampfstellungen transportiert werden konnten. Zusätzlich sollte eine Verstärkung von finnischen Soldaten von der anderen Seite zu Hilfe kommen. Aber diese Hoffnung verlor sich – auch die Finnen blieben mit ihren Fahrzeugen und der gesamten Ausrüstung im Morast stecken.

Irgendwo in der Mitte des unsicheren und feuchten Sumpfgebietes, umgeben von sirrenden Mückenschwärmen, hausten nun die drei Kradmelder Paul, Hans und Willi gemeinsam in ihrem eher primitiv zusammengehämmerten Unterstand. Harte Arbeit lag hinter ihnen, bei der sie Gräben geschaufelt, Bäume gefällt hatten, um sich so gut wie möglich einzurichten und vor Überraschungsangriffen abzuschotten. Aus Birkenstämmen, die sie mehrfach übereinandergeschichtet hatten, um feindliche Kugeln abzuhalten, war eine relativ stabile Holzhütte entstanden. Nachdem aber nicht nur das heftige Artilleriefeuer aus der belagerten Stadt immer wieder bedrohliche Schäden an ihrer Behausung anrichtete, sondern sie auch zusätzlich von überschweren Geschützen aus der Festung Kronstadt beschossen wurden, schien es unumgänglich, dem Bau ein stabiles Dach aufzusetzen, das einiges aushalten konnte.

Sascha half bei allem fleißig mit, obwohl seine Wunde immer noch ein wenig schmerzte. Ein paar Meter von den anderen entfernt, in einem mit Laub ausgepolsterten Graben mit einem leichten Holzdach und einer Plastikplane darüber hatte er sich wohnlich eingerichtet. Obwohl er an seinem Lebensretter hing, wusste er jedoch mit der Mentalität der beiden anderen Deutschen nicht viel anzufangen. Wenn er ihnen zuhörte, spürte er deutlich, dass ein Teil seines Herzens russisch geblieben war.

Umdonnert vom Geschützlärm und umgeben von zahlreichen Gefahren kam Paul jetzt nicht mehr viel zum Grübeln, aber die fehlende Post und die ständige Ungewissheit über Magdalenas Schicksal quälten ihn in schlaflosen Nächten. Wann würde er endlich Nachrichten aus der Heimat erhalten, wann würde sie sich melden, damit er erfuhr, was wirklich geschehen war und wie es ihr ging? Jeden Abend saß er an dem primitiven Holzklotz, der als Tisch diente und schrieb einen Brief nach dem anderen an sie. Doch jedes Mal, wenn die Feldpost an die anderen Soldaten verteilt wurde, ging er leer aus und kehrte mit enttäuschter Miene zurück. Nach einiger Zeit erreichte ihn ein Brief seiner Schwester, die ihm schrieb, sie habe nicht mehr herausgefunden, als dass Magdalena aus Königsberg verschwunden sei, weil man sie nach einer verbotenen Flugblattaktion gegen die Regierung festnehmen wollte. Es sei wohl eine ernstzunehmende Sache. Ihre angeblichen Komplizen, Studenten von der Albertina, saßen bereits im Quednauer Gefängnis und warteten auf ihren Prozess. Keiner wisse, wo Magdalena sich aufhielt; auch ihre Großmutter, Louise von Walden, nicht.

Nach dieser Nachricht warf sich Paul auf seine Pritsche, vergrub das Gesicht in den Händen und war für längere Zeit nicht ansprechbar. Die beiden anderen betrachteten ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Verwunderung.

»Was willste machen?«, flüsterte Willi hinter der Hand zu Hans hinüber. »Wahrscheinlich hat sie sich mit einem anderen aus dem Staub gemacht! Er will es bloß nicht begreifen!«

Hans zog die Stirn in Falten. »Ach Quatsch, der hätte es wirklich nicht nötig, einer Frau nachzutrauern! Dem laufen die Weiber doch nach!«, gab er zurück. »Ich könnte dir da Geschichten erzählen!« Er grinste anzüglich und senkte die Stimme. »Da war mal was mit einer Russin – einer Krankenschwester. Das heißt, sie war eigentlich gar keine. Aber bis ins Lazarett hat sie ihn verfolgt! Und dann hab ich sie bei einem Partisanenüberfall wiedergesehen – in der Uniform eines deutschen Feldgendarmen! Sie hat mich mit bloßer Hand niedergeschlagen. Schätze mal, dass sie vom russischen Geheimdienst war!«

