3. Kapitel
Die Katze, die nach Fire Island fuhr
Die meisten Leute glauben, dass man sich um Katzen sehr viel weniger kümmern muss als um Hunde.
Diese Leute irren sich.
Sie irren sich vor allem, wenn ein bestimmter Besitzer beschließt, dass eine bestimmte Katze sehr sensibel und intelligent ist und genau wahrnimmt, was um sie herum geschieht, und dass man sie besser behandeln muss als die Mitmenschen des Besitzers.
Tatsächlich ist das sogar auf eine verschrobene Art logisch. Schließlich haben Menschen die Wahl. Sie müssen sich mit niemandem anfreunden, den sie nicht mögen oder der sie schlecht behandelt. Sie müssen nicht allein sein, wenn sie es nicht wollen. (Diese Aussage ist, wie ich hier noch einmal betonen möchte, eher allgemein gefasst: Für Leute, die im Sommer kein Deo benutzen, Sandra Bernhard lustig finden oder auf Robert De Niros Figur in Taxi Driver stehen, gilt das nicht unbedingt.) Sie kriegen nicht nur dann etwas zu essen, wenn jemand daran denkt, sie zu füttern. Und vor allem müssen die meisten Menschen sich keine Sorgen machen, dass derjenige, mit dem sie zusammenleben, von einem Raubtier gefressen wurde, wenn er sich mal verspätet.
Cindy fand diesen letzten Vergleich von mir ein bisschen übertrieben, aber sie war diejenige, die mir ein Buch mit dem Titel Die Natur der Katze schenkte.
Sie schenkte es mir, weil recht schnell sehr deutlich wurde, dass Norton nicht nur meine ablehnende Haltung ihm gegenüber geändert hatte, sondern auch meine lebenslange Ablehnung seiner gesamten Spezies.
Erstens ist es sehr schwer, einem Wesen zu widerstehen, das so verletzlich ist. Und es gibt nur wenig, das verletzlicher ist als ein sechs Wochen altes Kätzchen. Zweitens verhielt er sich nicht verletzlich, was noch viel unwiderstehlicher war. Er kroch überall herum, er befühlte alles mit seinen Tatzen, stupste alles an; er nahm meine gesamte Wohnung in Besitz, ja, das tat er. Und drittens nahm er mich in Besitz.
Seine erste Anschleichattacke in dieser Hinsicht erfolgte mitten in der Nacht.
Cindy und ich hatten eine ganz bestimmte Schlafordnung. Ich schlief immer auf der linken Seite meines Bettes, sie auf der rechten. Ich schlief auf der Seite; sie kuschelte sich an meinen Rücken und legte die Arme um mich.
Wir waren nicht sicher, ob Norton auf dem Bett schlafen würde. Wir wussten nicht, ob er die ganze Nacht herumkrabbeln und uns wach halten würde, eine Aussicht, die mich nicht sonderlich begeisterte. Und wir wussten auch nicht, ob er überhaupt bei uns schlafen wollte. Vielleicht waren wir zu riesig und beängstigend. Also beschlossen wir, es einfach ihm zu überlassen.
In seiner ersten Nacht hörten wir ihn irgendwo auf dem Wohnzimmerboden herumrutschen, als wir einschliefen. Es schien, als habe er seine Wahl getroffen – er würde sich einen eigenen Platz zum Schlafen suchen. Von mir aus. Kein Problem. Jeder wusste doch, dass Katzen nicht so anhänglich waren wie Hunde. Er konnte schlafen, wo es ihm, verdammt noch mal, passte.
Ich wachte morgens auf, wie immer ein paar Minuten früher als Cindy. Mit halboffenen Augen lauschte ich auf die Spielgeräusche einer kleinen Katze. Nichts. Ein bisschen besorgt lauschte ich noch angestrengter. Es erschien mir nur natürlich, dass eine junge Katze wach sein musste und irgendwelchen Blödsinn anstellte. Immer noch nichts.
Dann spürte ich eine leichte Regung auf meinem Kopfkissen, und ich rollte meine Augen nach unten, um nachzusehen.
Und sah einen kleinen, grauen Fellball, der sich unter meiner Wange an meinem Hals eingekuschelt hatte. Er war wach, hatte die Augen weit offen, aber er bewegte sich nicht. Nicht einen Zentimeter. Er sah mich an und wartete darauf, dass ich den ersten Schritt machte.
Ohne den Kopf zu heben, drehte ich vorsichtig den linken Arm und positionierte ihn so, dass ich Norton streicheln konnte. Mit zwei Fingern strich ich über seinen Kopf, rieb die Stelle zwischen seinen Augen bis hinunter zu seiner Nase. Er bewegte sich ein ganz kleines bisschen und hob den Kopf, sodass ich ihn unter dem Kinn kraulen konnte. Wir blieben einige Minuten so liegen, die Katze gemütlich ausgestreckt, der Besitzer mit Streicheln beschäftigt.
