_______________KAPITEL 12_______________
Ende vom Anfang
Mutti und Papa lachten. Sie beobachteten köstlich amüsiert, wie Felix und ich gemeinsam hektisch in der Küche hantierten. Mia war aufgewacht, und ihr Schreien steigerte sich in puncto Lautstärke und Intensität sekündlich. Es war klar, dass sie Hunger hatte, und die kleine Lady konnte verdammt ungehalten werden, wenn der Mangel in ihrem Wohlbefinden nicht unverzüglich abgestellt wurde. Wir benahmen uns wie völlig normale junge Eltern: schütteten zu viel heißes Wasser ins Fläschchen, stellten fest, dass Abkühlen länger dauerte, als uns das lieb war, prüften und testeten zum siebenundachtzigsten Mal die Temperatur des Inhaltes, und bis wir endlich so weit waren, hatte Mia schon längst zum Crescendo, einem ohrenbetäubenden Gebrüll, angesetzt. Ein einziges Fläschchen. Und unsere Nerven lagen blank. So ist das nun einmal. Rückblickend betrachtet war unsere Unbeholfenheit tatsächlich nur amüsant. Nichts Dramatisches. Für mich hingegen war es dramatisch. Felix würde morgen früh schon wieder ins Büro fahren. Ich war sauer und enttäuscht. Er ließ mich hier allein mit dem Kind, und ich fühlte mich völlig überfordert.
Als Felixʼ Eltern gingen, bereiteten wir einige Fläschchen mit Milchpulver vor. Sollte Mia in der Nacht Hunger bekommen, würden wir gemeinsam aufstehen. Felix versprach es mir hoch und heilig, und ich konnte mich auf ihn verlassen. Das beruhigte mich ein wenig.
Die Tage vergingen. Ich hatte einige Arbeitsabläufe automatisiert und ganze Batterien von Fläschchen mit Milchpulver zurechtgestellt. Kalter Fencheltee, im Voraus gekocht, sorgte für schnellen Temperaturausgleich der Milch. Heißes Wasser stand immer in der Thermoskanne bereit. Mia trank langsam. Viel zu langsam. Sie schrie vor Wut und Hunger. Ich stopfte einen Breisauger auf die Flasche und drehte das viel zu große Loch nach unten. Schnell hatte Mia herausgefunden, dass sie mit ihrer kleinen Zunge die Fließgeschwindigkeit der Milch allein beeinflussen konnte, ohne saugen zu müssen. Mia fand das gut, und ich fand das noch viel besser. Ich legte den Boden des Kinderwagens mit vier Schichten einer auseinandergeschnittenen Isomatte aus, packte ein Schaffell darüber, stopfte eine Wärmflasche hinein und ging bei Arscheskälte mit Mia spazieren. Mia fandʼs super. Ich fandʼs ungemütlich und fad. Ich wollte wieder reiten. Wollte ein Mal am Tag etwas für mich allein tun. Der Kinderwagen stand fortan vor der Box mit einem großen Schimmel darin. Mia konnte stundenlang fasziniert dieses Pferd betrachten, vermutlich wegen der weißen Farbe. Der Schimmel starrte unentwegt in den Kinderwagen und war sichtlich hingerissen, wenn Mia mit ihren kleinen Ärmchen wedelte. In der Zwischenzeit ritt ich Orgulloso. Eva hatte aus Frankfurt angerufen und mir mitgeteilt, dass sich ein Ärzte-Ehepaar aus Frankfurt für Orgulloso interessiere. Ich war mal wieder auf dem Trip, nun doch Turniere reiten zu wollen. Ich kannte die Interessenten aus alten Frankfurter Zeiten und wusste, dass Orgulloso es gut haben würde bei ihnen. Wie der Baron und seine Frau waren es ganz reizende Leute. Zwei Wochen später war Orgulloso verkauft. Zu meiner größten Freude sollte er noch weitere sechs Monate in meiner Obhut bleiben. Gegen Bezahlung natürlich. Papa konnte für die Box sein Geld kassieren, und ich wertete unsere Haushaltskasse auf. Mein Gehalt war inzwischen durch ein spärliches Mutterschaftsgeld ersetzt worden, und Windeln und Milchpulver verschlangen unglaubliche Beträge im Monat.
