_______________KAPITEL 13_______________
Helfen statt hilflos
Ich lag mit meinem Kopf auf Omas Schoß. Sie kraulte mich. Gern und viel. Unermüdlich. Unter der Decke war es herrlich warm. Und so gemütlich. Ich schlief ein. Spürte, dass mich Hände ins Bett trugen. Sichere Hände. Sicheres Bett. Ein riesiges Oberbett aus Federn. Oma schüttelte es groß. Darunter war es kalt. Aber dann ... diese herrliche Wärme. Schlafen. Nur noch schlafen.
Felix wusste nicht mehr weiter. Setzte mich an den Küchentisch. Machte Mia fertig. Beruhigte das Kind. Nahm sie mit. Übernahm ihr Leben. »Ich rufe dich gleich an. Hörst du, Christine.« Fester Griff an beiden Schultern. »Ich rufe dich gleich an.« Diese Güte in seinen Augen. Diese nicht enden wollende, unendliche Güte. Messer in der Hand. Ein Brotmesser. Güte. Unendliche Güte. Messer wieder weg. Schuld. Große Schuld. Die Tür schlug zu. Frieden. Ich ging wieder ins Bett. Schlief. Weinte. Schlief. Träumte schlecht. Schwitzte. Beißender Geruch von Schweiß. Ich wachte auf. Ging zur Toilette, wechselte das T-Shirt und weinte. Diese Träume. Diese schrecklichen Träume. Ich war so schlecht. Ich war unglaublich schlecht. Ich war das Schlechteste auf dieser weiten Welt.
Den Satz »Ich liebe dich« hatte ich Oma nie gesagt. Ich hatte ihr nie gesagt, wie sehr ich sie liebte. Oma. Wusste sie, wie sehr ich sie liebte? Panik überfiel mich. Ich hatte es versäumt, ihr zu sagen, wie sehr, wie aufrichtig, wie tief ich sie liebte. Oma. Ich wollte zu Oma. Jetzt war es zu spät. Ihr Sarg. Schön war er. Oma hatte einen guten Geschmack. Schöne Blumen auf dem Sarg. Oma hatte sie sich selbst ausgesucht. »Asche zu Asche. Staub zu Staub.« Da stand ich nun. Vor mir der Abgrund.
»Christine. Wach auf. Ich habe uns Pommes geholt. Lass uns essen. Gemeinsam essen. Mia wartet auf dich. Mia wartet auf ihre Mama. Steh auf!« Starke Hände zogen mich aus dem Bett. Wir saßen am Küchentisch. Mia plapperte fröhlich. Machte Blödsinn und hörte gar nicht mehr auf, Blödsinn zu machen. Ständig schlug dieses Kind über die Stränge. Wusste nie, wann es endlich reichte. Wann es Zeit war, aufzuhören. Nie. Hörte nie auf. Es hörte nie auf. ... Mir fiel der Kopf auf die Tischplatte. Vor Müdigkeit. Vor Erschöpfung. Schlafen. Ich wollte nur noch schlafen. Felix räumte ab. Spülte. Warf die Pommes-Schälchen, das Knisterpapier und die Alufolie mit den Ketchupresten in den Müll. Ließ mich am Tisch sitzen und badete Mia. Spielte mit Mia. Herzte Mia. Brachte Mia ins Bett. Brachte mich ins Bett. Trug mich ins Bett und legte mich sanft nieder. Deckte mich zu. Schaute mich lange an. Unendlich lange. Weinte und streichelte mein Haar. Wie Oma.
Eine freundliche Hand auf meiner Schulter. »Hier, bitte. Sie müssen jetzt Abschied nehmen, Frau Al-Farziz. Nehmen Sie Abschied. Bitte.« Ich schaute den Pastor an. Ein netter Mensch. Freundliche Augen. Mitfühlender Blick. Ich hatte eine kleine Schaufel in der Hand. Wie früher. Schäufelchen. »Christine!
Nein, nein, mein Kind.« Oma versetzte mir einen freundlichen Nasenstüber. »Das sind die Tulpenzwiebeln. Du brauchst die Tulpenzwiebeln nicht aus der Erde zu graben. Die wollen doch wachsen. Hier. Das da. Das grüne Gestrüpp. Das ist Unkraut. Das muss da raus. Dann haben die Tulpen Platz und können wachsen.«
Am nächsten Tag fuhr ich zum Polizeiarzt. Keine Ahnung, warum. Ich wollte zu IHM. Zu keinem anderen Arzt wollte ich. Nur zu ihm. Er gehört zum PTSD-Team. Das sind speziell geschulte Polizeiärzte, die in ganz Nordrhein-Westfalen parat stehen, wenn Kollegen ein schreckliches Erlebnis hatten. Nach Schusswaffengebrauch. Nach tödlichen Verkehrsunfällen. Nach allem, was uns Polizisten schwer zusetzt. Was auch wir, bei aller Routine, nicht einfach verkraften. Was uns belastet. Was uns verfolgt. Im ganzen Land gibt es sie. Wenn die Zentrale ruft, dann erhebt sich »Hummel«, der Polizeihubschrauber, binnen weniger Minuten in die Luft. »Hummel« sammelt einen dieser Polizeiärzte ein, und »Hummel« düst zum Einsatzort. Egal wohin. In ganz Nordrhein-Westfalen. Man lässt uns nicht allein.
»Wie geht es Ihnen, Frau Birkhoff? Sie wollten dringend einen Termin? Schießen Sie los. Was kann ich für Sie tun?« Der Doc schaute hoch. Ich nenne ihn hier »den Doc«. Er wird wissen, wer gemeint ist. Der Doc schaute mir in die Augen. Große braune, unendlich traurige Augen. »Wissen Sie was?« Eine kurze Geste. Seine Hand auf meiner Schulter. »Ich mache mal die Tür zu. Ich glaube, wir brauchen länger. Ich habe alle Zeit der Welt.« Er stand auf. Er war stark. »Frau Grüne? Frau Grüne, sagen Sie bitte alle Termine ab. Jaja. ALLE. Nein. Ich habe jetzt keine Zeit mehr. Ich bin jetzt nur noch für die Kollegin Birkhoff zu sprechen. Danke, Frau Grüne.«
Mein Doc. Schloss die Tür, kam zurück, setzte sich vor mich. Genau vor mich. Legte seine Hand auf mein Knie. Nette Geste. Beruhigend. Nah. Vertraut. Ich flennte. Ich heulte. Ich erzählte und erzählte und erzählte. Froh, dass ich hier war. Froh, dass ich bei der Polizei war. Froh, dass ich Polizistin geworden war. Polizistin. Jürgen hatte das bezahlt. Ausgerechnet Jürgen. Aber noch nicht genug. Er hatte noch nicht genug bezahlt. Da täuschte er sich. Ich war froh, dass ich endlich bei diesem Doc war. Ich erzählte, was mir zu erzählen möglich war. Von Jürgen. Von meinem Vater. Von meiner Mutter. Vom Geschlagenwerden. Vom Getretenwerden. Vom Benutzt- und Missbrauchtwerden. Von Felix. Von Mia. Von den Pferden.Von den vielen toten Pferden. Dass alles umsonst war. Die ganze Arbeit. Die ganze Hoffnung. Ich erzählte von dem blöden Kollegen, der mir zugesetzt hatte, und von den lieben anderen Kollegen. Von denen, die sich Sorgen machten um mich. Von den vielen Kollegen, die mich mochten, die mich gernhatten und die endlich wieder mit mir lachen wollten. Es waren überraschend viele Kollegen. Ich stellte es fest, damals, als ich dem Doc so viel erzählte. Seine geschickten Fragen, die mich immer wieder behutsam dazu brachten, auch die positiven, die gegenwärtigen, schönen Dinge zu erzählen. MEINE Kollegen. MEINE Polizistenkollegen. MEINE Jungs. MEINE starke Truppe.
»Sie müssen mir helfen. Bitte Doc, Sie müssen mir helfen. Ich schaffe das nicht. Nicht alleine. Wo soll ich anfangen? Was soll ich tun? Ich habe das Fluoxethin weggeworfen. Ich will das Zeug nicht mehr.«
Der Doc, MEIN Doc, er gab mir Kraft. Er gab mir ungeheuerlich viel Kraft. In den zweieinhalb Stunden dieses Gespräches war mir, als hätte jemand wieder einen Schlauch an mich angedockt. Doch dieses Mal, da wurde Kraft in meinen Körper gepumpt.
»Sie sind Kollegin, Frau Birkhoff! Polizistin! SIE wissen doch, was man mit solchen Tätern macht? WERDEN Sie Polizistin. In eigener Sache. Ziehen Sie diese Leute zur Rechenschaft. Sie können das. Ich weiß das.«
Ich weinte. Ich beweinte mich selbst. Beweinte mein Schicksal. Beweinte meinen Weg. Meinen Weg bis hierher und meinen Weg, der noch vor mir lag. Ein Weg, der schwierig, dornig, mühsam sein würde. Sehr mühsam. Ich spürte das. Ich ahnte das. Erzählte wieder. Von meinem Gefühl. Von der Leere. Ich war nicht mehr Ich. Ich war nicht mehr Mensch. Ich war nicht mehr Frau. Mein Doc verabschiedete mich. Schickte mich los. Ins Kriminalkommissariat. Zu den Kollegen und Kolleginnen, die wussten, wie das ging. Zu den Fachleuten. Zu den Spezialisten. Die letzten Sätze meines Docs. Ich hatte sie tief inhaliert und versuchte, mich an ihnen festzukrallen.
Der Doc hatte mich an beiden Schultern gehalten. »So mein Mädchen. Jetzt hören Sie mir mal gut zu: Ich höchstpersönlich, ich ›der Doc‹, werde dafür sorgen, dass Sie sich wieder so fühlen, wie Sie es verdient haben. Dass Sie sich so fühlen, wie Sie sind: eine schöne, attraktive und starke Frau. Eine, die man gern anschaut. Gern. Merken Sie sich das gut! Ich gebe Ihnen mein Wort. Ich verspreche es Ihnen hier und heute! Verlassen Sie sich darauf!«
Ich nickte. Ich ging. Schleppte mich nach oben. Ins Präsidium.
Der Kommissariatsleiter war schon vorbereitet. Empfing mich nett. Ich wurde schon erwartet. Ein schönes Gefühl. Und wieder weinte ich. Weinte und weinte und erzählte. Der Kommissariatsleiter. Ein Kerl wie ein Baum. Ein Mann wie ein Bär. Jeans. Cowboystiefel. Schaustellertyp. Einer, dem man nicht im Dunklen begegnen möchte. Ein Mann, der es locker mit Jürgen aufnehmen konnte. Ein Mann, vor dem selbst Jürgen in die Knie gehen würde. Vor dem meine Mutter Angst bekommen würde. Den mein feiger Vater eher um Gnade anflehen würde.
»Ich hole für dich mein bestes Pferdchen aus dem Stall. Warte ab, bis du sie kennen lernst. Die Kollegin ist spitze. Unschlagbar! Sie kommt gleich!«
Diese Sprache verstand ich. Diese Sprache kam gut bei mir an. Motivierte mich. Gab mir wieder Kraft. Die Schlacht hatte begonnen. Sie hatte endlich begonnen.