Ich fühlte mich ziemlich gut.
Norton hatte entschieden, bei mir zu schlafen. Nicht nur auf dem Bett. Bei mir. Nicht bei Cindy. Bei mir.
Es war peinlich, wie gut sich das anfühlte.
Ich drehte den Kopf, um Cindy anzusehen. Sie war jetzt ebenfalls wach und beobachtete uns lächelnd.
Und so begann eine völlig neue Schlafordnung. Wenn Cindy bei mir übernachtete, dann blieb Norton im Wohnzimmer, bis wir eingeschlafen waren. Aber jeden Morgen, wenn ich aufwachte, lag er an meinem Hals, teilweise unter meiner Wange, war wach und wartete darauf, dass ich ihn unter dem Kinn kraulte.
Wenn wir allein waren – ich und die Katze, nicht ich und Cindy –, dann nahm Norton Cindys Platz ein, bevor die Lichter ausgingen. Er lag auf ihrer Seite des Bettes, den Kopf auf ihrem Kissen, den Körper ausgestreckt wie ein Mensch, normalerweise unter der Decke. Ich drehte ihm den Rücken zu, und er schmiegte sich an mich, genau wie Cindy es tat. Am Morgen lag er immer noch auf ihrem Kissen, war wach und sah mich an, wartete darauf, dass ich aufwachte. Wenn ich die Augen aufschlug, dann kam er ein bisschen näher, leckte über meine Augen oder meine Stirn und begab sich anschließend auf seinen Unter-der Wange-am-Hals-Platz, um sich fünf Minuten streicheln und kraulen zu lassen.
Er weckte mich nie auf. Verlangte nie miauend nach seinem Frühstück. Ob à deux oder ménage à trois, er blieb still im Bett liegen, bis ich wach war, wartete jeden Morgen auf seine Streicheleinheiten und begleitete mich dann in die Küche, wo wir frühstückten – einen schwarzen Kaffee, eine Dose Hühnchen mit Leber in Sahnesauce Deluxe.
Norton fand noch einen raffinierten Weg, sich in mein Leben zu stehlen. Und das ging allein auf meine Kappe.
Ich zeigte ihn gerne anderen. (Ich wusste, dass das ein schlechtes Zeichen war, aber so war es nun mal; ich konnte nichts daran ändern.) Also nahm ich ihn mit. Nicht weit. Nur in die Wohnungen von Freunden. Er war dort, unnötig zu erwähnen, der absolute Hit, erkundete diese Wohnungen genauso furchtlos wie meine, streifte herum und hüpfte von Raum zu Raum. Einige dieser Freunde hatten selbst Katzen und machten sich ein bisschen Sorgen über mögliche Konfrontationen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand – nicht einmal eine eifersüchtige Katze – etwas gegen Norton haben konnte, und wie sich herausstellte, behielt ich Recht. Meistens fauchte die Katze, in deren Territorium wir eindrangen, zuerst und umkreiste Norton, den ich mitten ins Wohnzimmer gesetzt hatte. Norton betrachtete dann den wilden Burgherrn und schien zu sagen: »Ach, nun hör schon auf mit dem Theater«; dann rollte er sich über den Boden und sah so süß aus, wie ein Tier aussehen kann. Der ausgewachsenen Katze blieb dann im Grunde nur noch übrig, zu ihm zu gehen und freundlich zu sein. Sonst hätte sie vor ihrem Besitzer wie eine verrückte Kriegstreiberin dagestanden.
Es erschien mir auf diesen Vorstellungsrunden zu aufwendig, Nortons Transportbox durch die Stadt zu schleppen, vor allem, weil er noch so klein war, also zog ich einfach eine Windjacke oder einen Regenmantel an und steckte Norton in die Tasche. So ein paar Blocks mit ihm zu laufen war kein Problem. Er saß ruhig in der Tasche, steckte manchmal den Kopf über den Rand und sah sich um, dann zog er sich wieder ins Innere zurück. Er gewöhnte sich sogar sehr schnell an diese Form des Transportes. Selbst lange U-Bahn-Fahrten in die Upper West Side machten ihm nichts aus. Der Lärm schien ihm keine Angst zu machen. Das plötzliche Anfahren und Anhalten hielt er offenbar für ein lustiges Spiel. Die einzigen Nachteile waren (1) die Penner, die glaubten, sie hätten Halluzinationen, und ihn anfassen wollten, um sicherzugehen, dass er nicht der letzte Schritt vor dem rosa Elefanten war, und (2) die geschwätzigen Fremden, die eine Katze in der Jackentasche für eine ganz klare Aufforderung hielten, mir ihre traurigen Lebensgeschichten, oder, was am schlimmsten war, nette Anekdoten über ihre eigenen Haustiere zu erzählen.