Eines Tages, ich ritt gerade in der Halle, hörte ich Mia schreien. Vermutlich hatte sie Hunger oder die Windel voll. Beides fand Mia grässlich, und binnen kürzester Zeit schrie sie aus Leibeskräften. Entnervt stieg ich vom Pferd ab und beendete die Trainingseinheit. Papa stand am Kinderwagen und schob ihn hin und her. Er war stinkig. Ich sah es ihm meilenweit an. »Das geht doch nicht«, polterte er los, »Kind und Reiten ... Das geht nun mal nicht beides zusammen.« Erbost stapfte er ins Haus zurück. »Ich würde dir gerne die Reitkarte bezahlen, Christine, aber es geht einfach nicht!« Omi weinte. »Ich habe schon versucht, mit deiner Mutter zu reden, aber du weißt ja, wie sie ist. Es tut mir so leid!« Ich war wütend. Wütend auf meinen Schwiegervater. Packte das Pferd in die Box und wechselte Mias Windel. Mutti war nicht zu Hause. Die Stimmung im Hause Birkhoff war angespannt. Nichts für mich. Ich fühlte mich schuldig und verstand meinen Schwiegervater nicht. Er kassierte dreihundertfünfzig Mark im Monat für eine Box, die eigentlich seiner Schwiegertochter zur Verfügung stand. Also gutes Geld, das über war. Und er wusste, dass ich stolz darauf war, mit meinem Hobby Geld zu verdienen. Felix war froh, dass wir dieses Geld hatten, denn auch er hatte gemerkt, dass es mit nur einem Gehalt ganz schön eng wurde. Papa schmollte, und ich packte Mia und ging nach Hause.
Mia schrie schon wieder. In der letzten Zeit schrie sie viel. Ich las Bücher. Jedes Kind kann schlafen lernen, Jedes Kind kann Regeln lernen, Jedes Kind kann essen lernen. Hilfreiche Bücher. Ich kann sie nur jeder werdenden Mutter wärmstens empfehlen. Ich hatte mich exakt an die Ratschläge gehalten, die ich in Jedes Kind kann schlafen lernen gelesen hatte, und ab der dritten Lebenswoche schlief Mausi die Nächte durch. Mutti prophezeite zwar, dass sich das bald wieder ändern würde, aber sie lag falsch.
Überhaupt hatte sie in letzter Zeit ziemlich viele Kommentare auf Lager, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass Mia nicht meine Tochter, sondern ihre Tochter war. Ständig kramte sie in alten Bildern herum und prüfte die Ähnlichkeit zwischen Mia und ihr selbst als Kind. Und wenn das nicht passte, dann kramte sie weiter, zupfte irgendein Kinderbild von Felix aus einer der vielen Fotoschachteln und suchte zwischen ihrem Sohn und ihrer Enkelin eine Ähnlichkeit. Ich existierte nicht. Eine junge Nonne mit einem adretten weißen Mützchen auf dem Kopf hatte sich in das kleine Mädchen mit den großen Kulleraugen verliebt. Sie war so ein süßes Kind. Immer neugierig. Immer fröhlich. In letzter Zeit hatte sich die Kleine verändert. Sie schaute skeptischer. Fragender. Und ständig die blauen Flecken am Körper. Die junge Nonne spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie mochte die Mutter der Kleinen nicht. Irgendwie hatte diese Frau einen kalten Blick. Sie studierte. Wollte Lehrerin werden. Kam gelegentlich an den Wochenenden und nahm die süße Maus mit. Als die junge Nonne Christine auf den Arm nahm, schrie das Mädchen auf. Sie schrie vor Schmerzen! Die junge Nonne zog das Kind aus. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Dicke schwarze Hämatome auf kleinen Kinderschultern. Sie musste unverzüglich mit der Oberschwester reden. Ihr diese Verletzungen zeigen. Sie müssten dringend etwas unternehmen. Dringend! Außerdem konnte ich bei diesen Foto-Arien nicht mithalten. Ich besaß zwei oder drei Kinderbilder von mir, und Bilder aus meiner Säuglingszeit existierten nicht. Das war unfair. Mich machten diese Vergleiche nur wütend. Und ständig dieses »Als der Junge noch klein war, da habe ich dies, da habe ich das ...«, »Als Felix ein Baby war, da schaute er so und machte er so ...«, »Unser Junge sprach schon im Alter von ... «, »Felix war früh trocken ...«, »Ich habe das einfach soundso ... «. Es war wie verhext: War meine Schwiegermutter unsicher, dann kompensierte sie das mit aufgesetzter Souveränität, und war sie nicht unsicher, dann wusste sie es eben besser. Es war egal, was ich machte. Es war sowieso falsch. Mama und Papa würden mich wieder schlagen.
