KATZE_AL9. Kapitel

Die Katze, die nach Los Angeles reiste

SCHMETTE

Eigentlich unterscheiden sich unsere Leben, jedenfalls die derer, die in der westlichen Zivilisation leben, nicht sehr voneinander. Wir sind alle den gleichen Zwängen unterworfen – der Zeit, der Stärke, den Gesetzen, den Erwartungen. In jedem Leben gibt es ganz individuelle Höhe- und Tiefpunkte, wilde Schwankungen zwischen Ekstase und Verzweiflung, großem Triumpf und herben Niederlagen. Aber es gibt auch, wenn man das große Ganze betrachtet, Erfahrungen, die wir alle teilen. Die Höhepunkte, die wir erleben und von denen wir glauben, dass niemand sie jemals wirklich nachfühlen kann, sind Höhepunkte, die jeder erlebt – Liebe, Sex, Erfolg. Die Traurigkeit, die uns auf eine so lebensverändernde Weise einhüllt, dass wir sicher sind, unsere Gefühle seien in ihrer Stärke einzigartig, hüllt uns alle ein – Krankheit, Trennung, Armut, Tod. Es gibt zwei Wege, die man einschlagen kann, nachdem man einen dieser Höhe- oder Tiefpunkte erlebt hat – man kann sich entwe der ganz von der Welt zurückziehen, oder man kann diese Gemeinsamkeit akzeptieren und sie dazu nutzen, mehr über sich selbst und andere zu lernen.

Letztes Jahr erlebte ich zum ersten Mal die alles einhüllende Traurigkeit. Letztes Jahr starb mein Vater.

Meine Mutter rief ein paar Tage vor Thanksgiving an. Sein Lungenkrebs, der einmal bis in seine Hüfte gestreut hatte, aber jetzt schon seit mehreren Jahren ruhte, war wieder ausgebrochen und hatte sich sogar noch weiter ausgebreitet. Er hatte vor kurzem seine Hüfte wie eine Eierschale zerbrechen lassen und durchlöcherte jetzt seinen Rücken. Mein Vater lag wieder im Krankenhaus, die Schmerzen waren unerträglich, und die Ärzte gingen davon aus, dass er nicht mehr lange leben würde.

Norton und ich saßen am nächsten Tag im Flugzeug. Die Stewardessen sagten, vielleicht, weil sie meine Traurigkeit spürten, nichts dazu, dass ich die Katze aus der Box heraus auf meinen Schoß ließ. Norton saß während des gesamten Fluges dort, ließ sich von mir streicheln und leckte manchmal meine Finger mit seiner rauen kleinen Zunge.

Ich erinnerte mich wieder an die Zeit nach Dads erster Operation. Man hatte ihm einen Lungenflügel entfernt. Wir hatten alle schreckliche Angst, was jetzt passieren würde, und Norton und ich flogen ebenfalls nach Hause. Als mein Dad aus dem Krankenhaus kam, hatte er furchtbare Schmerzen. Jeder Atemzug war eine Qual, und er konnte es nur aushalten, wenn er in einem riesigen, hässlichen Fernsehsessel saß, den meine Mutter genau zu diesem Zweck gekauft hatte. Er lehnte sich darin zurück, übte, mit einer Lunge zu atmen, und versuchte, die Qual der gebrochenen Rippen auszuhalten (so gelangen die Chirurgen an die Lunge, durch die Rippen). Aber am meisten erinnere ich mich daran, wie viel Angst mein Vater hatte. Er hatte Angst vor dem Sterben, sicher, aber noch mehr Angst vor den Schmerzen.

Der Sessel stand im Schlafzimmer meiner Eltern, am Fußende des Bettes. Mein Dad lag die meiste Zeit des Tages darin und starrte auf den Fernseher, weil der Schmerz sogar die Konzentration störte, die man zum Lesen braucht.

Er hatte damals schon zwei, vielleicht drei Tage lang in diesem Sessel gesessen und fast nur Angst gehabt. Ich befand mich gerade in meinem Zimmer, vielleicht zehn Meter entfernt, als ich meinen Dad meinen Namen rufen hörte. Es war kein freundlicher Ruf oder ein schwacher, zumindest nicht so schwach, wie er vorher geklungen hatte. Es war ein angsterfüllter Ruf, und ich lief sofort zu ihm.