Ich fing auch an, ihn an Samstagen mitzunehmen, wenn ich Besorgungen machte. Er protestierte nie dagegen; tatsächlich glaube ich, dass es ihm gefiel. In den meisten Läden freute man sich, wenn sein kleiner Kopf aus der Tasche guckte und er sich neugierig umsah. In meiner Stammbäckerei bekam er ziemlich viele Kekskrümel und Gebäckstückchen zugesteckt und entwickelte eine echte Vorliebe für gefüllte Donuts; im Lebensmittelladen verwöhnte man ihn mit Käsestückchen und manchmal etwas Hühnchen. Er blieb sogar ruhig – in einer besonders großen Tasche – sitzen, wenn ich an Sonntagnachmittagen zu einem ausgiebigen Brunch in irgendein Restaurant im Village ging. Ein paar Kellner und Kellnerinnen fragten sich wohl, warum ich immer ein Glas Milch – in einem niedrigen, runden Glas, wenn irgend möglich; wenn nicht, in einem großen Glas und zusätzlich eine Untertasse – zu meinem Mimosa oder meiner Bloody Mary bestellte, aber niemand sagte je etwas dazu. Bis heute bin ich sicher, dass mehrere Oberkellner und Bedienungen nach wie vor über den bärtigen Typen reden, der immer kleine Milchpfützen unter dem Stuhl hinterließ. Sie müssen mir das jetzt einfach glauben, aber ich bin eigentlich wirklich ordentlich. Norton verteilt die Milch beim Aufschlecken dagegen in alle Richtungen. Wenn er durstig ist, erinnert mich seine Zunge an eine dieser Maschinen, die in Lichtgeschwindigkeit Farbe auf kleine Leinwände spritzt, damit Kindergartenkinder auf die Schnelle Kunstwerke erschaffen können.
Ich gewöhnte mich daran, meine Hand bei meinen Fahrten durch die Stadt in der Tasche zu lassen und die weiche kleine Katze zu streicheln. Norton gewöhnte sich an diese ein- bis zweistündigen Abenteuer. Wenn ich das Haus ohne ihn verließ – wozu ich viel öfter gezwungen war, als mir lieb war –, dann sah er richtig traurig aus. Das führte dazu, dass es länger und länger dauerte, bis ich loskam. (Haben Sie schon mal einer Katze fünf Minuten lang erklärt, was Sie an diesem Tag noch alles erledigen müssen und dass sie Sie wirklich nicht in die wichtigen Sitzungen begleiten kann? Haben Sie das je versucht, wenn jemand anderes dabei war? Ein guter Rat: Tun Sie’s nicht.) Norton mochte es ganz offensichtlich nicht, allein zu bleiben. Er wollte lieber in einer Tasche herumgetragen werden, als den Tag auf der Fensterbank zu verdösen.
Mein einziges Problem, abgesehen von meinen fünf- bis zehnminütigen Monologen an der Tür, war, dass es langsam Sommer wurde. Selbst Norton zuliebe konnte ich im New Yorker Sommer keinen Mantel tragen.