Felix war erleichtert. Merkte, dass sich da etwas tat. Dass Bewegung in die Sache gekommen war. Dass ich mich bewegte. Und Felix hoffte. Hoffte auf bessere Zeiten und hoffte, dass nun alles gut werden würde. Mein unwissender Felix. Und ich, seine unwissende Frau. Wir beide waren ahnungslos, wussten nicht, dass das SO einfach nicht war. Dass das viel schwieriger werden würde. Kaum zu schaffen.
Ich arbeitete weiter. Ich bestand darauf. Der Doc zierte sich. Ich setzte mich durch. In fünf Wochen würde ich in die Klinik fahren. In eine psychosomatische Klinik. Eine Rehaklinik. Eine Spitzenklinik. Der Doc hatte mir von dieser Klinik vorgeschwärmt. Nein, nein, so hatte er mich beruhigt. Keine Klinik mit lauter Durchgeknallten. Keine »geschlossene Klinik«. Keine Psychiatrie. Das war mir wichtig. Das war mir ungeheuerlich wichtig. In meinen Gedanken verband ich »Psychiatrie« immer mit »Das warʼs!«. Wenn du da hinkommst, Christine, dann ist Feierabend, hatte ich mir immer gesagt. Das wäre der GAU! Mein GAU! Das Auffanglager der Unkalkulierbarkeit. Der nicht mehr Zurechnungsfähigen. Der Leute, die nicht mehr fähig waren, sich selbst Grenzen zu setzen. Ab in die Klapsmühle!
Nein, nein, hatte mich der Doc beruhigt. Ich würde überraschend viele Kollegen dort treffen. Leute wie ich. Die nicht durchgedreht waren, sondern die wie ich am Ende ihrer Kräfte waren. Die in irgendeiner beschissenen Lebenssituation in die Knie gegangen waren. Wie ich. Die einfach mal eine helfende Hand brauchten. Wie ich. Polizisten. Helfer. Helfer, denen geholfen werden musste. »Es ist keine Schande, wenn man irgendwann in seinem Leben mal an einen Punkt kommt, an dem man nicht mehr weiterkann. Aber es ist eine Schande, wenn man das erkennt und dann liegen bleibt!« Mein weiser Doc.
Ich musste ihm hoch und heilig versprechen, dass ich mir sofort eine Therapeutin suchte. Sofort. Dass ich die Wochen bis zur Klinik überbrückte. Dass ich nach der Klinik sofort weitermachte mit der Therapie. Dass ich ihn anrufen würde, wenn es zu schwierig würde. Sofort und unverzüglich. Meine Jammerei hatte ihn überzeugt. Ich wollte nicht zu Hause bleiben. Ich wollte nicht bei Mia bleiben. Ich wollte nicht bei Felix bleiben. Ich wollte arbeiten. Ich wollte die Uniform anziehen. Sehen und fühlen, dass ich Polizistin war. Wollte meine Kollegen. Meine starken Jungs. Wollte die, die beherzt zupackten, die Entscheidungen trafen, die agierten und nötigenfalls zuschlugen, die wollte ich an meiner Seite spüren. Nicht Felix. Nicht diesen Schwächling. Der nichts tat. Der mich immer nur belämmert ansah. Der auch Schuld hatte. Der mich bitten und flehen ließ. Der nie wirklich zu mir stand. Der illoyal war. Unzuverlässig. Nichtstuend.
Die Vernehmungen waren grauenvoll. Patrizia gab sich Mühe. Unglaubliche Mühe. War lieb. Einfühlsam. Machte ihren Job professionell. Gewissenhaft. Bis ins Detail. Jedes noch so schreckliche Detail. Patrizia trocknete meine Tränen. Machte Pausen mit mir, wenn ich nicht mehr konnte. Ich qualmte ihr die Bude voll. Sie war Nichtraucherin. Die Arme. Ich hatte Tagebuch geschrieben. Seit meinem zwölften Lebensjahr. Bis Afrika. Also genug Stoff. Genügend Beweise. Stundenlang saß ich bei Patrizia im Büro. Ihre Professionalität half mir. Sie machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Wann immer sie Zusammenhänge erkannte, die mir völlig zusammenhangslos erschienen, schüttelte sie energisch den Kopf: »Hast du wirklich niemals geschnallt, dass Jürgen dein Tagebuch ständig gelesen hat? Nicht ein Mal. Ständig. Täglich. Da hat es dir auch nix genutzt, dass du es versteckt hast. Irgendwann hat er es wiedergefunden. Ich zeig dir die Stellen, die ich meine.«
Wir blätterten und blätterten. Schlugen Seiten zurück und wieder vor. Patrizia hatte Recht. Mit meinen Tagebüchern hatte ich Jürgen die »Gebrauchsanweisung« geliefert. Er konnte lesen, wann, wie, wo und mit wem ich meine ersten sexuellen Fantasien hatte. Konnte in Ruhe abwarten, bis er meinte, dass »sein Früchtchen reif war«. Konnte im passenden Moment zuschlagen, nämlich dann, als ich den mir verhängnisvollen Satz in mein Tagebuch geschrieben hatte: »Ich träume in letzter Zeit öfters, wie ich mit einem Jungen schlafen möchte.«
Jürgen setzte meine kindlich-naiven Bravo-Fantasien, meine ersten zarten erotischen Träumchen, brutal, rücksichtslos, gezielt und unausweichlich in die Realität um. Ich war vierzehn, hatte noch zwei Milchzähne, keinen Busen, keine Periode, keine nennenswerten Erfahrungen und, das Schlimmste: KEINE WAHL. Ich hatte einfach nur geträumt. Nicht mehr und nicht weniger. Einfach nur geträumt. Als Kind wunderte ich mich immer, dass dieser Mann so viel wusste. Dass er zum perfekten Zeitpunkt, wenn ich gerade von Greg geträumt hatte, über Greg herzog und mich verletzte. Dass er genau im richtigen Moment im selben Wortlaut über meine Mutter schimpfte, wie ich es am Abend zuvor in mein Tagebuch geschrieben hatte. Dass er wusste, wann ich mit wem meine erste verbotene Zigarette geraucht hatte und welche Partys mir besonders am Herzen lagen. Welche Jungs ich nett fand, und warum ich sie nett fand. Er kannte meine geheimsten Wünsche und erfuhr so auch, wann ER in Gefahr war, wann ER wieder nett und lieb sein musste. Wie verhext war das damals.
Ich schrieb in mein Tagebuch: »Auch Jürgen versteht mich nicht mehr«, und schon mimte er den verständnisvollen Zuhörer. Er hatte gelesen, dass Dana, Anka, Gitta und Carla offenbar meine Zuhörerinnen waren, und zog meine Freundinnen gezielt in den Dreck. Bei meiner Mutter lästerte er über die Mütter meiner Freundinnen ab, obwohl er diese gar nicht kannte. Aber selten war das, was er informell als Fakten schilderte, die Unwahrheit.
Die Informationen dafür hatte er auch aus meinem Tagebuch. Jürgen war mir als Übermacht erschienen. Als eine Übermacht, die alles wusste, alles kannte, alles regelte.
Ich war fünfunddreißig Jahre alt, Polizistin und Mutter, als ich begriff, dass Jürgen damals eine Übermacht war. Dass er mir nicht nur so erschien als Kind, sondern dass er es tatsächlich war. In maliziöser Absicht hatte er manipuliert. Nicht nur die Personen, sondern auch die Geschehnisse. Manipulieren heißt »steuern«. Wir benutzen dieses Wort dann, wenn wir von einer nichtsichtbaren, nichterkennbaren, nichtdurchschaubaren Steuerung sprechen. Zur Manipulation gehört, dass nur einer das Ziel kennt. Der, der manipuliert, kennt das Ziel. Die anderen latschen mit. Haben keine Ahnung, dass ihre Denkart, ihr Handeln, ihr Reden, ihre Gefühle von anderen Kräften gesteuert werden. Man schlägt die Richtung ein, die einem vorgegeben wird, und meint, dass man die Richtung selbst bestimmt hat. Merken Sie sich das gut: Nur der Täter kennt das Ziel. Nur der Täter.
Patrizia tat mir gut. Ihre Art der Vernehmung tat mir gut. Wir waren Kolleginnen. Kannten uns beide aus mit Ermittlungen. Patrizia band mich ein in die Ermittlungen. Munterte mich auf, zu recherchieren, Fragen zu klären, Knoten zu entwirren. Und irgendwann musste auch ich erkennen, dass alles das kein Zufall war. Dass es auf dieselbe Weise gelaufen war, wie wir es zigfach in der Fachliteratur nachlesen können. Wie es Ärzte, Therapeuten, Ermittlungsbeamte, Frauenhäuser und Institutionen wie Wildwasser schon seit Jahren der Öffentlichkeit beizubringen versuchen: KEINE ZUFÄLLE. Jürgen kannte meine Mutter seit ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Er gehörte zum Bekanntenkreis meiner Eltern. Fuhr damals schon Jaguar, verdiente ein Schweinegeld, baute ein Imperium auf. Er war verheiratet, hatte zwei Söhne. Er hatte Macht. Er beobachtete den Werdegang meiner Mutter genau. Sah zu, wie sie unterdrückt wurde. Sah genau zu, wie sie die brutalen Übergriffe des Vaters auf die eigene Tochter duldete, sah zu, wie sie schlimmste Verletzungen ihres Kindes kaschierte, Taten verdeckte, meinen Vater deckte. Er analysierte, dachte nach, begriff. Der Hass dieser Frau auf ihre eigene Tochter. Die Tochter als Opferlamm. Die Tochter als Preis. Er testete an. Prüfte sorgfältig. War diese Frau beeinflussbar? Waren da Stärken, von denen er nichts wusste? Begehrte sie auf? Hatte sie Rückgrat? Loyalität zu sich selbst? Zu anderen Personen? Zu ihrem Kind? Die wichtigste Frage aber war: Konnte er diese Frau steuern? Konnte er diese Frau manipulieren?
»Wenn du deine eigene Geschichte mal von außen beleuchtest, dann siehst du das, was ich sehe. Der Kerl hinterlässt nur Leichen. Pass auf: Der kennt deine Eltern, kriegt das ganze Theater mit. Irgendwas stimmt da auch mit der Ehefrau nicht. Keine Ahnung. Halten wir uns an die Fakten. Also, der kriegt mit, dass deine Mutter abhauen will. Verständlicherweise. Dann schaltet er sich ein. Spielt den Retter. Beginnt ein Verhältnis mit deiner Mutter. Du bist hier, an dieser Stelle schon, mitten drin in der Manipulation.« Patrizia warf sich die langen Haare zurück. Sie war völlig in ihrem Element. Kriminalhauptkommissarin. Wahnsinn. Drei silberne Sternchen. Ich hatte zwei grüne. »Hörst du mir zu? Kannst du folgen?«
»Ja sicher kann ich folgen. Mach weiter. Ich will das begreifen.«
Hektisch blätterte Patrizia in meinen Tagebüchern. Sie zerrte Textpassagen heran, die ich völlig unwichtig fand, die aber wichtige Puzzleteilchen darstellten. Ohne Patrizia hätte ich überhaupt nichts begriffen. »Hier. Diese Stelle zum Beispiel. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum er nicht eher an dich rangegangen ist. Immerhin warst du in seiner unmittelbaren Nähe. Und jetzt kommtʼs. Hier stehtʼs:
»›Jürgen ist gestern wieder nach Wiesbaden gefahren. Immer wenn er nach Wiesbaden fährt, kauft er ohne Ende Geschenke. Für Simone. Seine Nichte ist das wohl. Mama hat ihm eine Szene gemacht, weil sie wieder nicht mitdurfte ...‹
Verstehst du, Christine. Er hätte doch eigentlich deine Mutter mitnehmen können, oder?«
Das stimmte. Patrizia hatte wieder mal Recht. Es würde interessant sein, herauszufinden, was diese Simone so machte.