»Seine Geliebte – eine echte Spionin?« Willi stieß ihn mit dem Ellenbogen an und lachte unterdrückt auf. »Und du hast dich von ihr, einer Frau, niederschlagen lassen?«

»Eine Bestie war das!«

Als Paul irritiert herübersah, setzte Hans eine gleichgültige Miene auf. »Sei leise!«, flüsterte er. »Jetzt will er natürlich nichts mehr von der ganzen Sache wissen. Aber ich bin sicher, dass da was lief.« Er gähnte laut. »Ich hau mich lieber gleich hin – muss schon vor Tagesanbruch los!« Er begann, sich ächzend die Stiefel auszuziehen. »Das wird morgen kein Kinderspiel!«

»Wenn du willst, kann ich die Tour für dich übernehmen«, sagte Paul plötzlich hochsehend.

»Was?« Willi sah ihn verblüfft an, doch dann überzog ein Grinsen sein Gesicht. »Von mir aus gern. Wenn dir das Spaß macht, zweimal hintereinander durch die matschige Pampe zu düsen und dich vor den Kugeln zu ducken, die dir um die Ohren fliegen … « Er schob die Plane beiseite und sah mit verfinstertem Gesicht in den wieder verstärkt herabrauschenden Regen hinaus. »So eine Sauerei!«, schimpfte er vor sich hin. »Unmöglich, da überhaupt durchzukommen!«

Das war nicht übertrieben, denn bei diesem Wetter war das Überbringen von Nachrichten für die Kradmelder anstrengend und zehnmal so risikoreich. War schon das Fahren auf dem lehmig aufgeweichten Boden der Krim ein Geschicklichkeitsspiel gewesen, so wurde es hier in Leningrad zu einer wahren Tortur!

Er dachte an die wackligen Knüppeldämme, auf denen man zwar einigermaßen vorwärtskam, aber wenn man nur ein bisschen Tempo zugab, rutschte einem die Maschine auf der glitschigen Oberfläche immer wieder vorne oder hinten weg, und man musste aufpassen, dass man nicht in hohem Bogen im Graben landete. Ging die Fahrt über einen Feldweg oder uneinsichtiges Gelände, drehten die Räder im Regen ständig durch und waren nach kurzer Zeit so von zähem Schlamm überkrustet, dass man ihn kaum mehr abkratzen konnte. Ganz zu schweigen davon, dass der Beschuss des Feindes jede Fahrt zu einem Tanz auf einem Seil machte, das jeden Augenblick reißen konnte.

Als Paul aufstehen wollte, um seine Sachen bereitzulegen, schwankte er ein wenig.

»Geht’s dir nicht gut?«, fragte Willi und sah ihn an. »Du siehst ziemlich käsig aus.«

Paul winkte ab. »Nichts Besonderes. Ich kann fahren.«

Willi legte den Kopf schräg und musterte ihn genauer. »Nee, nee, lass man! Das mach ich schon selber morgen! Ich brauch Bewegung. Sonst krieg ich hier noch n’ Koller vom Rumsitzen im Regen!«

Paul legte sich wieder auf seine Pritsche und starrte mit offenen Augen gegen die Decke aus Birkenstämmen. Koller! Ja, das war das richtige Wort! Vielleicht war es das, was ihm auf der Brust saß. Wenn er nur irgendwie aus diesem Dreckloch hier wegkäme! Er kämpfte gegen den Wunsch an, aufzuspringen und fortzulaufen, egal, was geschah! Es musste doch eine Möglichkeit geben, einen Urlaubsschein zu bekommen … nur so lange, bis er in Erfahrung gebracht hatte, was mit Magdalena passiert war! Vielleicht hatte die Gestapo sie inzwischen schon eingesperrt, verschleppt, in eines der gefürchteten Konzentrationslager, in denen sie nun namenlos dahinsiechte! Sollte er vielleicht einmal mit dem Feldmarschall sprechen? Von Manstein hatte immer ein offenes Ohr für menschliche Probleme und für jeden einen guten Rat. Er beschloss, es gleich am nächsten Morgen zu versuchen.