Und da inzwischen offensichtlich war, dass Norton und ich an der Hüfte zusammengewachsen waren (oder in unserem Fall an der Tasche), tat Cindy zwei Dinge. Zuerst kaufte sie sich eine eigene Katze, eine normale mit ganzen Ohren, für die sie beim Tierschutz fünf Dollar zahlte. Es war ein Kater, und sie nannte ihn Marlowe. Ich konnte nicht wirklich etwas dagegen sagen. Ich meine, schließlich hatte ich jetzt eine Katze, die auf meinem Kopf schlief und für die ich mir in der ersten Woche unserer Beziehung zwei Tage frei genommen hatte, um sie besser kennenzulernen. Ich hatte keine Katzen-Verhinderungs-Argumente mehr. Außerdem mochte ich Marlowe ziemlich gerne. Er war genauso lieb wie Norton. (Tatsächlich war er in mancherlei Hinsicht lieber; es war von Anfang an klar, dass in Norton ein kleiner Rebell schlummerte. Er testete gerne seine Grenzen aus. Durch kleine Dinge wie das Kratzen an der Couch. Um ganz ehrlich zu sein, war ich der Meinung, dass er, wenn er so gerne an der Couch kratzte, das ruhig tun sollte. Es war doch gar nicht so schlimm, hin und wieder eine neue Couch zu kaufen. Aber eine entsetzte Cindy bestand darauf, dass man ein Kätzchen erziehen musste, also sagte ich »Nein!«, wenn Norton kratzte, genau wie Cindy es mir erklärt hatte. Er war definitiv intelligent genug, um direkt auf meine Warnung zu reagieren. Er hörte sofort auf zu kratzen und bewegte sich einen halben Meter vom Sofa weg. Dann robbte er Zentimeter für Zentimeter wieder zurück, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen, streckte die Tatze aus und verpasste dem Ding noch ein oder zwei heftige Kratzer. Ich klatschte dann in die Hände und sagte wieder »Nein!«, und er hüpfte wieder einen halben Meter weg. Dann wandte ich mich um, und zwei Minuten später hörte ich wieder das vertraute Kratzen von Krallen auf Stoff. Ich muss zugeben, dass ich stolz auf diesen James-Dean-artigen, herausfordernden Charakterzug von ihm war und ihn heimlich unterstützte, wohingegen Cindy die Tatsache liebte, dass ihrer Katze so etwas nicht mal im Traum einfallen würde.) Marlowe war auf seine Art auch ziemlich hübsch, hatte ein wunderschönes dunkles Fell mit schwarzen und braunen Streifen, obwohl selbst Cindy zugeben musste, dass er mit meinem kleinen Kerl nicht mithalten konnte. Außerdem konnte er viel höher springen als Norton. Marlowe brachte etwas fertig, das mich immer wieder überraschte. Er konnte vom Boden aus oben auf eine offene Tür springen und balancierte dann dort. Norton beobachtete diese körperliche Geschicklichkeit ein wenig neidisch, glaube ich, doch er kannte seine eigenen Grenzen und schien beschlossen zu haben, dass Intellekt wichtiger war als Muskelkraft. Denn letztlich war Marlowe, auch wenn er ein netter Kerl war, ganz normal. Er war eine Katze. Norton war mehr als das.
Die zweite Sache, die Cindy tat, war, mir das bereits erwähnte Buch zu kaufen, Die Natur der Katze, damit ich etwas über mein Tier lernte. Es war ein wunderbares kleines Buch, und ich lernte bald, dass Katzen sich selbst sauber hielten und sich an Katzenklos gewöhnten und all die Dinge, die Katzenbesitzer rund um den Globus bereits wissen und auf die wir hier nicht näher eingehen müssen. Für mich war das alles faszinierend, so als würde ich eine ganz neue Kultur entdecken. Ich hatte noch nie etwas schnurren hören, und für mich war es das wahrscheinlich schönste, beruhigendste Geräusch, das mir jemals zu Ohren gekommen war. Ich mochte nichts lieber, als wenn Norton sich auf dem Bett oder dem Sofa ausstreckte und ich mich auf ihn legte, mit dem Kopf auf seine Körpermitte. Er schnurrte und schnurrte und schnurrte vor Freude. Mir wurde irgendwann bewusst, dass ich mir immer öfter Wiederholungen von »Detektiv Rockford« ansah, um eine Stunde lang diesen Motorbootgeräuschen zu lauschen.
Ich hatte auch noch nie gesehen, wie jemandem die Haare auf dem Rücken zu Berge standen oder einziehbare Krallen. Vor allem faszinierten mich die Krallen, weil Norton, so gerne er auch kratzte, niemals die Krallen ausfuhr, wenn wir miteinander rauften. Er machte sehr deutlich, dass so etwas undenkbar war, und ich war gerührt von seiner instinktiven Sanftheit. Generell war ich extrem interessiert an all den Gründen und Ursachen und der Geschichte seines Verhaltens und seiner körperlichen Reaktionen.
Im letzten Kapitel von Die Natur der Katze wurde die Psychologie der Katzen diskutiert. Und irgendwo in dem Kapitel stand auch, dass man einmal auf Folgendes achten sollte: Wenn man jeden Tag um sechs Uhr von der Arbeit kommt, liegt die Katze zufrieden auf einem bequemen Platz und schläft. Sie ist dann entspannt und ruhig, wenn sie den Kopf hebt, um einen zuhause willkommen zu heißen. ABER: Wenn man normalerweise um sechs Uhr zurückkommt und dann eines Tages erst um elf Uhr abends, dann läuft die Katze, wenn man zur Tür hereinkommt, unruhig hin und her und fragt sich nervös, ob man sie verlassen hat. Das liegt daran, dass ihre fünfzig Millionen Jahre Dschungelinstinkt die Oberhand gewonnen haben und die Katze sicher ist, dass man von einem Raubtier gefressen wurde. Sie hat keine Ahnung, dass man nur mit Kollegen was trinken war und dann noch mit einem Freund eine Runde Baseball geguckt hat. Sie nimmt stattdessen an, dass man in Gedanken war, während man Wasser in einer Lagune getrunken hat, und dass dann ein zwei Tonnen schweres Tier gekommen ist und einen in der Mitte durchgebissen hat.