»Hör mal, Patrizia. Sollten wir nicht mal nach Simone forschen? Ich meine, wenn ich nicht die Einzige war, dann müsste sie doch auch vernommen werden, oder?«
»Hab ich schon angeleiert. Die Kollegen in Wiesbaden wissen Bescheid. Die rufen an, sobald sie was wissen.«
Wir dröselten auf und ermittelten. Die Polizeiberichte aus Düsseldorf waren angekommen. Es stimmte, was ich über Norbert erzählt hatte. Er war immer wieder in der Psychiatrie. Schizophren. Manisch. Psychotisch. Wenn er wieder draußen war, rannte er über die Düsseldorfer Königsallee und drückte den verdutzten Passanten Tausendmarkscheine in die Hand. Nackt hielt er den Verkehr auf der dreispurigen Straße an und schrie: »Ich bin Jesus. Der Heiland. Euer Retter. Haltet an. Kehrt ab von diesem Weg. Nehmt dies zu meinem Gedächtnis!« Und wieder verteilte er die Geldscheine. Die Berichte dokumentierten einen Leidensweg mit verheerenden Folgen. »Der is nicht mehr. Hier. Sieh selbst. ʼ94 abgemeldet. Vermerk: Verstorben. Das WIE werden wir nicht erfahren. Jedenfalls gibtʼs keinen Polizeibericht.« Patrizia zuckte mit den Schultern.
»Und die anderen? Was ist mit der Tochter von Norbert? Oder mit der Ehefrau?«
Patrizia seufzte. »Auch nichts Besonderes: Tochter laut Einwohnermeldeamt ʼ94 nach unbekannt verzogen; ist sofort weg, als der Vater starb; Mutter immer noch wohnhaft in Waldstadt, keine Einträge. Absolut unauffällig.«
»Und Julia? Meine Nachfolgerin. Die, mit der er beim Konzert der Kelly Family war?«
»Auch schon überprüft. Ich hab sie gefunden. Aber ich hab ein blödes Gefühl. Was ist, wenn sie ihn warnt? Sie studiert. Wer weiß, vielleicht finanziert er ihr Studium? Dann wird sie bestimmt nicht den Mund aufmachen. Ich halte das für zu gefährlich. Im Moment jedenfalls. Später kann man das immer noch nachholen. Die läuft uns nicht weg. Aber jetzt mal im Ernst, Christine: Julia war nicht deine Nachfolgerin. Jedenfalls nicht direkt. Du glaubst doch nicht, dass der Kerl von 1983 bis 1995 die Füße stillgehalten hat? Zwölf Jahre lang? Der? Niemals. Das ist ʼne lange Zeit. Viel zu lange für so einen. Mal schauen. Vielleicht kann uns diese Simone aus Wiesbaden weiterhelfen.«
Als ich das nächste Mal zu Patrizia kam, war ich gespannt.
»Eine Menge Neuigkeiten habe ich für dich«, hatte sie gesagt. »Ich hab da zwei Nachrichten, die aber ganz schön heftig sind. Bist du startklar?«
»Jaja. Nun mach schon.«
Patrizia holte tief Luft. »Aaaaalsoooo: Fangen wir mit dieser Simone an. Vater: Kriminalbeamter a. D. Suizid im Jahr 1990. Mutter: Laut Einwohnermeldeamt gestorben im Jahr darauf. Und Simone ... Tja ... Simone, 1966er Jahrgang, ab 1981 dann die ersten Einträge. Wann hat er bei dir angefangen?«
»Weihnachten 1979. Wieso fragst du? Steht doch alles im Protokoll.«
»Warte. Ich muss nachdenken. Das macht Sinn. Das macht verdammt viel Sinn. Mit dir hat er angefangen und Simone fallen gelassen. Das hat die nicht geregelt bekommen. Ist heftig. Hörʼs dir an: 1981 Verstoß BtmG; Zusatz: BtmK; wieder 1981 Körperverletzung; dann 1983 Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte; 1984 Suizidversuch; Zwangseinweisung nach Psych-KG; wieder 1984 neuer Zusatz: Prosti; 1985 Opfer einer gefährlichen Körperverletzung; 1986 Suizidversuch, Verstoß BtmG, Zwangseinweisung nach PsychKG; seit 1987 in einer Nervenheilanstalt. Ich hab da schon angerufen. Ist zwecklos. Die kommt da nie wieder raus. Völlig neben der Kappe. Damit wären wir am Ende.«
Ich war sprachlos. Völlig verstört saß ich auf meinem Stuhl in Patrizias Büro. »Ich glaubʼs nicht. Ich fasse es einfach nicht. Dieses Schwein.«
Patrizia nickte. »Da ist ein ganz großer Kelch an dir vorübergegangen, findest du nicht auch? Wie ich schon sagte, der Kerl zieht eine ganze Spur von Leichen hinter sich her. Und findet sich vermutlich noch toll dabei.«
Wir machten eine Pause. Ich brauchte dringend einen Kaffee. Und wieder eine Zigarette. Das Puzzle fügte sich zusammen. Norbert, Margot, die Schwester von Jürgen, der Kriminalbeamte, Simone, Julia ... und ich. Christine Birkhoff. Die Polizistin. »Er hat meine Ausbildung mitfinanziert, Patrizia. Ich habʼs dir nicht erzählt. Ich schäme mich dafür. Und ich bin mir sicher, dass er auch Julias Studium finanziert. Die Mutter ist Kollegin von meiner Mutter. Lehrerin an der Realschule gleich neben der Grundschule. Die hatte seit der Scheidung keine Kohle mehr. Bestimmt zahlt er es. Er zahlt gern Schweigegeld. Was meinst du, wie viel seine Ehefrau jeden Monat bekam? Meine Mutter hat sich immer tierisch darüber aufgeregt.«
Patrizia schlürfte ihren Kaffee und schaute nachdenklich über den Rand ihres Kaffeebechers. »Genau SO wird es sein. Ich frage mich, wie man mit einer Firma so viel Geld machen kann. Ist schon komisch. Übrigens, das mit dem Schämen lass mal sein. Das war noch viel zu wenig. Aber selbst wenn er dir Millionen gegeben hätte ... Du siehst ja, was mit den anderen passiert ist. Bezahlen muss er eh noch. Da werden wir für sorgen. Und verlass dich drauf! DER bückt sich im Knast nicht nach der Seife.«
Ich lachte. Musste unwillkürlich lachen.
»Ich habe da noch etwas für dich. Und dann machen wir Schluss für heute. Das langt dann. Das Krankenhaus hat geschrieben. Ich habe lange überlegt, ob ich ʼs dir sagen soll. Aber vielleicht hilft es dir weiter. Für die Therapie. Deshalb erzähle ich dir das. Die haben nicht nur geschrieben, sondern auch noch Mikrofiche-Dateien mit deinen Röntgenbildern geschickt. Da hatten wir gar nicht mehr mit gerechnet. Über dreißig Jahre alt. Die Aufbewahrungsfristen sind gar nicht so lange. Naja. Jedenfalls haben sich die Kollegen vom Kommissariat Tötungsdelikte deinen Fall gekrallt. Die wollten gegen deinen alten Herrn Anzeige erstatten und ermitteln. Wegen versuchten Totschlags. Wird aber leider nix draus. Verjährt nach fünfundzwanzig Jahren, gerechnet vom Zeitpunkt der Tat an. Im Gegensatz zu Mord. Der verjährt nie. Aber dann wärste ja jetzt nicht hier!«
Wir lachten. Polizeihumor. Typisch.
»Die Auswertungen der Röntgenbilder, willst du die wissen?« Mir wurde schlecht. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Doch, doch. Wenn, dann will ich alles hören!«
»Ich habe noch mal im Protokoll geblättert. Du erzählst da, dass du drei oder vier Jahre alt warst, als du das erste Mal ins Krankenhaus musstest. Das stimmt nur insofern, als dass du in dem Alter tatsächlich dort warst. Ist aber nicht alles. Es fing schon früher an. Die ersten Röntgenbilder sind vom März 1967, da warst du anderthalb Jahre alt. Die Diagnose erzähle ich dir nicht. Ich habe im Krankenhaus angerufen. Der Typ von der Aktenhaltung war völlig fertig und fragte mich, ob du noch lebst. Ich musste ihn erst mal beruhigen.«
Mir dämmerte etwas. Die Schmerzen. Die unerträglichen Schmerzen. Nachts. »Patrizia!« Meine Stimme klang schrill. »Patrizia, steht da drin ... ich meine ... weißt du, WAS alles geröntgt wurde?«
»Und ob. Willst du das wirklich sooo genau wissen?«
»Ich MUSS! Aber warte. Ich zähle es dir auf. Sag mir nur, obʼs stimmt! Bitte. Es ist wichtig für mich!«
Patrizia nickte, und ich zählte auf: »Mein Kopf, mein Brustkorb, meine Schultern, meine Handgelenke, meine Kniegelenke, meine Fußgelenke. Das warʼs. Oder?« Patrizia schüttelte den Kopf: »Das Nasenbein fehlt noch. Ist hier extra aufgeführt. Ansonsten perfekt. Du hast alles aufgezählt. Hier stehtʼs: Schädel, Thorax, Schultern und so weiter ... Alles aus dem März 1967. Unglaublich! Woher weißt du das? Kein Mensch könnte sich daran erinnern. Geht doch gar nicht. Das Erinnerungsvermögen fängt frühestens mit drei, vier Jahren an.«
Ich erzählte Patrizia von meinen Schmerzen in der Nacht.
Gespannt hörte sie zu. »Unglaublich!«, sagte sie. »Phantomschmerzen! Ich habe neulich noch einen Bericht gelesen, da stand drin, dass das Schmerzgedächtnis das erste ist, das sich zu Wort meldet. Der Köper kann sich das merken und jederzeit abrufen. Bei traumatischen Geschichten zum Beispiel. Ist ja echt Wahnsinn. Und jetzt sitzt du hier vor mir und erzählst mir genau DAS. Man lernt nie aus.« Patrizia war sichtlich beeindruckt. Fachfrau durch und durch. Eine tolle Kollegin. Manchmal vergaßen wir, dass es um mich ging. Aber das war gut so. Für die Vernehmungen und die ersten Ermittlungen war es wirklich gut so. Wir waren am Ende angekommen. Hatten für die gesamte Vernehmung zweiundvierzig Stunden zusammengesessen. Auf sechsundfünfzig Seiten war mein Schicksal dokumentiert. Bis zu den heutigen Auswirkungen. Sechsundfünfzig Seiten, die nun zur Staatsanwaltschaft gehen würden.