Seufzend schloss er die Augen, aber genau wie in den letzten Tagen gelang es ihm nicht recht einzuschlafen. Sein Herz hämmerte unregelmäßig, der Kopf schmerzte schon den ganzen Tag vom Nachdenken, die ewige Erbsensuppe schmeckte ihm noch weniger als sonst und er fühlte sich irgendwie komisch. Ein Schauer, ein beängstigendes, eisiges Frösteln lief plötzlich über seinen Rücken. Er zog die Decke höher über seine Schultern und begann ohne Vorwarnung haltlos zu zittern, während sein Kopf sich zu einem glühenden Ballon aufzublähen schien. Endlich hörte das Zittern auf und er sank in tiefen Schlaf. Als er mitten in der Nacht erwachte, war sein ganzer Körper glutheiß. Er schlug die Decken zurück, aber das Frösteln sprang ihn trotz innerer Hitze an wie ein Tier, das lauernd in der Ecke gelegen hatte. Ihm war entsetzlich elend, sein Körper brannte, obwohl seine Zähne vor Kälte klapperten. Bunte Bilder tanzten vor seinen Augen, während er vor sich hin dämmerte. Auf einmal wurde es blendend hell, die Plane schob sich leicht zur Seite – er hob den Kopf und sah Magdalena in der Sonne lächelnd im Eingang stehen. Er wollte etwas sagen, doch es drang nur Unverständliches über seine Lippen. Sie kam auf ihn zu, neigte sich herab, und er streckte glücklich die Hand nach ihr aus. Da zerfloss ihr Lächeln und wurde zu dem Gesicht von Hans, der sich besorgt über ihn gebeugt hatte. »Malaria«, sagte er zu irgendjemandem, den er nicht erkennen konnte, »da geh ich jede Wette ein! Die verdammten Mücken. Er hat hohes Fieber – wir müssen den Stabsarzt benachrichtigen.« Sein Gesicht verschwamm, zoomte zurück, und die Gestalt wurde breiter und breiter, bis sie den Raum ausfüllte und ihn zu erdrücken drohte. Er rang nach Luft, so sehr beschwerte es seine Brust. In Panik schlug er um sich, schrie so laut er konnte, doch es war nur ein Stöhnen, das über seine Lippen trat. »Jetzt fantasiert er auch noch!«, hörte er Hans sagen, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.

Im Regimentsgefechtsstand, den man in rasch errichteten Bunkern inmitten der Sümpfe platziert hatte, wartete das Oberkommando nun ungeduldig darauf, dass endlich der Nachschub, die dringend benötigte schwere Munition, Panzer und Raketen ankamen, doch der anhaltende Regen mit seinen immer tiefer werdenden Schlammmassen machte den Transportierenden jeden Kilometer zur Qual. Immer noch sanken graue Regenschwaden in dichten Schleiern vom Himmel und weichten mit ihrer durchdringenden Nässe alles auf: Uniformen, Stiefel und Decken.

Paul lag jetzt im Lazarett und hatte seinen Malariaanfall und das hohe, bedrohlich lange anhaltende Fieber beinahe überstanden. Aber er fühlte sich so matt, so schwach und kraftlos wie noch nie in seinem Leben. Sein Puls raste bei der geringsten Anstrengung. Als er das erste Mal aufstehen wollte, brach sein Kreislauf völlig zusammen, und der Stabsarzt Dr. Müller vermutete einen Herzschaden. Er schüttelte den Kopf. Dieser Mann war beileibe nicht das einzige Malariaopfer, aber was sollte man machen? Seit die Sonne für einige Tage herausgekommen war und eine ungesunde Wärme verbreitete, schlüpften unzählige Larven, die als dichte Mückenschwärme über das sich aufheizende Sumpfgebiet schwärmten. Man konnte ihrer kaum Herr werden, selbst die Netze, die man vor Türen und Fenster spannte, hielten die Insekten nicht ab, einzudringen und durch kaum wahrzunehmende Stiche die oft tödlich verlaufende Krankheit zu übertragen.

»Ich werde dafür sorgen, dass Sie einen Urlaubsschein erhalten, Hofmann. Fahren Sie nach Hause – kurieren Sie sich aus!«, sagte der Arzt mit zusammengezogener Stirn und sah auf den blassen Patienten, der in kurzer Zeit etliche Kilo Gewicht verloren hatte, herab. »Sie brauchen absolute Ruhe. In dem Zustand können wir hier wirklich nichts mit ihnen anfangen!«

Paul wollte sich mit einem Lächeln aufrichten, doch selbst die kleinste Bewegung verursachte ihm Drehschwindel. »Ich danke Ihnen, Doktor! Mir geht es schon wieder bedeutend besser.«

Der Arzt sah ihn ernst an: »Ich rate Ihnen, schonen Sie sich noch – selbst die geringste Anstrengung kann bei einer neuen Attacke zum Kollaps führen.«