Blieb ich mit Mia allein zu Hause, dann fiel mir regelmäßig die Decke auf den Kopf. Wann immer es ging, besuchte ich Silke. Ich freute mich, wenn Tomas sein kleines Patenkind zum Lachen brachte, Hubschrauber mit ihr spielte oder den Clown mimte. Er hat eine Gabe, Kinder zum Lachen zu bringen. Felix saß den ganzen Tag im Büro und rief mehrere Male am Tag an. Meistens schrie Mia im Hintergrund, und meistens war ich entnervt. An einem Nachmittag, ich war todmüde, schrie Mia unentwegt. Sie schrie und schrie, und ich wollte nur noch schlafen. Irgendwann verlor ich die Nerven und schrie zurück. Ich schrie mein eigenes Kind an. Einen Säugling wohlgemerkt. Ich war wütend auf einen Säugling.
Tränenüberströmt rannte ich ins Badezimmer und steckte mir zitternd eine Zigarette an. Ich rauchte seit Mias Ankunft nur noch im Badezimmer. Ich war fassungslos und schockiert. Eine Studie, die ich in einer Polizei-Zeitschrift gelesen hatte, besagte, dass über achtzig Prozent aller Eltern, die als Kind geschlagen worden waren, selbst zu Tätern wurden. Wie ein Damokles-Schwert hing diese Zahl über meinem Haupt. Es schürte meine Angst vor dem Versagen. Meine Angst fraß meine Zuversicht auf. »Aus dir wird niemals etwas werden! Niemals! Du bist genauso ein Arschloch wie dein Vater. Ich könnte kotzen, wenn ich deine Visage sehe. Kotzen! Hörst du?« Pffffttttt ... Meine Mutter hatte mir ins Gesicht gespuckt. Der Speichel hing in meinen Haaren. Hing zäh in meinen Augenbrauen. In meinen Wimpern. Der Speichelgeruch hing in meiner Nase. Tagelang. Wochenlang. Lebenslang. Ich musste mich zusammenreißen. Ich war dreiunddreißig Jahre alt und Polizistin. Ich würde doch wohl noch ein Kind großziehen können. Und ob ich das würde. Mia sollte es nicht so ergehen wie mir. Sollte ich jemals noch mal diese beängstigende Wut verspüren, dann würde ich zu Silke gehen.
Ich beschloss, Silke vorzubereiten und um Hilfe zu bitten. Bevor ich Mia anschrie oder gar schlug, musste ich mich räumlich distanziert haben. Das war der einzige Weg. Ich schmiss die Zigarette in die Toilette und klingelte bei Silke. Heulte mich aus und erzählte von meiner Befürchtung. Silke war wie immer wunderbar.
»Kein Problem. Ich verstehe dich gut. Es wäre überhaupt gut, wenn du Mia mal für zwei Stunden bei mir lässt und zum Beispiel in die Sauna gehst. Sorgen zu machen brauchst du dir bei mir ja wohl nicht. Ich denke mal, dass ich etwas erfahrener und routinierter als deine Schwiegermutter bin. Dann kannst du auch wirklich mal entspannen.«
Ich umarmte Silke. Ihr Vorschlag war grandios, und ich spürte, wie innerlich eine Last von mir abfiel. Ganz so allein war ich nun doch nicht.
Mein Verhältnis zu meiner Schwiegermutter wurde merklich schlechter. Felix fuhr vom Büro aus direkt zu seinen Eltern. Er hatte seine Reitsachen bei seinen Eltern. Er hatte sein Pferd bei seinen Eltern. Er hatte seinen halben Hausstand bei seinen Eltern. Und er verbrachte mehr Zeit bei seinen Eltern als bei seiner Frau und seiner Tochter. Felix zog sich abends in Seelenruhe um. Dann studierte er ausgiebig die Tageszeitung und ließ sich von seiner Mutter bewirten. Bis Felix mit Fides sein tägliches Training absolviert hatte, waren zwei bis drei Stunden vergangen. Er hatte keine Eile. Schließlich hatte er Feierabend. Es war nie vor neun Uhr abends und selten vor zehn Uhr, bis mein Mann nach Hause kam.