Zwei Sitzungen hatte ich währenddessen bei der Therapeutin. Sie war Verhaltenstherapeutin. Ob ich mit ihr dauerhaft zusammenarbeiten konnte, wusste ich noch nicht so genau. Es ging mir nicht sonderlich gut. Meine Kräfte verließen mich. Ich stürzte wieder ab. Langsam und unaufhaltsam. Mit jeder Woche und jeder neuen Erkenntnis ein Stückchen mehr. Felix war für mich gestorben. Ich konnte ihm nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr abgewinnen. Wir sprachen nicht mehr miteinander. Und Mia? Ich war froh, wenn sie in der Kita war. Auch ihr, meiner eigenen Tochter, konnte ich nichts mehr abgewinnen. Noch zwei Tage, dann würde ich ohnehin in die Klinik fahren. In drei Wochen würden wir dann weitersehen. Bevor ich meine Koffer packte, musste ich noch zur Rechtsanwältin. Kollegen hatten sie empfohlen. In dieser Kanzlei wurden beide Seiten verteidigt. Die Missbraucher. Und die Opfer. Die Rechtsanwälte in dieser Kanzlei wussten, wie es läuft. Makaber. Aber gar nicht mal schlecht. Um zwanzig Uhr sollte ich da sein und sämtliche Unterlagen mitbringen, die ich hatte. Insbesondere die Tagebücher. Die Rechtsanwältin war eine sympathische, lebhafte Frau in meinem Alter. Herzlich begrüßte sie mich. »Haben Sie alles mit? Prima. Wir verstauen das Ganze im Safe. Hier ist es sicher aufgehoben!« Sie erklärte, dass ich nicht der erste Fall wäre, bei dem unter mysteriösen Umständen solche Beweismittel verschwinden würden.
»Und ich dachte, das gibtʼs nur im Fernsehen?« Ich staunte nicht schlecht.
»Ein plötzlicher Einbruch, und schon ist alles weg. So einfach ist das. Aber das soll nicht passieren.« Sie zwinkerte mir zu. »Hauptsache, die Verfahren werden nicht getrennt. Die Tat an ihrem dreißigsten Geburtstag wäre ohne die ersten Taten aus Ihrer Kindheit und Jugend so nicht möglich gewesen. Ich hoffe, dass unsere Staatsanwaltschaft das begreift. Wenn die das Verfahren auseinanderreißen, wegen der zwei Tatortzuständigkeiten, sehe ich schwarz. Dann käme erst die Erzwingungsklage auf Zusammenlegung beider Verfahren. Vor der Generalstaatsanwaltschaft. Gewinnen wir das, wären wir schneller vorm OLG. Was wiederum gar nicht so schlecht wäre. Mal schauen.«
Verständnislos schaute ich meine Rechtsanwältin an. Ich war selten begriffsstutzig, aber jetzt verließ mich meine Auffassungsgabe.
»Ich erklärʼs Ihnen nächstes Mal. Die Unterlagen sind hier, das war jetzt das Wichtigste, und Sie fahren jetzt zur Therapie. Kopf hoch! Sie schaffen das schon! Ich zähle auf Sie. Sie MÜSSEN das schaffen!« Ein herzlicher Händedruck, dann war ich auch schon wieder weg.
Die psychosomatische Klinik erwartete mich. Ich bezog ein wunderschönes Apartment mit eigenem Bad und fühlte mich wie in einem Hotel der guten Mittelklasse. Hier konnte man es aushalten. Sehr gut sogar. Ich würde sieben Wochen bleiben. Als ich ankam, hatte ich mit drei Wochen gerechnet. Die Therapien waren unterschiedlich. Gestaltungstherapie. Einzelgespräche. Qigong. Atemgymnastik. Gruppengespräche. Sogar Sport. Und das nicht zu knapp. Ich war in der Triathlongruppe eingeteilt. Laufen, Schwimmen, Kraftsport, Sauna. Ich wog gerade mal fünfundvierzig Kilo, fühlte mich kraftlos und hatte seit Monaten keinen Sport mehr gemacht. Es wurde höchste Zeit mit mir! Es gab viele prägende Momente. Sie alle aufzuzählen, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Aber es gab zwei Sitzungen, die mir mehr Kraft abverlangten, als ich zunächst zu leisten imstande war. Daher war es lebensrettend und wichtig, dass einem hier auch etwas anderes gegeben wurde: Zeit!
Es passierte gleich in meiner ersten Stunde Gestaltungstherapie. Zuvor hatte ich noch mit einem Kollegen von der Justiz über »unseren kleinen Malkurs« gewitzelt. »Wenn ich da töpfern soll oder Bildchen malen, dann gehe ich da nicht hin«, hatte ich großspurig getönt. Wir sollten uns gegenseitig vorstellen. Tenor der Vorstellungsrunde war, ohne Buchstaben und ohne Zahlen MALEND dem Gegenüber den eigenen Grund für diesen Klinikaufenthalt mitzuteilen. Nacheinander. »Also doch malen«, hatte ich innerlich gestöhnt. Einem solchen Kinderkram konnte ich nun wirklich nichts abgewinnen. Ich muss arrogant gewirkt haben. Ich wurde einer Frau zugeteilt, die etwas älter war als ich, rundlich und mit einer lebhaften Mimik. Sie hatte große braune Augen, mit denen sie reden konnte. Diesbezüglich waren wir uns sehr ähnlich. Kein Wort durfte gesprochen werden. Wir sollten uns immer abwechseln mit dem Malen, uns ein Blatt Papier und einen Stift teilen. Nach Möglichkeit sollte es dann ein Bild von der persönlichen Situation ergeben. Ich malte ein Strichmännchen. Gab den Stift ab. Sie malte ein größeres Strichmännchen. Gab mir den Stift wieder. Und so weiter. Auf dem Bild waren nun zwei große Strichmännchen, ein kleines und ein klitzekleines. Es wurde schwierig für mich. Ich malte ein gebrochenes Herz. Und erhielt ein Fragezeichen. Ich malte Tränen. Und erhielt wieder ein Fragezeichen. Mit großen fragenden Augen schaute mich die Mitpatientin an. Warum ein gebrochenes Herz? Warum Tränen? Da war offensichtlich eine Familie mit zwei Kindern. Ein älteres Kind und ein ganz kleines. Und nun dieses gebrochene Herz? Und warum diese Tränen? Warum? Meine Mitpatientin verstand mich nicht. Ich war entnervt. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich nicht versteht. Ich wollte nicht mehr. Ich wollte reden, nicht malen. Rabiat nahm ich ihr den Stift aus der Hand, strich das große Männchen und das klitzekleine Männchen durch, malte ein fettes Kreuzzeichen über das durchgestrichene große Männchen und ein fettes Kreuzzeichen über das durchgestrichene klitzekleine Männchen. Basta. Ich war fertig. Schmiss den Stift auf den Tisch. Lehnte mich zurück und verschränkte bockig die Hände vor der Brust.
Die Augen der Mitpatientin weiteten sich vor Schreck. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich starrte auf das Bild. Starrte wie hypnotisiert auf das Bild. Auf mein Bild, das ich gerade mit der Mitpatientin gemalt hatte. Es sah furchtbar aus. Es sah aus, als wären mein Mann und mein kleinstes Kind gestorben. Auf schreckliche Weise gestorben. An dieser Stelle war die Stunde für mich beendet. Ich war völlig fertig. Aufgelöst in Tränen. Zitternd. Heftigst schluchzend. Es schüttelte meinen Körper, und der Schmerz raste durch meine Seele wie eine tobende Brandung. So war das also. So tief saß der Stachel. Felix war für mich gestorben. Gestorben an dem Tag, an dem er Nein sagte, Nein zu einem zweiten Kind. An dem Tag, an dem mir mein Mann die Sinnlosigkeit und Nutzlosigkeit meines Tuns seit Mias Geburt bescheinigt hatte. Die Quittung mit der NULL. Es war zu früh, um das bis ins letzte Detail zu durchdenken. Viel zu früh, um es zu erklären und transparent zu machen. Ich hatte einen Faden in der Hand und dachte, DAS sei es nun. Dass an dem Faden noch ein dickes Knäuel hing, konnte ich nicht begreifen. Das kam später. Viel später.
Eine zweite Sitzung, die mir vermutlich das Überleben gesichert hat, war die Imaginationstherapie. Ich kann sehr gut in Bildern denken und habe eine blühende Fantasie. In der Imaginationstherapie ist das eine wichtige Voraussetzung. Wenn Sie mit innerlichen Bildern nichts anfangen können, dann bringt Sie diese Therapieform nicht weiter. Bei mir katapultierte sie mich in Schallgeschwindigkeit um Lichtjahre nach vorn. Schneller, als wenn ich diese Problematik sprechend angegangen wäre. Aber auch gefährlicher. Existentiell extrem gefährlich. Wir hatten seicht begonnen: »Stellen Sie sich vor, Sie säßen mitten in einem Wald unter einem Baum ... Können Sie sich vorstellen, wie sich das weiche Moos unter Ihnen anfühlt? ... Fühlen Sie es richtig? ... Können Sie es unter Ihren Händen spüren?«
Seicht. Sehr seicht ...
In der dritten Woche kam dann der Flash: Ich sollte mir ein Bild vorstellen. Von mir selbst. Als kleines Kind. Das ist schwer, wenn man kaum ein Bild von sich hat. Im wahrsten Sinne des Wortes kaum ein Bild von sich selbst hat. Noch nicht einmal auf Zelluloid ... Ich überlegte. Kramte in meiner Erinnerung. Plötzlich war es da. Keine Ahnung, wo es herkam, aber da war es!
Das Mädchen war aufgestanden. Da war doch etwas? Ein Geräusch? Ein Mensch? Kam da jemand? Hatte man sie endlich gefunden? Hatte doch noch jemand das Verlies gefunden? Aufgeregt lief sie zur Gefängnistür. Krallte die Händchen um die Gitter und reckte den Hals. Doch, doch. Sie hatte sich nicht getäuscht. Da kam jemand. Nach so langer Zeit kam endlich jemand hier runter. Sie hielt das nicht mehr aus. Rüttelte hektisch an der Tür. Und schrie. Schrie mit ungeahnter Kraft: »Hooooooolt miiiiiich hiiiiiiier raaaaaauuuuuuuus!« Dann lauschte sie. Die Schritte kamen näher. Sie durften nicht wieder weggehen. Sie mussten sie hier rausholen. Sie wollte nicht umsonst gewartet haben!
Das Bild war präsent. So präsent, als hätte ich es schon seit Jahren in einem Fotorahmen an der Wand hängen. Ich staunte nicht schlecht. Meine Fantasie ließ mich nicht im Stich. Es konnte weitergehen.
»Was sehen Sie, Frau Birkhoff? Beschreiben Sie mir genau, was Sie sehen.« Die Stimme der Therapeutin war warm und sanft. Ich blickte in mich hinein. »Ein hübsches Mädchen sehe ich. Vielleicht so fünf, maximal sechs Jahre alt. Schlank. Eher zart. Hübsch. Sympathisch. Große Kulleraugen. Dunkle Augen. Neugierige Augen. Erwartungsfroh. Freudig. Intelligent. Das Mädchen guckt unheimlich wissend. Kann ich schlecht erklären. Dunkle Haare. Locken. Ein Kind, nach dem man sich umschaut. Das einen anspricht. Mich jedenfalls. Ich finde sie putzig. Richtig niedlich.«
Das Mädchen war gespannt. Freute sich. Endlich. Da stand sie: ihre Retterin, ihre Erlöserin. Mit einer Polizistin hatte sie nicht gerechnet. Aber eine Polizistin war toll. Die war stark. Die würde die Tür hier schon aufkriegen. Alles würde jetzt gut.