Als ich ins Zimmer kam, sah ich, wovor mein Vater Angst hatte. Norton kauerte vor seinem Sessel, bereit zum Sprung, den Blick starr auf die Decke auf dem Schoß meines Vaters gerichtet. Sie sah aus wie ein einladender Platz, auf dem er sitzen und sich streicheln lassen konnte – vor allem, da die beiden schon vor langer Zeit gute Freunde geworden waren. Aber auf dem Gesicht meines Vaters lag kein freundlicher Ausdruck. Er hatte Angst, dass Norton auf ihn sprang und gegen ihn stieß, dass er vielleicht sogar direkt auf der langen, gezackten Narbe landen und ihm noch mehr Schmerzen bereiten würde. Mein Vater hatte sogar Angst davor, sich zu bewegen.

Ich erreichte Norton nicht rechtzeitig, um ihn aufzuhalten. Als ich ins Zimmer kam, deutete er meine Anwesenheit offenbar als Ermutigung. Und so sprang er.

Ich erinnere mich noch daran, dass es sich anfühlte, als sei die Zeit stehengeblieben, als bewege sich alles in Zeitlupe. Die Katze flog durch die Luft auf die Brust meines Vaters zu. Mein Vater starrte sie entsetzt an, vielleicht so angsterfüllt wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Natürlich war es schon nach einer Sekunde vorbei. Norton war auf der gepolsterten Armlehne des Sessels gelandet und berührte meinen Vater nicht mal. Mein Dad ließ sich zurücksinken, erschöpft von der Anstrengung, sich so zu fürchten, und Norton setzte sich ganz sanft, so als wöge er nicht mal ein Pfund, auf den Schoß meines Vaters und fing an, ihm die Hand zu lecken. Mein Dad benutzte zitternd seine andere Hand, um meine Katze zu streicheln. Die Farbe kehrte zurück in sein Gesicht, und endlich sah er mich an. Er lächelte – es war kein strahlendes Lächeln, aber es war ein Lächeln – und nickte schwach.

Ich kam eine Stunde später zurück, um nach ihm zu sehen. Mein Vater schlief jetzt, den Kopf in den Sessel zurückgelehnt, sein Körper ganz entspannt. Seine Hand lag noch immer auf Nortons Körper, und Norton lag noch immer eingerollt auf der Decke auf seinem Schoß. Mein Dad wachte auf, als ich ins Zimmer kam, und lächelte erneut. Dieses Mal richtig. Irgendwie sah er nicht mehr so ängstlich aus. Ich glaube, er kam sich ein bisschen dumm vor, weil er solche Angst vor Norton gehabt hatte. Und ich glaube, er war auch erleichtert. Die Möglichkeit des Schmerzes war sehr real gewesen, doch der Schmerz war nicht gekommen. Ich glaube auch, dass meinem Vater erst in diesem Moment wirklich klar wurde, dass es ihm vielleicht bald wieder besser gehen würde, dass ihm zum ersten Mal bewusst wurde, dass er noch nicht sterben würde.

Als ich drei Jahre später bei ihm im Krankenzimmer stand, musste er sterben, und dieses Mal wusste er es.

Mein Bruder Eric und meine Mutter lebten jeden Tag mit diesem Druck, der sie völlig auslaugte, also wurde ich, weil ich gerade erst auf der Bildfläche erschienen war, sofort zur stärksten Person erkoren. Die Entscheidungen, die wir treffen mussten, waren nicht angenehm – wie viele Medikamente sollte er bekommen, wann sollte die Behandlung abgebrochen werden, wann sollte man aufhören zu kämpfen und sich in das Unvermeidliche fügen. Doch nach ein paar Tagen gab es nicht mehr sehr viele Entscheidungen zu treffen. Mein Vater war manchmal klar im Kopf und manchmal verwirrt, aber meistens eher verwirrt. Auf eine makabere Art mussten wir manchmal sogar über die Situation lachen – der endgültige Beweis, dass ich Recht hatte und Sarah nicht: Es gibt keine unangemessene Zeit für Humor.