Unsere Streitereien nahmen wieder zu. Sexuell tat ich mich nach der Schwangerschaft sehr schwer. Während der Schwangerschaft war ich kaum zu bremsen gewesen. Meine Frauenärztin hatte nur gelacht und meine Bedenken schnell aus dem Weg geräumt.
»Nur zu, Christine. Genießen Sie diese Zeit. Niemals wieder wird Ihr Beckenboden so gut durchblutet sein.«
Felix und ich hatten bis zur letzten Sekunde unsere Sexualität in vollen Zügen genossen. Es war auch die einzige Zeit, in der es IHM manchmal zu viel wurde, nicht MIR. Jetzt saßen wir wieder auf zwei völlig verschiedenen Planeten. Mir ging es immer schlechter, und ich kämpfte gegen meine ständig präsente Traurigkeit an. Obwohl Silke und Tomas neben meinen Schwiegereltern viel Unterstützung boten, fühlte ich mich permanent überfordert. Ich beschimpfte Felix als »Muttersöhnchen« und konnte keine sachliche Diskussion mehr führen. Ich schlug verbal wild um mich und hatte das Gefühl, mich ständig gegen alles und jeden wehren zu müssen. Meine Verletztheit saß tief. Felix lebte sein Leben weiter und tat so, als hätte sich in SEINEM Leben nichts verändert.
Mein Leben hingegen war gänzlich auf den Kopf gestellt. In wenigen Wochen würde Orgulloso abgeholt werden. Weder schmeckte mir die Vorstellung, finanziell auf meinen Mann angewiesen zu sein, noch wusste ich, was aus meinem Hobby, meiner Passion werden würde. Immer noch kümmerte sich weder mein Schwiegervater darum noch mein Mann. Ich wünschte mir einfach nur Unterstützung. Ein Gespräch vielleicht, um die eigenen Wünsche herauszuarbeiten, oder die schlichte Aufmunterung: »Komm, wir fahren mal da und da hin und schauen uns mal das und das Pferd an.« Ich fühlte mich nutzlos und überflüssig, denn für die elementaren Bedürfnisse meines Mannes (essen, trinken, reiten) reichten ihm offensichtlich seine Eltern aus. Für Felix kam ich mir erstrebens- und begehrenswert vor, wenn es um Sex ging. Ich fühlte mich auf Sexualität reduziert, denn andere Gemeinsamkeiten hatten wir nicht mehr. Selbst das Thema Wohnungswechsel schien für Felix erledigt zu sein. Aus unseren Streitereien, die mehr und mehr einseitigen Hasstiraden glichen, gingen wir stets ergebnislos heraus.
Nach und nach versank ich wieder in Depressionen. Mein Rücken versagte seinen Dienst. Kernspin, Spritzen, Kernspin, Spritzen. Eine Bandscheibenoperation wurde angedacht. Mein Gewicht sank rapide. Ich aß viel, aber nichts blieb hängen. Nachts hatte ich wieder Albträume. Diese Träume wurden schlimmer und schlimmer. Diese Träume wurden bedrohlich und raubten mir die Kraft. Phantomschmerzen tauchten auf. Ich lag im Bett, und meine Knie schmerzten, dass ich bald wahnsinnig wurde. Ich schrie vor Schmerzen und wusste nicht, was mit mir los war. In einer anderen Nacht traten unbändige Schmerzen in meinen Fußgelenken auf. Dann wieder waren es meine Schultern, dann mein Brustkorb, dann meine Handgelenke. Immer öfter wachte ich mitten in der Nacht auf, weil ich keine Luft mehr bekam. Ich stürzte zum Fenster und versuchte, die kühle Nachtluft einzuatmen. Vergeblich. Ich keuchte und schwitzte und empfand meine Situation als absolut lebensbedrohlich.