Ich fing an, mir deswegen Sorgen zu machen. Ich war nicht direkt besessen davon und dachte Tag und Nacht an nichts anderes. Aber wenn Cindy und ich essen gingen und es später als neun Uhr wurde, fing ich an, unruhig zu werden.
»Was ist los?«, fragte sie dann.
»Nichts«, erwiderte ich. Dann sah ich nervös auf die Uhr.
»Was ist los?«, wollte sie wissen. »Du bist ganz zappelig. Das tust du nur, wenn etwas nicht stimmt.«
»Es ist nichts. Wirklich. Ich bin nur ein bisschen müde.«
»Möchtest du gehen?«
»Nein, nein«, erklärte ich dann. »Auf keinen Fall. Mir geht’s gut. Lass uns noch bleiben.«
Nach fünf weiteren Minuten stieß ich sie unter dem Tisch an. »Vielleicht sollten wir jetzt gehen«, flüsterte ich. Und das taten wir dann zu Cindys Verwirrung und Verärgerung.
Wenn wir in meine Wohnung kamen, stand Norton an der Tür und sah uns an. Er musste, da war ich mir sicher, extrem gestresst sein. Ich hob ihn dann auf, streichelte ihn für eine Weile und versicherte ihm, dass sein Dad einen weiteren Tag im gefährlichen Dschungel überlebt hatte, sagte ihm, was für ein großartiges Festessen noch auf ihn wartete, und seufzte dann erleichtert und erschöpft darüber, dass ich eine Krise abgewendet hatte.
Nachdem das zwei Wochen so gegangen war, fand Cindy heraus, was los war. Sie nahm Die Natur der Katze aus dem Regal und warf es weg. Sie verbot mir außerdem, noch mehr über Katzen zu lesen. Sie beschloss, dass es zu gefährlich war.
Die Idee hatte sich zwar bereits in meinem Kopf geformt, aber erst diese ganze Raubtier-Geschichte brachte das Fass zum Überlaufen. Ich fing an zu glauben, dass ich Norton so oft es ging mitnehmen sollte. Ich selbst wäre dann sehr viel entspannter, und es stand für mich fest, dass Norton lieber seinen Dad begleiten als den ganzen Tag in der Wohnung herumsitzen wollte. Die kurzen Taschen-Ausflüge klappten gut. Warum also nicht etwas weitere Reisen?
Cindy war nicht so begeistert davon, wie ich gehofft hatte. Sie erklärte mich für verrückt.
»Du kannst deine Katze nicht überallhin mitnehmen«, informierte sie mich.
Ich mochte das nicht einsehen. »Er mag mich. Er ist ziemlich ruhig. Ich nehme ihn doch auch mit, wenn ich zu dir komme. Was soll die ganze Aufregung?«
»Ich rege mich auf, weil wir hier über eine Katze sprechen. Katzen mögen so etwas ganz und gar nicht.«
»Norton schon.«
»Norton ist noch klein. Er passt sich an alles an. Wenn er größer wird, dann wird er es hassen.«
»Das glaube ich nicht«, meinte ich. »Ich glaube, es wird ihm gefallen.«
»So funktioniert das aber nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
»Ich versuche es trotzdem«, erklärte ich ihr. »Ich mag ihn. Ich bin gerne mit ihm zusammen. Und ich glaube, dass er auch gerne mit mir zusammen ist.«
Tatsächlich schwebte mir schon ein Ort vor, an dem es Norton ganz sicher gefallen würde.