»So, Frau Birkhoff. Dann möchte ich Sie bitten, auf das Kind zuzugehen. Fassen Sie es noch nicht an. Schauen Sie einfach nur hin. Okay?«
Ich nickte. Ging auf das Kind zu und merkte, wie sich innerlich etwas tat. Ich würde heulen. Ich würde schon wieder heulen. Das konnte nicht gut gehen. Ich bekam Angst. Atmete tief durch. Das hatte ich bei der Atemgymnastik gelernt. Länger ausatmen als einatmen. Den Puls runterfahren.
»Was machen Sie gerade, Frau Birkhoff?«
»Ich hocke mich vor das Kind hin. Ich möchte auf einer Augenhöhe sein. Ich möchte dem Mädchen direkt in die Augen schauen. Ich möchte in den Augen lesen.«
Die Polizistin hatte sich vor die Gitter gehockt. Sie hatte einen mitfühlenden Blick. Bestimmt war diese Frau gutherzig. Warum schaute sie sie so an? So fragend? So lieb? So traurig?
»Gut, dann fassen Sie das Mädchen an den Schultern an. Ich möchte nicht, dass Sie es umarmen, auch wenn SIE das möchten. Nur die Schultern, verstanden?«
»Verstanden.«
Ich berührte das Mädchen vorsichtig. Wärme floss durch meinen Körper. Hitze. Eine nie gekannte Hitze. Mein Puls. Nun raste er doch.
»Und nun?«, fragte ich ungeduldig.
»Umarmen Sie das Kind. Drücken Sie es fest an sich.«
Diese Polizistin war unglaublich. Sie konnte zaubern. Sie musste sehr, sehr stark sein, und unglaubliche Fähigkeiten hatte diese Frau. Das Gitter löste sich plötzlich in Luft auf. Einfach weg. Dann fasste sie sie an den Schultern an.
»Da habe ich dich endlich. Mein Kind. Hier unten im Verlies warst du? Die ganze Zeit? Mein Gott, du armes Kind. Dass du noch lebst. Dass du noch lebst, bei allem, was geschehen ist. Ich bin so froh.«
Die Polizistin umarmte sie. Endlich. Endlich umarmt werden. Es tat so gut. Es tat so unglaublich gut. Es durfte nie wieder aufhören. Nie wieder. Nie wieder würde sie weggehen von dieser Frau. Sie weinte. Lag zart und schwach in den Armen der Polizistin und weinte. Unentwegt.
»Frau Birkhoff! Frau Birkhoff! Ich bitte Sie! Antworten Sie mir!«
Ein markerschütternder Schrei entfuhr meiner Kehle. Ich umarmte mich selbst und schrie und schrie. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. All die Jahre. Diese entsetzlichen Jahre. Niemals getröstet dieses arme Kind. Keiner. Keiner hatte dieses kleine Mädchen wirklich trösten können. Es tat so weh. Ich schrie. Lange. Immer wieder. Weinte. Schluchzte. Die Sitzung drohte außer Kontrolle zu geraten.
»Frau Birkhoff! Lassen Sie jetzt das Kind los! Lassen Sie es los.«
»Ich kann nicht. Ich kann es nicht loslassen. Es ist noch so klein. Ich weiß doch, was die noch mit der Kleinen machen. Ich kann sie doch nicht einfach alleinlassen! Das schafft sie nicht. Die Schläge! Die Mutter! Jürgen! Das schafft sie doch nicht. Sie stirbt. Sie hat keine Ahnung, was da noch auf sie zukommt. Keine Ahnung, wie schrecklich das noch wird. Sie hat doch schon so viel hinter sich. Bitte. Biiiiiiiitttteeeee!«
»Sie MÜSSEN sie loslassen, Frau Birkhoff! Sie MÜSSEN! Beantworten Sie mir eine Frage. Nur eine Frage. Frau Birkhoff: Wird dieses Mädchen es schaffen? Wird sie das schaffen?«
Ich brach zusammen. Fiel einfach auf die Knie. Umarmte mich immer noch. Dieser unbändige Schmerz. Diese abgrundtiefe Trauer. »Neeeiiiinnn!« Ich schrie es heraus. »Wie denn? Wie denn? Ich muss ihr das ersparen. Sie da rausholen.«
»Haben SIE, SIE, Frau Birkhoff, haben SIE das alles überlebt? SIE, Christine! Antworten Sie!« Die Therapeutin schrie mich an. Ihr Gesicht direkt vor meinem Gesicht. »Schauen Sie mich an, Christine Birkhoff! Schauen Sie mich an! Haben SIE das alles überlebt?«
»Jaaaajaaaa ... ich habe es überlebt. Ich musste ja. Ich konnte nichts ändern. Ich konnte nichts daran ändern. Ich war doch noch so klein. So furchtbar klein.«
Ich hörte auf mich zu umarmen. Aber ich hörte nicht auf zu weinen. Mein kleines Mädchen. Ganz da unten in mir drin. Mein Mädchen. Sie konnte nichts dafür. Sie war unschuldig. »Sprechen Sie mit mir, Frau Birkhoff. Sprechen Sie. Was für Gedanken kommen Ihnen?« »Sie war unschuldig. Dieses Mädchen war unschuldig. Sie hat niemandem etwas getan. Sie war einfach nur da. Einfach in diese Welt hineingeworfen. Ohne Schuld. Und dann haben sie ihr das alles angetan. Ich fasse es nicht. Ich kann es nicht fassen!« Das Mädchen verstand die Polizistin nicht. Warum sollte sie zurück ins Gefängnis? Warum erzählte diese Frau Sachen wie »Wir passen nicht zu zweit in diese Welt da oben«? Wieso denn nicht? Und was meinte sie mit »Das da oben ist die Welt der Erwachsenen«? Das Mädchen verstand das nicht. Es war aber nicht wichtig. Man hatte sie gefunden. Das war wichtig. Und noch wichtiger war, dass die Polizistin gesagt hatte »Ich komme wieder«. »Ich hole dich hier raus.« »Ich muss erst noch eine Bleibe für dich finden, hier kannst du auf keinen Fall bleiben.« Der Abschied war nicht leicht gefallen. Aber dieser Frau konnte das Mädchen vertrauen. Sie war stark. Sie war zuverlässig. Sie würde wiederkommen. Wenn sie es versprochen hatte, dann würde sie dieses Versprechen auch halten. »Warte« hatte sie gesagt und »Keine Angst. Es dauert nicht lange. Nie wieder musst du so lange warten. Nie wieder. Ich weiß jetzt, wo du die ganzen Jahre warst. Jetzt finde ich dich wieder.«
»Das war ein hartes Stück Arbeit, Frau Birkhoff. Verdammt hart. Aber Sie haben das super gemacht. Wie geht es Ihnen heute?«
»Geht wieder. Danke. Ich habe das Gefühl, dass es schlimmer nicht mehr wird. Der Berg liegt hinter mir. So fühle ich es jedenfalls.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Wir werden jetzt weiterüben. Sie müssen lernen, Ihr kleines Mädchen regelmäßig zu trösten. Und wir müssen ein schönes Plätzchen für Ihr Mädchen finden. Denn eines sage ich Ihnen jetzt schon: Wenn Sie im Prozess sitzen, dann lassen Sie die kleine Christine zu Hause und schließen ausnahmsweise mal die Tür ab. Die Kleine hat im Gerichtssaal nichts zu suchen. Nur Sie alleine. Die erwachsene Christine, okay?«
Heute rüttelt niemand mehr an Gitterstäben. Die kleine Christine hat damals ein neues Zuhause bekommen. Ein richtig schönes Kinderzimmer. Als Felix und ich Mias Zimmer renoviert haben, hatte ich insgeheim das Zimmer der kleinen Christine mittapeziert. Dieselbe niedliche Tapete, wie Mia sie hat. Während der Therapie und noch lange Zeit danach musste ich Christinchen öfters trösten. Musste mit meiner Therapeutin immer wieder zu ihr hingehen und sie in meine Arme schließen. Sie brauchte das. Konnte schwer loslassen. Bis uns beiden die Trennung immer leichter fiel. Mittlerweile will sie das gar nicht mehr so oft. Ganz selten mal, dass ich was von ihr höre. Was sie macht, den ganzen Tag? Hm ... Keine Ahnung ... Vielleicht Gameboy spielen oder fernsehen ... Was Kinder so machen in dem Alter ... Ist auch nicht so wichtig, oder? Sie hat ein schönes, warmes Zuhause, darf ganz nah bei mir wohnen und ist völlig zufrieden mit sich selbst. Richtig autark ist sie geworden. Braucht mich nicht mehr. Wenn sie nicht ruft, dann ist auch alles okay. Ihr Zimmer ist ja gleich nebenan. Das würde ich sofort hören. Damals, im Verlies, da war das anders. Sie findet es völlig in Ordnung, dass ich mich auf Mia konzentriere. Völlig in Ordnung.
Der Mensch meidet von Haus aus, was ihm nicht guttut. Nicht bei allen Dingen, da gebe ich Ihnen Recht. Ich meide immer noch keine Zigaretten. Und weiß genau, dass die Dinger mir nicht guttun. Andere trinken. Schütten sich mit Alkohol zu oder pumpen sich mit Drogen voll. Ich rauche. Das ist meine Sucht. In der Therapie lernte ich, was Traumata sind. Warum sie gefährlich sind. Was sie auslösen können. Mias Geburt löste alle Erinnerungen aus, die ich glaubte, nicht zu haben. Schmerzerinnerungen zum Beispiel. Körperliche Schmerzen. Seelische Schmerzen. Ich mied, was mir nicht guttat. Mia. Ich mied meine eigene Tochter, weil sie Lawinen von Erinnerungen lostrat, die mein Gedächtnis mit gutem Grund verdrängt hatte. Wenn ein Kind, das erst anderthalb ist, realisieren könnte, also richtig begreifen könnte, dass Mama und Papa es gerade totschlagen möchten, dann würde diese Erkenntnis das Kind sicher umbringen. Also wird die Erinnerung in einer hintersten Ecke im Gehirn abgespeichert. Der Weg durch das Bewusstsein, der Weg des Verstehens, wird umgangen. Irgendwo liegt diese Erinnerung. Sie wurde unverarbeitet an einen Platz gelegt, wo sie gar nicht hingehört.
Nach der Therapie hatte ich sehr viel über mich gelernt. Ich wusste eines ganz genau: was mir NICHT guttut. Dazu gehörte Felix. Dazu gehörten meine Schwiegereltern. Dazu gehörte die herrschende familiäre Situation. Und auch die vielen toten Pferde und meine Reiterei. »Sie haben Ihre Kindheitsbühne nachgestellt.« Eine wichtige Erkenntnis während meines Klinikaufenthaltes. Mia gehörte nicht dazu. Mia gehörte zu mir, und ich wollte sie bei mir haben und ihr eine starke Mutter sein. Ich zog aus. Schnell. Sehr schnell. Vier Wochen nach der Therapie saß ich in meiner neuen Wohnung. Felix und ich hatten gestritten und gestritten. Ums Geld. Um die Möbel. Meine Möbel. Wir hatten uns nichts geschenkt. Wir kämpften mit harten Bandagen. Verbissen. Stur. Uneinsichtig. Jeder zutiefst verletzt und seiner Träume beraubt. Ich kämpfte um meine Existenz. Ich wollte nicht schon wieder von vorn anfangen. Nicht schon wieder einen kompletten Hausstand aus dem Boden stampfen und von Brot und Wasser leben. Das sah ich absolut nicht ein. Felix behielt die Wohnung. Die meisten Möbel. Und ich? Keinen Pfennig würde er mir geben, so hatte er gedroht. Auf Apfelsinenkisten könnte ich leben, so waren seine Worte.