Ich rannte von Arzt zu Arzt, nichts ließ sich finden. Nichts. Alles in Ordnung, lautete jedes Mal die Diagnose. Und jede Nacht kamen sie wieder: diese grauenvollen und unerklärlichen Schmerzen. Jede Nacht. Wochenlang. Monatelang. Tagsüber heulte ich mir ständig die Seele aus dem Leib. Wegen nichts. Einfach so.
In der Zwischenzeit hatte ich wieder einmal ein Pferd gekauft. Ein wunderschönes Tier, fünf Jahre alt, gut ausgebildet und schweineteuer. Felix und mein Schwiegervater regten sich wahnsinnig auf, dass ich so viel Geld ausgegeben hatte. Ich verstand die Welt nicht mehr: Erst kümmerten sie sich nicht um mich, und wenn ich dann meine eigenen Entscheidungen traf, dann war das auch nicht richtig. Ich quälte mich mit dem Pferd ab. Der Wallach war schwierig und rannte mir buchstäblich unter dem Hintern weg. Eine junge Studentin nahm mir das Tier zweimal in der Woche ab. Sie ritt sehr ordentlich und war froh und dankbar, dass sie umsonst reiten konnte. Im Laufe der Jahre freundeten wir uns an. Oft saßen wir zusammen und rätselten, was mit dem Pferd los sein könnte. Mein erster Turnierstart war die reinste Katastrophe geworden. Eine derart schlechte Note hörte man wirklich nur selten über die Lautsprecher. Tief gekränkt und peinlich berührt machten wir uns schnell vom Acker. Ich hatte versagt. Felix hatte Recht behalten. Mein Schwiegervater hatte Recht behalten. Wir waren tatsächlich superschlecht gewesen. Ich war kurz davor, dieses blöde Hobby an den Nagel zu hängen. Eigentlich war es das Einzige in meinem Leben, das mir wirklich täglich Freude bereitete. Diese Zeiten waren lange vorbei. Felix absolvierte sein erfolgreichstes Turnierjahr. Mein Selbstwertgefühl schrumpfte immer weiter zusammen.
Anfang Oktober flüchtete ich in die Teilzeit. Ich hoffte, dass Arbeit mir guttun und ich so vielleicht wieder einen Lichtblick im Leben entdecken würde. Auch das war ein Irrtum. Als ich auf die Wache kam, empfingen mich lauter alte Kollegen. Im Praktikum war das anders gewesen. Auf dieser Wache herrschte eine Stimmung, die alle Alarmglocken in mir schrillen ließ. In einer solchen Atmosphäre kann ich keine gute Leistung bringen. Das ist im Job nicht anders als beim Reiten. Einer dieser »Kollegen« machte sich einen Spaß daraus, mich gezielt zu mobben. Bis ich diese Intrigen durchschaut hatte, war ich schon unzählige Male in die Falle des Kollegen geraten und hatte ihm dadurch ebenso unzählige Male den Nährboden für weitere intrigante Spielchen geliefert. Ich machte Fehler und wurde unsicher in meinem Agieren. Ein heftiger Streit mit meinem Vorgesetzten hatte mir im Bereich »Verhalten gegenüber Vorgesetzten« ein glattes Ungenügend beschert. Das war die Art dieses alten Dienstgruppenleiters, mir zu demonstrieren, wer hier auf der Wache das Sagen hatte. Der Behördenleiter reagierte prompt und unmissverständlich: Würde ich die um ein halbes Jahr verlängerte Probezeit nicht mit einer akzeptablen Beurteilung ablegen, so wäre meine Karriere als Polizeibeamtin unverzüglich beendet. Mit vierunddreißig Lebensjahren und fast sechzehn Jahren Berufserfahrung auf dem Buckel stand ich kurz vor der totalen Kapitulation. Tief in meinem Innersten wusste ich, dass ich keine schlechte Beamtin war. Zu Hause studierte ich die alten Zeugnisse meiner vergangenen Arbeitgeber und schüttelte den Kopf, als ich zum Vergleich das Schreiben der Behördenleitung danebenlegte.
Zum Glück änderte sich die gesamte Struktur, als mit einem neuen Inspektionsleiter und einem neuen Dienstgruppenleiter nach und nach die maroden Manifeste für ungültig erklärt wurden. Neue und jüngere Kollegen und Kolleginnen kamen zu uns in die Dienstgruppe, und einige Monate später gehörte die »alte Sauftruppe« der Minderheit an.