Fire Island ist ungefähr eine Auto- oder Bahnstunde von Manhattan entfernt. Wie schon erwähnt, mietete ich dort jeden Sommer ein Haus, in der Stadt Fair Harbor. Es war ein wunderschönes kleines, meerblau angestrichenes Strandhaus; ein Zimmer, gemütlich eingerichtet, mit einer Einbauküche und einem Schlafboden. Es hatte eine hübsche Veranda, die ich, obwohl der Strand nur ungefähr fünfzehn Meter entfernt war, kaum je verlassen wollte. Die gesamte Insel ist ungefähr vierzig Kilometer lang und zwei Blocks breit vom Hafen bis zum Strand. Es gibt viele kleine Siedlungen mit jeweils unterschiedlichen Regeln und Lebensstilen. Die Regeln rangieren von Kein Essen in der Öffentlichkeit in einer besonders dicht besiedelten Gemeinde über Kein Lagerfeuer am Strand in einer besonders vorsichtigen Gemeinde bis hin zu Keine Wasserflugzeuge reicher Leute sollten hier landen, sonst schießen wir denen die Köpfe weg in einer Arbeitersiedlung. Die Lebensstile reichten von Wilde-Geschiedene-Heterosexuelle-aus-Manhattan-feiern-die-ganze-Nacht-in-der-Disco-auf-der-verzweifelten-Suche-nach-einem-Date-für-Silvester über Langweilig-bitte-gebt-meinem-Haus-keinen-komischen-Namen-ich-bin-hier-um-auszuspannen-nicht-um-mit-Fremden-zu-reden bis hin zu Wenn-du-nicht-schwul-bist-und-Can’t Stop The Music-nicht-schon-mindestens-dreimal-ausgeliehen-hast-dann-brauchst-du-gar-nicht-erst-von-Bord-zu-gehen. Ich war in einer der Langweilig-bitte-etc.-Gemeinden, und es gefiel mir dort sehr. Tatsächlich fand ich es regelrecht himmlisch. Es gab ein Restaurant, in dem ich einmal pro Sommer aß, einen kleinen Lebensmittelladen, in den ich, wie erwähnt, ein bisschen zu häufig ging, und ein Billigwarenhaus, das von einer Frau geführt wurde, die früher Tänzerin bei den Rockettes war. Es gab eine Menge netter Familien mit einer Menge netter Kinder. Und am besten war, dass Autos auf Fire Island verboten sind. Wenn man nicht laufen will, kann man ein Fahrrad nehmen. Wenn man beides nicht will, dann kann man nur noch in der Sonne sitzen und den Wellen lauschen, die an den Strand rollen. Es wirkt wie ein Ort, an dem die Zeit stillsteht, mit seinen hölzernen Stegen, den Wassertaxis und diesem Jeder-kennt-jeden-Gefühl. Und vor allem ist es ein sicherer Ort. Fire Island gibt einem das Gefühl, dass dort nichts Schlimmes passieren kann, dass man dort, wenn man ein Kind ist, höchstens mal hinfällt und sich das Knie aufschlägt, oder dass man, wenn man ein Erwachsener ist, auf einer Cocktailparty höchstens mal zu viel trinkt und mit einer dicken Frau namens Naomi im Bett landet. Deshalb hielt ich Fire Island für den perfekten Ort für Nortons ersten richtigen Ausflug.
Als Cindy begriffen hatte, dass ich das wirklich ernst meinte und dass ich meine Katze auf gar keinen Fall ein ganzes Wochenende allein lassen würde, beschloss sie, auch Marlowe mitzunehmen. Sie wollte nicht, dass er mit dem Gefühl aufwuchs, das vernachlässigte Stiefkind zu sein.
Für unsere erste Reise en famille nahmen wir Tommy’s Taxi, einen Van-Service, der uns (und viele yuppifizierte Wochenendausflügler, die gerne die Stadt verlassen wollten und das auch laut verkündeten) in Manhattan abholte und bis zur Fire-Island-Fähre kutschierte. Wir nahmen eine normale Tiertransportbox mit, eine aus Plastik mit Metallgitter obendrauf. Da beide Katzen noch so klein waren, hielten wir eine Box für groß genug.
Wir stiegen an der Ecke Dreiundfünfzigste und First Avenue zu, luden unsere Taschen in den Van, kletterten hinein und machten es uns so gemütlich, wie es uns zwischen den Juwelen, den Designer-Klamotten und den entblößten Körperteilen irgend möglich war. Die Katzenbox platzierte ich auf meinem Schoß.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten Fahrt beschloss ich, dass es auf keinen Fall gemütlich sein konnte, sich in einem tragbaren Tiergefängnis aufzuhalten, also öffnete ich die Box ein Stück und steckte meine Hand hinein, um beide Kätzchen durch Streicheln zu beruhigen. Marlowe reagierte nicht. Seine Nase war in einer Ecke vergraben, und er gab sich alle Mühe, so zu tun, als läge er schon seit drei Wochen im Koma. Norton dagegen lief sofort zu meinen Fingern hinüber und drückte seine Nase hinein. Ich streichelte ihn für eine Minute, und dann, als Cindy nicht hinsah, weil sie entsetzt ein paar goldene Ohrringe in Form einer Telefonnummer anstarrte – drei Nummern hingen am linken Ohr, vier am rechten; den Ort, an den die Frau sich die Vorwahl hatte tätowieren lassen, wollte ich lieber nicht wissen –, hob ich Norton aus der Box und schloss sie schnell wieder.