Ich war wütend auf Felix, dass er Mia und mir keine Unterstützung für die Wohnungseinrichtung geben wollte. Er würde Mia eine kuschelige Eigentumswohnung bieten, die ich renoviert und eingerichtet hatte, und ich sollte mir Apfelsinenkisten besorgen. Was blieb mir übrig? Ich habe ihn ausgetrickst. Sollte er doch mit dem von Jürgen gesponserten Sofa leben. ICH nicht! Felix war sauer. Richtig sauer. Und er war beleidigt. Beleidigt, dass er, der kluge Kopf, auf meinen Schachzug reingefallen war. Zu guter Letzt hatten wir beide unsere eingerichteten Wohnungen. Und beide keine finanziellen Rücklagen mehr. Ich fand das fair. Er nicht.
Schon beim ersten Mal, als Felix vor meiner Tür stand, zerriss es mir das Herz. Ich sah diese Traurigkeit in seinen Augen und entdeckte seine Güte wieder. Wir waren beide nicht nachtragend. Verletzt, enttäuscht, gedemütigt, traurig. Das waren wir beide. Aber nicht nachtragend und nicht hassend. Beim Notar hatte ich meinem Mann versprochen, dreißig Stunden die Woche zu arbeiten. Ich wollte nicht, dass er jeden Monat ein Vermögen zahlte. Ich wollte, dass er seine Wohnung behielt, dass Mia ihren tollen Papi behielt und ihre wundervollen Großeltern. Ich wollte, dass Mia weiterhin unbeschwert auf dem Bauernhof spielte, Omas Hund ärgerte, die Pferde putzte und bei ihrem Opa auf dem Trecker saß. So, wie ihr eigener Vater, als er ein kleiner Junge war. Felix holte Mia ab, wenn ich am nächsten Tag Dienst hatte. Trank in meiner gemütlichen Küche noch einen Kaffee und hörte sich meine »Bedingungen« an. Würde ich feststellen müssen, dass er oder meine Schwiegermutter Mia gegen mich aufhetzten, wäre das friedliche Leben vorbei. Würde meine Schwiegermutter ihren eigenen Schmerz über diese Situation auf Mia projizieren, wäre es auch vorbei. Wir waren uns einig. Die Trennung war schlecht für Mia, und es würde nur funktionieren, wenn alle an einem Strang zogen. Die Wochen plätscherten dahin. Ich schlief viel. Stellte fest, dass ich mehr Schlaf brauchte, als ich mir früher gegönnt hatte. Stellte fest, dass ich mir gar nichts gegönnt hatte, und änderte eine Menge. Ich trieb wieder Sport. Ein Kollege hatte mich zum Schwimmverein geschleppt und mich der »Seniorenmannschaft« vorgestellt. Ich spielte Badminton, ging mit Freundinnen in die Sauna, in Kneipen und kümmerte mich an »meinen« Tagen endlich richtig um Mia. Hörte ihr zu, kuschelte mit ihr, setzte Grenzen. Ruhig. Bestimmt. Unerschütterlich.
Ann-Kathrin wurde mir eine sehr enge Freundin. Wenn sie meine Nägel machte, mussten wir immer wieder daran denken, was meine Mutter gesagt hatte: »Du mit deinen hässlichen Wurstfingern.« Wir schütteten uns aus vor Lachen. Ich erfuhr viel von Ann-Kathrin. Auch, dass Felix und ich ein ganz anderes Bild präsentiert hatten, als das tatsächlich der Fall war. Ann-Kathrin war Single. Für sie hatte die äußere Fassade von der heilen Familienwelt gezählt. Erst nach meinem plötzlichen Heulkrampf bei ihr zu Hause, vor der Therapie, stellte sie fest, dass es ein Trugbild war. Nach und nach erzählte ich ihr die ganze Geschichte. Wir waren uns verdammt nahe. Wir hatten viele Gemeinsamkeiten in unserer Historie. Auch Ann-Kathrin war klinik- und therapieerfahren. Sie war eine Kämpfernatur und hatte den Schalk im Nacken sitzen. Diese Gemeinsamkeiten führten dazu, dass wir zusammen für zwei Wochen nach Mexiko flogen und mächtig auf den Putz hauten. Wir, die wir uns oft an den eigenen Haaren aus dem Dreck ziehen mussten und trotzig immer wieder aufstanden. Felix flog in derselben Zeit mit Mia nach Mallorca und sorgte bei den vielen alleinreisenden Müttern für reges Interesse. Mit Argusaugen, so erzählte er mir später, wurde er von den Frauen am Strand beobachtet, insbesondere dann, wenn Mia einen ihrer berüchtigten Wutanfälle bekam. »Offensichtlich ist mir das gut gelungen«, scherzte er gern, »über Kontakte konnte ich jedenfalls nicht klagen.«
Eines Tages setzte ich eine Annonce in die Zeitung. Eine Telefon-Chiffre-Annonce, bei der man in der Samstagsausgabe einen Text abdrucken lässt und dann ein Tonband mit einer Botschaft für die Interessenten bequatscht. Die Interessenten können sich dann ihrerseits anhören, was man da so vom Stapel lässt, und danach auch eine Nachricht hinterlassen. Oder auflegen ... Das Schöne daran ist, dass die Zeitung über die Telefonkosten steinreich wird. Ich fand es ungeheuerlich spannend, WAS die Männer alles so erzählten, WIE sie es erzählten und was für eine Stimme sie hatten. Eine Stimme kann unglaublich sympathisch sein, aber auch unheimlich abstoßen. Während meiner Frankfurter Zeit hatte ich oft die Erfahrung gemacht, dass Männer mit einer attraktiven Telefonstimme leider oft nur unscheinbare Typen waren. Ich war gespannt, was ich »live und in Farbe« alles entdecken würde, und traf mich mit allen, die ich übers Telefon sympathisch fand. Ich wollte die Männerwelt erforschen, mal sehen, wie die Marktlage war, und den eigenen Marktwert abchecken. Felix hatte ich wohlweislich nichts erzählt. Mir lag es fern, ihn zu verletzen oder zu demütigen. Dafür mochten wir uns zu sehr.
Was soll ich Ihnen sagen? Mein persönliches Resümee ist bis heute, dass Männer entweder über die Gabe der völligen Fehleinschätzung verfügen oder aber das Attribut »attraktiv« sehr frei interpretieren. Es war wirklich unglaublich, was sich da präsentierte. Quasimodos. Und nicht einer. Nein, nein. Viele Quasimodos, die sich als »tageslichttauglich«, »vorzeigbar«, »attraktiv« und »präsentable Erscheinungen« verkauften. Bei dem siebten und letzten »Mann im passenden Alter«, der greisenhaft und vor Gram und Senilität gebeugt auf einem Parkplatz am Münsteraner Schloss vor seiner »Großraum-Limousine«, einem schrottreifen Opel Senator, auf mich wartete, bin ich gar nicht mehr ausgestiegen. Ich betrachtete ihn nur völlig entsetzt aus dem Autofenster und fuhr einfach an ihm vorbei, zurück auf die Autobahn nach Ruhrstadt. Dieser Mann war wirklich die Nummer eins auf meiner Hitliste der Top fünf. Ich gab nicht auf. Nicht ich, Christine Birkhoff. Kaum zu Hause hörte ich wieder in die Sprachaufzeichnungen hinein und kippte plötzlich fast vom Küchenstuhl.
»Hallo. Ich heiße Felix, bin vierunddreißig Jahre alt und ein schneidiges Kerlchen. Ich entspreche voll und ganz Ihren Anforderungen. Ich bin sehr humorvoll, sehr geistreich, liebe Pferde und Hunde und glaube, dass ich Ihr Leben bereichern kann. Ihre Nachricht hat mir sehr gut gefallen, weil Sie sich als temperamentvoll und witzig beschreiben. Gern würde ich mit Ihnen gemeinsam lachen und schlage Ihnen daher vor, mit mir essen zu gehen. Ich freue mich auf Ihren Rückruf unter ... «
Ich war beeindruckt. Echt beeindruckt. DAS war souverän! Hut ab! Chapeau! Tiefe Verbeugung! Felix! Mein Felix! Ich lachte. Ich lachte und lachte und lachte. DER Mann war gut.
DER war richtig gut. Ich beschloss, mich darauf einzulassen. Mich auf meinen Immer-noch-Ehemann einzulassen. Es einfach zu wagen und ihm einfach diese Chance zu lassen. Und Felix spielte mit. Schlug ein Treffen vor, brachte Mia zu seinen Eltern, holte mich galant ab und führte mich in ein Restaurant. Dasselbe Restaurant, in dem wir bei unserem ersten Date Spargel geschlemmt hatten. Und wieder vergnügten wir uns köstlich. Es war ein wunderschöner Abend mit Felix. Wir ließen uns Zeit. Sehr viel Zeit für Annäherung. Ein sehr schönes und zugleich wichtiges Erlebnis rührte uns beide, und wir sind dankbar, dass wir es gemeinsam erleben durften. Es schweißte uns noch ein Stückchen zusammen und ließ wieder einen Schritt mehr einander verstehen:
Der Baron hatte mich eines Abends angerufen. Ihm und seiner Frau ging es gesundheitlich leider gar nicht gut. Er bat uns, ihn in der Schweiz zu besuchen, und wollte etwas Wichtiges besprechen. Ich war ungeheuer aufgeregt, nach nunmehr fünf Jahren meinen Capriola zu sehen. Mit meiner Aufregung steckte ich Felix an, und die ganze Fahrt über sprachen wir über nichts anderes. In den Zeiten meiner Depressionen hatte ich um dieses Tier oft geweint und ihm jeden Tag hinterhergetrauert. Gerd hatte Recht behalten mit seiner Befürchtung. Ich bedauere es heute noch, meinen alten Kumpel verkauft zu haben. Wir übernachteten in einem wunderschönen Chalet mit einem traumhaften Ausblick auf die Berge. Schön war es hier. Richtig schön. Nach dem Frühstück war ich nicht mehr zu bremsen. Als wir das Anwesen erreicht hatten, sahen wir den Baron am Tor stehen. Man sah ihm an, dass Krankheiten an ihm gezehrt hatten. Ich dachte im ersten Moment der Begegnung, dass dieser Verkauf keiner Seite wirklich gutgetan hatte.
Der Baron führte uns zum Stall, der hell, luftig und friedlich war. Capriola hatte es gut getroffen. Und dann sah ich ihn auf einmal: In der letzten Box, ganz hinten am Ende der Stallgasse, stand er und hatte den Kopf aufgeregt nach oben gerissen. Die Augen geweitet, die Nüstern gebläht, starrte er wie hypnotisiert in unsere Richtung.