Einmal stand mein Vater total unter dem Einfluss der Schmerzmittel und war überzeugt davon, dass Pete Maravich im Flur Basketball spielte. (Mein Vater hatte Pete Maravich unseres Wissens nach niemals getroffen; doch Eric meinte, dass es, da Maravich einige Monate zuvor gestorben war, kein gutes Omen sein könnte.) In einem seiner klaren Momente war mein Dad verwirrt über die Halluzinationen, die er an der Wand gesehen hatte – verwirrt, weil sie plötzlich verschwunden waren. »Aber sie waren so schön«, meinte er.

»Endlich«, antwortete ich, »kannst du verstehen, warum Eric und ich in den Sechzigern und Siebzigern all diese vielen Drogen genommen haben.«

»Also das war der Grund«, meinte er. Und dann sagte er: »Aber was ich nicht verstehe, ist, warum ihr wieder damit aufgehört habt.«

Mein Vater wollte nicht im Krankenhaus sterben. Also brachten wir ihn, als wir wussten, dass die Ärzte nichts mehr für ihn tun konnten, nach Hause.

Die Krankenschwester, die sich rund um die Uhr um ihn kümmerte, hatte ein Krankenbett in sein Zimmer gestellt, und dort legten wir ihn hinein. Das Bett stand neben seinem alten Sessel. Während der wenigen Tage, die er zuhause noch lebte, verließ Norton nicht ein Mal diesen Sessel. Er verbrachte den ganzen Tag dort; er schlief dort nachts und leistete meinem Dad Gesellschaft.

Eines Nachts wollte ich ihn bei mir im Bett haben. Es war spät, vielleicht zwei Uhr morgens, und ich brauchte Gesellschaft. Leise ging ich in das Zimmer meines Vaters. Er schlief – zu diesem Zeitpunkt lag er eigentlich schon in einer Art Halbkoma –, und die Krankenschwester las. Norton saß wach auf seinem Sessel und starrte meinen Vater an, als warte er auf ein Wort von ihm, dass er auf das Bett springen und ihn trösten durfte. Das Wort kam nicht, zumindest nicht, während ich dort stand und zusah. Ich nahm Norton nicht mit zurück in mein Zimmer. Ich ließ ihn dort auf dem Sessel und schlief allein weiter. Nur für den Fall, dass das Wort doch kam, dachte ich, dass er besser bereit sein sollte.

Am nächsten Tag starb mein Vater. Es passierte am späten Nachmittag.

Ich war nicht da. Ich war einkaufen gefahren. Irgendwie wusste ich es, als ich in die Einfahrt bog. Als ich den Wagen parkte, kamen mein Bruder und meine Mutter aus dem Haus. Sie weinten. Ich hatte es um wenige Minuten verpasst. Eric war bei ihm gewesen. Eine Minute hatte er im Schlaf noch tief geatmet, in der nächsten hörte er auf zu atmen. Das war alles.

Ich hatte mich schon ein paar Tage zuvor von ihm verabschiedet. Mein Dad war kaum noch bei Bewusstsein. Wenn doch, dann rief er manchmal nach einem von uns oder nach uns allen. Manchmal, wenn die Krankenschwester uns sagte, dass er wach war, gingen wir einfach zu ihm, weil wir nie wussten, ob es vielleicht die letzte Gelegenheit für uns sein würde, mit ihm zu sprechen oder ihm zuzuhören.

Irgendwann sagte mir die Krankenschwester, dass er wach sei und ich noch mal mit ihm sprechen sollte. Sie meinte, ich hätte sonst vielleicht nicht mehr die Chance dazu. Also verließ sie das Zimmer, und ich stand neben meinem sterbenden Vater und hielt seine kalte, klamme Hand. Ich wusste, dass er wusste, wer ich war. Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht mehr sprechen, aber er lächelte und rollte mit den Augen, als wenn er sagen wollte: »Schöne Scheiße, was?«

Ich musste ihm nichts sagen. Wir hatten uns sehr nahegestanden, als er noch lebte – ich meine, wirklich lebte, nicht gerade noch so lebte –, und ich hatte ihm viel gesagt, als es noch wichtig war. Ich musste ihm nicht sagen, dass ich ihn liebte. Er wusste das. Alles, was ich jetzt zu ihm hätte sagen können, hätte gekünstelt geklungen oder melodramatisch oder irgendwie sinnlos. Also sagte ich nichts. Ich hielt nur seine Hand und wartete, bis er wieder eingeschlafen war. Mein Dad konnte es nie haben, wenn Leute zu viel Theater machten. Ich glaube, er wusste das Schweigen zu schätzen.