Er sah mich dankbar an und miaute. Als Cindy das hörte, sah sie zu mir herüber. Als sie das Kätzchen auf meinem Schoß erblickte, rollte sie mit den Augen.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich und versuchte so zu tun, als hätte ich Verständnis für ihre hartherzige Einstellung zu Tieren auf Reisen. »Aber er sah so unglücklich da drin aus.«
»Er war nicht unglücklich«, erklärte sie mir. »Er ist eine Katze. Du warst unglücklich, weil du ihn nicht halten konntest.«
Ich blickte hinunter auf Norton, der sich auf meinem Schoß zu einem Ball zusammengerollt und seinen Kopf auf meinen Handrücken gelegt hatte. Ich nickte und signalisierte Cindy damit, dass ihre Annahme korrekt war.
»Beweg wenigstens deine Hand«, wies sie mich an. »So kannst du doch unmöglich bequem sitzen.«
»Mir geht’s gut«, erwiderte ich.
»Du sitzt bequem?«
»Na ja … nicht direkt. Aber …«
»Aber was?«
»Aber er sieht aus, als hätte er es bequem.«
»Ich glaube«, sagte Cindy, »ich habe einen Fehler gemacht.«
Der Rest der Fahrt verlief auf diese Weise: Marlowe kauerte in der Box und tat sein Bestes, so zu tun, als sei er Helen Keller. Norton arbeitete sich meinen Arm hinauf und setzte sich auf meine Schulter, sah hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft, während wir über den Long Island Expressway fuhren.
Es gefiel mir besonders gut, dass er auf meiner Schulter saß, weil er offenbar gar nicht darüber nachgrübelte, dass er mich nicht wegschieben oder sich einfach auf irgendeinen Platz setzen konnte, auf dem er sitzen wollte. Dort oben wollte er sein, also ging er dort hinauf. Und ich musste ihm zustimmen. Es war nur fair. Er war klein; er wurde ohne sein Einverständnis in der Gegend herumkutschiert; er hatte keine Ahnung, wohin wir fuhren oder warum. Wenn er irgendwo sitzen wollte, wo er eine gute Aussicht hatte, wie konnte ich ihm das verwehren? Ich hatte das Gefühl – und ich glaube, das ist eine dieser cleveren Sachen, zu denen nur Katzen in der Lage sind –, dass es eine Ehre für mich war, sein gemütliches Möbelstück sein zu dürfen.
Tatsächlich beklagte ich mich nicht nur nicht, ich war fasziniert davon, Norton auf seiner ersten Reise im Van zu beobachten. Er verbrachte fast die gesamte Stunde damit, aus dem Fenster zu starren, nach vorn gebeugt, den Hals gereckt, die Nase gegen die Scheibe gepresst. Irgendetwas faszinierte ihn da draußen, obwohl ich nicht hätte sagen können, was es war. Manchmal drehte er sich zu mir um und sah mich an, und in seinen Augen lag dieser fragende Ausdruck. Er starrte mich an, bis ich mir schrecklich begriffsstutzig vorkam und flüsterte. »Was? Was willst du wissen? Was? Sag es mir!« Als offensichtlich wurde, dass ich ihm nicht helfen konnte, wandte er sich wieder dem Fenster zu und machte mit dem aufmerksamen Beobachten weiter.
Es war allerdings nicht so, als starre er auf ein Kaminfeuer, ohne es wirklich zu sehen, abgelenkt von den Geräuschen und der Bewegung. Für Norton war das nicht nur eine sinnentleerte Art, die Zeit totzuschlagen. Er starrte nicht nur einfach so. Seine Augen waren wachsam und ständig in Bewegung, sein Kopf bewegte sich hin und her, als versuche er, ein Grundlinienduell in einem aufregenden Tennisspiel zu verfolgen.
Er war so interessiert. Und das machte mich unglaublich neugierig. Ich verhielt mich wie ein stolzer Vater, dessen Sohn gerade dabei war, den Buchstabierwettbewerb der Sechstklässler zu gewinnen. Ich stieß ständig Cindy an, sagte jedoch nichts, sondern deutete mit den Augen auf Norton, als wenn ich sagen wollte: »Sieh ihn dir an! Ist der nicht unglaublich intelligent?«
Mehrere Leute im Auto hörten tatsächlich für einen Moment lang auf, über sich selbst zu reden, und bemerkten, dass da ein Kätzchen auf meiner Schulter saß, ein Kätzchen mit gefalteten Ohren, das sich ungewöhnlich stark für die Landschaft von Long Island zu interessieren schien.