Ich rief ihn. Wie früher. »Capriola! Mein Junge!«
Ein Ruck ging durch das Pferd. Er fuhr herum, drehte sich hektisch und völlig aufgebracht in seiner Box um sich selbst, stampfte mit den Hufen auf den Boden und war nicht mehr zu beruhigen. Ein Schauspiel sondergleichen. Emotional bewegend, umwerfend. Als ich die Boxentür aufmachte, schoss er auf mich zu, stupste mich an, wirbelte erneut durch das Stroh, schoss wieder auf mich zu und beroch mich. Es war, als wollte er sagen: »Echt? Wirklich? Bist du das? Kann ich gar nicht glauben! Was freue ich mich. Du? Hier? Toll!« Er brauchte Zeit, um sich wieder zu beruhigen. Wir alle brauchten einen Moment. Ich stand gerührt und weinend in der Box und wartete geduldig ab, bis Capriola ruhiger wurde. Früher, nach der Arbeit, machte ich mir einen Spaß daraus, ihn zu fragen: »Willst du noch arbeiten?« Wenn Capriola dann mit dem Kopf schüttelte, dann holte ich ihm zur Belohnung ein Stück Zucker aus meiner rechten Hosentasche. Und was machte er heute? Fünf Jahre später? Er stupste mit der Nase an meine rechte Hosentasche, ging vor mir ein Stück zurück, schüttelte den Kopf und schaute mich an. »Hey du«, schien er zu sagen, »mein Stück Zucker! Schon vergessen?«
MEIN Capriola! All die Jahre hatte ich gespürt, dass auch er mich nicht vergessen würde. Als ich mich umdrehte zu Felix und dem Baron, standen die beiden nebeneinander ehrfürchtig vor der Box. Verlegen wischten sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Die Stimme des Barons zitterte, als er sprach. Er, einer der größten Lipizzaner-Liebhaber und Experte dieser ganz speziellen Rasse, erklärte bewegt und gerührt: »DAS habe ich testen wollen. Ich wollte wissen, wie Capriola auf Sie reagiert. Und ich hatte es mir gedacht, all die Jahre: dass dieses Pferd Sie nie vergessen würde! Wissen Sie, Frau Birkhoff, Herr Birkhoff, wissen Sie, dass Capriola sich nie wieder reiten ließ? In der zweiten Woche hat er meine Frau abgeworfen, da wussten wir, dass er nur einen Menschen richtig akzeptiert, und das sind Sie, Frau Birkhoff. Nur Sie.«
Capriola hatte mich NIE abgeworfen. Er war kein Pferd von der Sorte, die ihren Reiter abwarfen. Das war so weit entfernt, wie ein chinesischer Nackthund niemals ein Polizeihund wird. Unmöglich und gänzlich ausgeschlossen.
»Er war nicht böse, Frau Birkhoff. Das war er nicht, und das haben wir gleich gemerkt. Wir reiten ihn seit fünf Jahren nicht mehr. Wir erfreuen uns an seiner Schönheit, und er ist jeden Tag mit den anderen Pferden draußen auf der Weide. Möchten Sie ihn mal rausholen? Arbeiten Sie doch mit ihm. Ich bin gespannt, was er uns präsentiert.«
DAS musste man mir nicht zweimal sagen. Als ich mit dem Pferd die Reithalle betrat, setzte sich Capriola in Bewegung. An der Longe. Ich wollte ihm zunächst vom Boden aus zuschauen und ihn beobachten. Capriola spulte sein Programm ab, als sei kein Tag vergangen. Das Tier war nicht mehr zu bremsen: piaffierte und passagierte sich die Seele aus dem Leib, und ich stand daneben und fand den Knopf zum Abschalten nicht mehr. Das Pferd war so übereifrig und verrückt nach Arbeit, dass es Lektionen zeigte, für die es nach so vielen Jahren ohne Training kaum noch Kraft hatte.
In der Halle ließ ich ihn frei laufen. Mein alter Junge war schweißgebadet und wirkte selig und zufrieden. Wie früher klebte er an meiner Seite und folgte mir. Ich wollte ihn wiederhaben, verstehen Sie das? Ich wollte ihn am liebsten gleich mitnehmen und wieder nach Hause holen, aber der Baron gab das Pferd nicht her. Er lud uns zum Essen ein und erklärte, dass er dieses Pferd so lange bewundern und betrachten wolle, bis er und seine Frau gesundheitlich zu schwach seien. Seine Frau war derzeit in den Staaten und unterzog sich einer Therapie. Sie hatte Multiple Sklerose. Der Baron hatte mit Herzinfarkten zu kämpfen und war schwach auf den Beinen. Er war voller Hingabe für Capriola, sodass ich mich schämte, überhaupt mein Anliegen vorgebracht zu haben. Wir, so klärte uns der Baron auf, wir seien heute hier, weil er prüfen wollte, ob das Tier im Falle eines Falles wieder zu uns zurückkehren könne. Und diese Prüfung hätten wir eindrucksvoll bestanden. Der Baron hat Felix und mir versprochen, dass Capriola eines Tages wieder nach Ruhrstadt kommt. Dass er eines Tages wieder bei mir leben darf. Drei Jahre liegt dieser Besuch nun zurück. Ich warte. Ich wünsche diesen unglaublich liebenswerten Menschen nur das Beste. Aber ich gebe zu, dass ich warte. Jeden Tag warte.
Felix und ich hatten viel zu besprechen, und immer noch trafen wir auf gegenseitige wunde Punkte. Ich war voller Zweifel und hatte Angst. Felix war loyal seinen Eltern gegenüber, aber mir war es ein wenig zu viel des Guten. Ich wollte einen Mann, der eigene Entscheidungen traf, der eigene Wege ging und sein Pferd nicht bei Mama und Papa im Stall stehen hatte. Ich wollte die wenige gemeinsame Zeit mit meinem Mann verbringen und nicht mit ihm UND seinen Eltern. Ich wollte die Freiheit haben, meine Schwiegereltern dann zu besuchen, wenn ich das wollte, und nicht, weil ich es täglich musste. Zu dieser Zeit ritt Felix nicht mehr Fides, sondern ein junges Pferd, das seinem Vater gehörte. Wieder einmal gehörte es seinem Vater und nicht ihm selbst. Dieses junge Pferd hieß ausgerechnet Bubi, und die ganze Konstellation löste in mir große Bedenken aus.
Ich bekam wieder Träume. Ganz andere Träume als früher. Träume, die Felix und mich immer näher zusammenbrachten. Keine Träume, die uns auseinanderrissen. Meine Großmutter sprach mit mir, leidend, mitfühlend, gütig. »Musst brechen. Musst bekennen.« Worte, die ich nicht zuordnen konnte und mir Angst machten. Mit meiner Therapeutin konnte ich über solche Seltsamkeiten nicht sprechen. Aber mit Ann-Kathrin. Und Ann-Kathrin war es auch, die mir die Angst vor diesen Botschaften nahm. Ann-Kathrin war es, die mir Mut machte und immer wieder betonte, dass ich weit davon entfernt war, den Verstand zu verlieren. Dass ich, ganz im Gegenteil, diese Botschaften sehr ernst nehmen sollte. Ich erzählte auch meinen alten Freundinnen von meinen nächtlichen »Treffen« mit meiner Großmutter. Diese Begegnungen mit ihr waren im Traum beängstigend real. In dieser Zeit habe ich sehr viele dieser Geschichten gehört, die man sich nur unter guten Freundinnen erzählt, weil man befürchten muss, als bescheuert abgestempelt zu werden.
Als ich gedankenverloren das Hochzeitsbild meiner Großmutter anschaute, fiel mir etwas auf: Felix hatte mich stets an meine Großmutter erinnert. An ihre gütigen Augen. Ich hatte meinen Großvater nie kennen gelernt. Ich hatte das Hochzeitsbild von meiner Oma bekommen, kurz bevor sie starb. Es lag in einer Fotoschachtel. Unbeachtet. Uninteressant. Wenn ich meine Oma anschauen wollte, dann schaute ich ihr Porträtfoto an. Auch so eine vergilbte Aufnahme, die ich seit zwanzig Jahren immer auf meinen Schreibtischen stehen habe. Und während ich dasaß und gedankenverloren auf dieses in Vergessenheit geratene Foto schaute, da stellte ich es fest:
Mein Großvater sah in jungen Jahren, auf dem Hochzeitsbild, in der Uniform, genauso aus wie Felix. Die beiden könnten als Brüder durchgehen. Mein Mann und mein Großvater.
Ich sprach sehr viel mit Felix über meine Recherchen und über die nächtlichen Begegnungen mit meiner Oma. Als wir uns kennen lernten, lachte Felix noch über meine Träume und meine Vorahnungen. Das tut er schon lange nicht mehr. Vielmehr hat er Respekt davor, und es ist ihm ein wenig unheimlich. Meine Oma und mein Großvater. Sie hatten zusammengehört wie Pech und Schwefel. Zusammengehört und sich doch getrennt. Ich hatte einen Mann an meiner Seite, der diese beiden Menschen in einer Person vereinte. Felix: Optisch mein Großvater mit dem gütigen Charakter meiner Großmutter. Ich schlage in die Richtung meines Großvaters, bin kreativ, immer agil, innovativ, freigeistig. Mein Großvater wurde »der Freigeist« genannt. Er hasste es, gedanklich beschränkt zu werden. Wurde depressiv, als er eines Tages seine Leidenschaft, seine Kunst nicht mehr frei ausüben konnte. Als seine eigene Schwiegermutter, die alle nur »der Drachen« nannten, ihm die Luft für die schöpferischen Fähigkeiten abdrückte. Ich kann das wunderbar nachfühlen. Mein Großvater, der Künstler, hätte vermutlich meine Trauer um mein Kunstwerk, mein Erstlingswerk, Capriola, bestens verstehen können.
Gerd ist auch Künstler und hatte mich gewarnt.
»Lauter Leichen«, sagte Felix eines Tages und starrte konzentriert auf mein zwischenzeitlich entstandenes Familiendiagramm. »Und der Drachen da oben ist schuld.«
Er tippte auf den Namen meiner Urgroßmutter. »Deine Mutter hat auch so einen Drachen an ihrer Seite. Wenn du mich fragst, dann ist Jürgen der Nachfolger von dem Drachen. Wenn du dessen Familien-Diagramm machen würdest, stünde er auch ganz oben. Die haben beide gleich viele Leichen hinterlassen. Die tragen beide gleichermaßen Schuld!«
Ich nickte und murmelte wie weggetreten:
»Der Drache. Der Drache, der sich immer auf meine Brust setzte, der mir die Luft zum Atmen raubte. Immer dann, wenn Jürgen sich auf mich legte und mich küsste, bis ich keine Luft mehr bekam. Jürgen. Der Drache.«
»Wie war die Botschaft von deiner Oma?« Felix schaute mich an. »Brechen. Musst brechen. Musst bekennen. Ich werd nicht schlau daraus.«
Felixʼ Miene erhellte sich. »Ich aber. Ich habʼs! Du sollst mit der Familientradition brechen. Die, die gegangen sind, die alles hinter sich gelassen haben, die habenʼs überlebt. Die, die geblieben sind, deine Oma, deine Mutter, die hat der Drachen kaputtgemacht. Ergo: Du musst alles hinter dir lassen. Schließ mit deiner Vergangenheit ab. Dann wird alles gut.« Felix triumphierte. Lachte und freute sich.
Unwillkürlich musste auch ich lachen.