Silke und Tomas zogen aus. Die beiden hatten eine wunderschöne Wohnung im Grünen mit Blick auf die Felder und einem Balkon gefunden. Der Tipp für diese Wohnung kam von mir. Ich hatte es von einem alten Bauern erfahren und Silke und Tomas den Namen des Vermieters nennen können. Schon drei Tage später wedelten sie überglücklich mit dem neuen Mietvertrag in der Hand. So schnell kann das gehen, dachte ich und stürzte weiter ab. Die leere Wohnung nebenan behagte mir nicht. Ich machte Felix jeden Abend die Hölle heiß. Endlich bequemte er sich und suchte mit mir in den Tageszeitungen nach einer Eigentumswohnung. Als wir diese gefunden hatten, musste die letzte Entscheidung dann tatsächlich meine Schwiegermutter treffen. Mit dieser Geste wuchs die Verachtung für meinen Mann. Warum konnte und wollte er keine Entscheidungen mit mir gemeinsam treffen?
Darauf angesprochen stritt Felix alles ab. Selbstverständlich, so wurde er es nicht leid zu betonen, ja selbstverständlich hätte er auch dann die Wohnung gekauft, wenn Mutti »Nein« gesagt hätte. Ich glaubte ihm kein Wort. Keiner von uns war dazu in der Lage, die Gesamtsituation zu beleuchten, zu analysieren und gegebenenfalls zu ändern. Keiner konnte aus seiner Haut heraus.
Meine Mutter starrte mich hasserfüllt an. In ihrer Hand eine armdickes Büschel meiner Haare. Die Kopfhaut schmerzte, und mein Schädel drohte zu platzen. Wieder einmal war der Streit eskaliert. Ich hasste diese Frau. Hasste sie abgrundtief und wünschte ihr den Tod. »Du Mistschwein!«, keuchte sie atemlos. »Ich wünsche dir, dass du eines Tages Mutter einer Tochter wirst. Dass du eines Tages genauso ein Dreckschwein am Arsch kleben hast, wie ich das habe. Du bist das Letzte! Das Allerletzte!«
Immer wieder hielt ich mir vor Augen, dass meine Schwiegermutter ein gutherziger Mensch war. Ich informierte mich über entsprechende Fachliteratur und begriff, dass es ihr schwerfallen musste, den einzigen Sohn loszulassen. Das war vermutlich auch der Grund dafür, dass sie eines Tages völlig entrüstet in Tränen ausbrach, als sie hörte, dass ich Felix dazu verdonnert hatte, seine Wäsche selbst zu bügeln. Ihre Bitte, ihr doch wenigstens die Wäsche ihres Sohnes zu bringen, stieß bei mir nur auf Verachtung. In was für eine Familie hatte ich da eingeheiratet?
»Wenn du fertig bist mit Bügeln, dann fährst du in die Reinigung und holst Jürgens Hosen ab. Danach besorgst du Bratwurst. Jürgen möchte morgen Bratwurst mit Rotkohl. Das Bad sieht übrigens wieder aus wie Scheiße! Mach das gefälligst ordentlich, sonst knalltʼs!« Seufzend bügelte ich die Blusen und T-Shirts meiner Mutter zu Ende. Tränen tropften auf die Bluse. Es war nie genug. Sosehr ich mich auch anstrengte. Diese Frau war nie zufrieden. Ich rechnete nach: Noch über tausendvierhundert Tage bis zu meiner Volljährigkeit. Das war zu viel. Das hielt ich nicht mehr durch. Ich bügelte und bügelte und die Tränen tanzten zischend auf dem heißen Baumwollstoff ...