Ein paar beugten sich vor und streichelten ihn. Norton begegnete dieser Aufmerksamkeit mit dem, was ich heute seine Laissez-faire-Reaktion auf Bewunderer nenne. Er wich nicht aus oder huschte zurück in seine Box. Und er rieb auch nicht die Nase liebevoll gegen unbekannte Handflächen oder ermunterte die Leute sonst in irgendeiner Weise zu mehr Streicheleinheiten. Er saß einfach da und ertrug das Streicheln und die Komplimente so stoisch, wie er konnte. Irgendwann drehte er sich dann zu mir um, da wir sozusagen auf Augenhöhe waren, und der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte: »Schon gut. Das ist einfach der Preis, den ich dafür zahlen muss, ich zu sein.«
Ich nickte verständnisvoll, und wenn das Streicheln aufhörte, schmiegte er sich etwas enger an mich, drehte sich von den Fremden weg, vergrub sein Gesicht an meinem Hals, schloss die Augen und schlief ein.
Marlowe, der im Van wenn nicht glücklich, so doch auf jeden Fall still gewesen war, gefiel die zwanzigminütige Fährüberfahrt von Bay Shore auf dem Festland nach Fair Harbor auf der Insel überhaupt nicht. Er bewegte sich kein Stück in der Box, und als Cindy ihn beruhigend streicheln wollte, wich er ihrer Hand aus. Ich glaube, wenn er nicht so unglaublich lieb gewesen wäre, dann hätte er sie vielleicht angefaucht. Aber dieser tragische Level war noch nicht erreicht.
Norton machte es natürlich nur noch schlimmer, weil er das offene Meer (oder zumindest die offene Bucht) sofort so liebte, als sei er irgendwie mit der Popeye-Familie verwandt.
Wie im Van schob er seine Nase sofort an (und durch) die Gitterstäbe oben an seiner Box und machte dadurch mehr als deutlich, dass er raus wollte. Also griff ich erneut hinein, hob ihn heraus und setzte ihn auf meinen Schoß.
Nach ein paar Minuten des Experimentierens fanden wir eine Position, die uns beiden am besten gefiel: Ich legte mein linkes Bein in einem Neunzig-Grad-Winkel über mein rechtes Knie, und Norton saß auf meinem rechten Oberschenkel und legte seinen Kopf auf meinen linken Fuß. (Das ist noch immer seine Lieblings-Reiseposition, obwohl sein Körper jetzt, wo er größer und älter ist, meinen rechten Oberschenkel bis zum linken Knie bedeckt. Da auch ich älter geworden bin und meine Gelenke immer stärker knirschen, ist es für mich nicht mehr so komfortabel. Natürlich bin ich zu gut erzogen, um die Position zu wechseln. Ich lebe sehr viel lieber mit knirschenden Gelenken als mit einem schlecht gelaunten Reisegefährten.)
Außerdem beschloss er nach ungefähr zehn Minuten Überfahrt, dass er das Wasser genauso interessant fand wie die Autobahn. Während ich seine Körpermitte so fest hielt, wie ich konnte, setzte er sich erneut auf meine Schulter und legte die Vorderpfoten auf die Reling der Fähre.
Cindy war ein bisschen nervös, ihn in einer so gefährlichen Position zu sehen, und ich muss gestehen, ich auch. Glauben Sie mir, ich sah mich im Geiste schon auf der Suche nach einem abgestürzten Kätzchen über Bord springen. Aber ich hielt ihn in einem sicheren Griff. Und außerdem hatte ich das untrügliche Gefühl, dass dieses besondere Kätzchen nichts so Unbedachtes und Verrücktes tun würde wie von meiner Schulter in die eiskalte Bucht zu springen. Ich wusste nicht, warum ich so viel Vertrauen in Norton hatte, ich kann nur sagen, dass er es wirklich nie enttäuschte. Ich habe von Anfang an ein bestimmtes Benehmen von ihm erwartet, und er hielt sich fast immer daran. Ich habe Norton in Autos mit geöffneten Türen allein gelassen, in Warteräumen von Flughäfen, während ich eincheckte, auf Restaurantstühlen, während ich zur Toilette ging. Ich kann mich nicht an ein einziges Mal erinnern, wo er weglief oder irgendwo heruntersprang oder sich versteckte.
Wir wurden auf dem Schiff ziemlich schief angeguckt: ein Mann und seine seefahrende Katze. Dann, nach zwanzig Minuten, gingen wir wieder an Land. Wir waren mit einem Taxi, einem Van und einer Fähre gefahren. Wir hatten den Feierabendverkehr, die salzige Gischt und verrückte Sonnenanbeter ertragen. Der erste Teil von Nortons erster richtiger Reise war geschafft.