»Stell Bubi bei deinen Eltern weg, ich möchte jetzt meine Zeit mit dir verbringen. Mit dir allein. Es ist nicht gesund für uns. Vielleicht in ein paar Jahren. Nicht jetzt. Das wäre zu früh. Das könnte alte Wunden aufreißen, bei mir jedenfalls. Und bei deinen Eltern vielleicht auch. Dann zoffst du dich wieder nur mit deinem Vater. Wäre doch blöd!«
Felix nickte. »Wir müssen beide loslassen. Du hast Recht. Deine Oma hat Recht.«
Wir wollten es versuchen. Noch mal versuchen. Wir hatten so lange gekämpft und uns wirklich angestrengt. Ich honorierte es sehr, dass Felix schon seit einigen Monaten ebenfalls zu einem Therapeuten ging. Der Mann musste gut sein. Richtig gut. Ich spürte es an Felix. Unserem Umgang miteinander und an der Art, wie wir redeten und uns zuhörten. Wir hatten gelernt, wichtige Fragen zu klären, ohne uns dabei an die Wand zu nageln, ohne uns anzuschreien, ohne uns Vorwürfe zu machen und ohne uns dabei angegriffen zu fühlen.
Die Träume hörten auf. So schnell, wie sie gekommen waren, hatten sie sich auch wieder verabschiedet. Geblieben war ein anderer Traum. Unser Traum von Liebe.
Nach anderthalb Jahren zog ich zurück. Nach Hause. Wir renovierten die ganze Wohnung. Gemeinsam. Gemeinsam und mit viel Spaß! Und wir hatten Rückfälle. Viele Rückfälle. Angst, dass es doch wieder schiefgehen könnte. Meine Rückfälle wurden durch Situationen ausgelöst, die Erinnerungen wach werden ließen. Da war die Episode mit meinem leiblichen Vater. Eines Tages stand er auf der Wache und flennte. Er war alt und grau geworden und forderte Vergebung. Eine ganze Nacht lang hatte er vor der Wache gesessen und gewartet. Meine Kollegen warnten mich telefonisch vor, sodass ich Bescheid wusste, dass er hier irgendwo war. Als er sich dann aber in suizidaler Manier vor den Streifenwagen warf, den ich steuerte, da war es vorbei mit meiner Fassung. Nur eine Vollbremsung hatte den Unfall verhindert. Ich holte mir Hilfe. Es gibt bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen so genannte Soziale Ansprechpartner. Kollegen, die eine dreijährige Ausbildung absolvieren. Eine nebenberufliche Ausbildung, die auf psychologisch fundierten Erkenntnissen aus der Suchttherapie und Krisenintervention beruht. Das Motto ist: »Kollegen helfen Kollegen«. Einer dieser Ansprechpartner kam mir zu Hilfe. Ich musste mit meinem Vater sprechen, denn sein plötzliches Auftauchen war Gift für mich. Wir vereinbarten einen Gesprächstermin auf der Wache. In der Anwesenheit meines Vaters fühlte ich mich mehr als nur unwohl. Die kleine Christine in mir rannte hektisch in ihrem Zimmer auf und ab. Sie hatte panische Angst vor diesem Kerl! Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre wieder abgehauen. Nach unten ins Verlies. Gerade jetzt, wo sie ein so schönes Zimmer hatte.
Im Beisein meines Vaters nahmen mir die Kollegen meine Waffe ab. Ich war in Uniform und fühlte mich darin sehr gut aufgehoben. Mit dieser Klientel hatte ich zur Genüge dienstlich zu tun. Mein Vater fragte mich provokativ: »Haben die Angst, dass ich dir etwas tun könnte?«
»Nein«, antwortete die erwachsene Polizisten-Frau, »die haben Angst, dass ich DIR etwas tun könnte!«
Die Weichen waren gestellt und die Fronten schnell geklärt. Die Polizeiwache war MEIN Revier, da hatte mein Vater nichts zu suchen. Was ich ihm gesagt habe, damals, möchten Sie wissen? Ich habe meinem Vater regelrecht einen Platzverweis erteilt: für die Wache, für mein Leben, für Felixʼ Leben, für Mias Leben. Einen Platzverweis mit allen Konsequenzen. Ich habe ihm die Konsequenzen aufgezeigt, die unweigerlich folgen, wenn man nicht hören will: die Ingewahrsamnahme, das kostenfreie Logis in der Zelle im Präsidium. Immer wieder und immer wieder, so lange, bis er brav ist und auf mich hört. Auf mich und meine Jungs.
Mein Vater ging und kam zum Glück nie wieder. Er hat Angst vor der Polizei. Und er hat Angst vor mir. Damit rechnen Täter nicht, wenn sie ihre Taten begehen. Dass auch Opfer eines Tages groß werden. Felix hat mir das gesagt. Nicht etwa ein Kollege. Und noch weniger rechnen sie damit, dass diese Opfer eines Tages stärker sein könnten. Mein Vater ging, und der Ansprechpartner blieb. Er sprach noch lange mit mir. Wir mussten Christinchen beruhigen, die völlig aufgelöst, zitternd und schluchzend in der Ecke saß. Die kaum glauben konnte, dass ER weg war und dass ER jetzt Angst hatte. Angst vor der starken Polizistin. Als Christinchen endlich begriffen hatte, dass sie keine Angst mehr vor IHM zu haben brauchte und dass die große Polizistin tatsächlich gewonnen hatte, da feierte sie mich. Und glauben Sie mir: Ich ließ mich gern von ihr feiern. Diese Begegnung mit meinem Vater prägte mich. Ich begann mit Mia und meinen Ende dreißig einen ganz neuen Sport: Taekwondo. Als Kind wollte ich immer Judo machen. Lernen, wie man wirft und fällt. Jetzt wollte ich lernen, wie man tritt und boxt. Man weiß nie, wann man das nächste Mal angegriffen wird. Und ich halte es für meine Verpflichtung, meiner Tochter mit auf den Lebensweg zu geben, wie man sich verteidigt: mental und körperlich. Zwei Mal pro Woche trainieren wir seitdem gemeinsam. Mia macht bald ihren nächsten Gurt und hat mich dann überholt. Das ist gut so. Die nächste Generation muss immer ein bisschen besser sein, sonst gibtʼs keinen Fortschritt.
Auch wenn man so gekämpft hat wie mein Mann und ich, ist man trotzdem nie gefeit vor Rückschlägen. Ich sagte es bereits. Das Leben hört nicht einfach auf, einen zu triezen oder zu piesacken. Leben, das ist nichts Statisches, sondern es geht immer weiter. Und immer wieder gibt es Situationen, die einen fast umhauen. »Das Leben geht immer weiter.« Althoff hatte es mir gesagt.
»Es ist keine Schande, wenn man in seinem Leben an einen Punkt gelangt, an dem man nicht mehr weiterkann. Aber es ist eine Schande, wenn man das erkennt und dann liegen bleibt!« Mein Doc hatte diesen Satz gesagt.
In der Realität muss man das erst mal schlucken. Das geht quer runter. Weil es schon wieder an den Hoffnungen, den Kräften und den Erinnerungen zehrt. Weil man nun nicht mehr blind ist, sondern dieses ganze Theater schon kennt. Und weil man Angst bekommt, dass man doch noch scheitert. Ich kämpfte gegen bedrohlich anrückende Depressionen. Wieder einmal.
Den Rest verpasste mir dann das Schreiben vom Gericht. Ein Schreiben, das in knappen acht Sätzen sechsundfünfzig Seiten und zweiundvierzig Stunden zunichtemachte. Das Gericht hatte entschieden, meinen Fall erst gar nicht zur Anklage zu bringen, sondern aufgrund eines »Formfehlers« einzustellen. Mir war, als hätte man mit diesem Schreiben mein Leben beendet, bevor es überhaupt begann. Verstehen Sie das? Meine ganze Hoffnung, dass Jürgen eingesperrt werden würde und dass die Justiz mit erhobenem Finger aufstehen und es rausschreien würde vor der Öffentlichkeit: »SIE TRAGEN SCHULD! SIE SIND SCHULD!«, all das passierte nicht. Jürgen wusste noch nicht einmal, dass ein Verfahren gegen ihn lief. Es wurde eingestellt, bevor es begann. Wegen eines Formfehlers, den kein Rechtsanwalt in dieser Kanzlei nachvollziehen konnte. Die Fassungslosigkeit war groß. Die Kanzlei verzichtete auf das Honorar.
Mein Zustand verschlechterte sich wieder. Dieses Mal wollte ich nicht tatenlos zuschauen, wie ich unterging und in Depressionen versank. Ich warte prinzipiell nicht mehr lange. Das ist Zeitverschwendung. Ich habe nur dieses eine Leben. Nur dieses eine. Ich konnte mit Felix sprechen. Felix, der mir seinen Therapeuten empfahl, mit dem ich einen Volltreffer landete.
Der Mann ist gut. Richtig gut. »Andere müssen täglich Medikamente nehmen, andere sitzen im Rollstuhl und Sie? Sie sitzen ein Mal die Woche bei mir. Und wenn Sie dann wieder laufen können, dann gehen Sie wieder.« So die Worte meines Therapeuten, als ich ihm heulend erklärte, dass dies nun schon meine vierte Therapie war. Kluge Worte.
Ich bin Polizistin. Eine von denen, die Sie tagtäglich auf der Straße sehen. Eine von denen, über die Sie sich ärgern oder die Ihnen »den Arsch« rettet. Ganz, wie Sie es brauchen. Aber etwas hat sich verändert:
Heute bin auch ich Soziale Ansprechpartnerin der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen. Ich bin stolz darauf, das hören Sie vielleicht. Ich helfe Kollegen und Kolleginnen. Ich tue das gern. Sehr gern sogar. Ob ich das bis an mein Lebensende machen möchte, wollen Sie wissen? Mal sehen. Ich habe einen langen Weg hinter mir. Und vor mir liegt auch noch ein hoffentlich langer Weg. Da weiß man nie, was auf einen zukommt. Aber HELFEN, das tue ich vermutlich noch in dreißig Jahren. Es gibt so viele, denen geholfen werden muss. Leider überleben nicht alle. Nicht jede Frau ziehe ich aus dem Dreck oder der Bahnhofstoilette. Zum Glück nicht jede. Bei vielen übertünchen andere Dinge das, was sie ertragen mussten. Ich sehe sie täglich: als Mütter, die ihre Kinder schlagen; als Frauen, die sich zusammenschlagen lassen; als Mütter, die ihre Kinder psychisch quälen; als Frauen, die beziehungsunfähig geworden sind; an den vielen Frauen, die sich still und leise die Erinnerungen wegsaufen, die laut und aggressiv sind oder leise und zurückgezogen; Frauen, die psychosomatische Kliniken füllen und geschlossene Abteilungen; die auf dem Strich oder als Gynäkologin arbeiten, die sich selbst verraten und verkaufen und dann ihre Töchter; Frauen, die wegschauen, zulassen und aufgeben; die liegen bleiben, die einfach liegen bleiben ...
Und ich höre meinen Mann reden, der in seiner ganzen Hilflosigkeit und Ohnmacht damals den wichtigsten und entscheidensten Satz in mein Herz brannte.
Damals, als ich schreiend und weinend auf einer Matratze auf dem Dachboden unseres Hauses lag, Schaum erbrach und nach meiner Oma schrie.
Damals, als ich glaubte, ich könnte diesen Schmerz nicht überleben, ihn nicht ertragen und ihn nie wieder in meinem Leben loswerden.
Damals, als ich noch nicht spürte, geschweige denn ahnte, dass ich wieder stark werden würde, wieder Lust und Erotik genießen und die Liebe entdecken würde.
Damals, als ich noch nicht wusste, dass es einen wahren und einen falschen Traum von Liebe gibt.
Damals, als ich mich selbst noch nicht liebte.
Wenn du jetzt liegen bleibst,
dann haben DIE gewonnen!
Willst du das?