An jenem Nachmittag kam Janis aus New York. Mein Vater war ganz verrückt nach ihr gewesen und umgekehrt. Sie hatten sich toll verstanden, hatten immer viel miteinander geplänkelt. Er hatte es ihr schwer gemacht, und sie hatte es ihm mit Freuden heimgezahlt. Er wusste es zu schätzen, wenn jemand es ihm schwer machte.

Als sie die Treppe raufkam, saß die ganze Familie am Bett meines Vaters. Er war nicht bei Bewusstsein gewesen, aber als sie hereinkam, regte er sich. Er war immer ein Mann gewesen, der gerne mit Frauen flirtete.

»Dad«, sagte ich, »Janis ist hier. Sie kommt dich besuchen.«

Er hob den Kopf, sah uns alle an, dann fiel sein Blick auf sie. Sie lächelte ihn an. Er sah wieder meine Mutter an, dann meinen Bruder, dann mich – und rollte mit den Augen. Es war ein übertriebenes Rollen, und es war an Janis gerichtet. Das Rollen sagte: »Meine Güte – als wäre das alles nicht schon schlimm genug, und jetzt seht euch an, wer da ist!«

Wir mussten alle furchtbar lachen; selbst mein Vater gab sich alle Mühe zu lachen. Dann schlief er wieder ein und wachte nie wieder auf.

Es hat etwas Tröstliches, dass er mit seiner letzten Handlung in diesem Leben die Leute zum Lachen brachte. Er behielt seinen Sinn für Humor bis zum Ende, und das machte es für uns alle leichter.

Es gab keine gewöhnliche Beerdigung. Stattdessen veranstalteten wir eine Party. So hätte er es gewollt – mein Dad liebte Partys. Er liebte es, Gastgeber zu sein.

Mein Dad war in einer Weingruppe gewesen, und die Mitglieder brachten sehr guten Wein mit, um damit auf ihn anzustoßen. Eines der besten Restaurants in L. A. übernahm das Catering für den Abend. Drei der engsten Freunde meines Vaters hielten Reden, erzählten von ihm. Ihre Reden waren wunderbar lustig. Ich würde sagen, dass trotz der Tränen auf seiner Beerdigung so viel gelacht wurde wie auf jeder Party, die mein Dad jemals gefeiert hatte.

In jener Nacht, nachdem alle gegangen waren und auch Janis schlief, ging ich ins Bad, das Bad, das ich als kleiner Junge benutzt hatte, und brach dort zusammen und weinte. Ich weinte ungefähr eine Viertelstunde lang bitterlich, das Schluchzen schüttelte meinen ganzen Körper. Ich weinte, bis ich erschöpft war, bis ich keine Tränen mehr in mir hatte, keine Gefühle mehr.

Als ich fertig war, blickte ich auf und sah Norton, der neben mir saß und mich anstarrte. Er hatte die Badezimmertür mit der Nase aufgeschoben und war zu mir gekommen.

Ich hob ihn hoch, küsste ihn auf den Kopf und hielt ihn fest, während ich im Bad saß und aus dem Fenster in den Garten starrte. Norton miaute nicht; er leckte mich auch nicht. Er ließ sich einfach von mir festhalten, solange ich wollte. Ich wusste das Schweigen ebenfalls zu schätzen. Ich war auch nicht in der Stimmung für zu viel Theater.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort sitzen blieb. Ich weiß nur, dass es schon fast hell war, als ich wieder ins Bett ging.

Ich streckte mich aus, legte den Kopf auf das Kissen, schloss die Augen und schlief ein. Norton legte seinen Kopf auf mein Kissen und kuschelte sich an meine Brust.

Als ich aufwachte, war ein neuer Tag angebrochen. Viele Dinge hatten sich verändert, aber nicht Norton. Er schlief, immer noch an meiner Seite, immer noch bereit, sich von mir festhalten zu lassen.