Als es um die Preisverhandlungen der neuen Wohnung ging, bat Felix mich um Hilfe. Er war kein Händler- und Feilschertyp und wusste das. Nach zähen Verhandlungen hatte ich den Preis um fünfundzwanzig Prozent runtergedrückt. Ich war zufrieden mit dem Ergebnis. Dafür war ich meinem Mann dann wieder gut genug, aber Entscheidungen hatte ich nicht zu treffen. Mir kam meine hierarchische Stellung, die Position in dieser Familie, irgendwie bekannt vor, aber ich konnte dieses Gefühl nicht zuordnen. Die Kommunikation zwischen uns Eheleuten war mittlerweile auf den Nullpunkt gesunken. Ahnungslos saß ich mit Felix beim Notar am Tisch und sah zu, wie der Kaufvertrag an mir vorbeigeschoben wurde. Herr Verkäufer unterschrieb. Frau Verkäufer unterschrieb. Mein Mann unterschrieb. Der Notar unterschrieb. Ich hatte nicht zu unterschreiben. Warum ich bei diesem Termin zugegen sein sollte, verstand ich nicht. Selbst die anschließende Szene, die ich Felix präsentierte, verschaffte mir keine Erleichterung, geschweige denn Genugtuung.
Die Renovierungsarbeiten raubten mir körperlich die Kräfte. Ich bin handwerklich recht geschickt und liebe es eigentlich, Wohnungen einen neuen Glanz zu verleihen.
Ich freute mich. Mit jedem Tag, der verging, freute ich mich. Ich blätterte in dem kleinen Kalender: Noch elf Tage, dann wäre es so weit. Ich wurde volljährig. »Christine, du faules Stück Scheiße! Hängst du wieder in deinem Zimmer ab und bohrst in der Nase? Hilf mir gefälligst!« Meine Mutter hatte einen alten Schrank aus Wurzelholz auf dem Sperrmüll gefunden. Der Geruch von Beize hing scharf in der Luft. Es passte gut zu ihrer Stimmung. Im Badezimmer lagen schon die neuen Fliesen bereit. Es hörte einfach nicht auf. Es war nie genug ...
Ich tapezierte und malerte und wuselte von morgens bis abends. Felix ließ mir bei der Gestaltung der Wohnung freie Hand. Ich interpretierte das als Schwäche. In meinem Ansehen sank Felix tiefer und tiefer.
Als wir die Wohnung beziehen konnten, war Mia über ein Jahr alt und konnte bereits laufen. Meine zeitliche Prognose während der Schwangerschaft war gar nicht so verkehrt gewesen. Mein Zustand hatte zum Zeitpunkt unseres Umzuges schon fast den Tiefpunkt erreicht. Sexuell spielte sich kaum noch etwas ab. Die Arbeit verschaffte mir keine Zufriedenheit, und reiterlich schlitterte ich von einer Katastrophe in die nächste. Ich hatte Capriola im Monat Februar verkauft. Jedes Jahr im Februar mussten seine Nachfolger aufgrund irgendeiner unheilbaren Erkrankung geschlachtet werden. So auch in diesem Jahr. Finanziell ruinierte mich das. Es war wie ein Fluch, der auf mir lastete. Das Geld, das viele Geld, das ich für meinen treuen Lipizzaner bekommen hatte, war kein gutes Geld. Vier Pferde in vier Jahren waren die spätere Bilanz meiner reiterlichen Laufbahn. Das fünfte Pferd, eine superschicke Rappstute mit enormer Ausstrahlung und wunderschönen Bewegungen, erblindete vierjährig durch tragische Umstände auf einem Auge. Danach war meine schwarze Schönheit nie wieder dieselbe. Sie hatte Vertrauen und Zuversicht verloren und war trotz aller Bemühungen für den Leistungssport nicht mehr geeignet. Rückenprobleme durch ständige Verkrampfungen setzten sie außer Gefecht. Hört sich bekannt an, denken Sie? Ich sage es immer wieder: Die Tiere sind ein Spiegelbild unserer Seele.
Nach Kauf dieses letzten Sportpferdes war ich bankrott.
Felix maulte ständig über meine Ausgaben. Fast dreißig Jahre lang konnte er sein Geld sparen. »Ich kann dir da nicht helfen, Christine. Wenn du den Führerschein machen möchtest, musst du deine Mutter fragen, ob sie dir vielleicht etwas dazu tut. Es wäre ihre Pflicht.« Omas Stimme zitterte. Omas Stimme zitterte immer dann, wenn ihr etwas durch den Kopf ging, das sie sehr aufregte, ds sie mir aber nicht sagen wollte.
Ich witterte etwas. Ich witterte wieder Verrat. »Sei ehrlich zu mir, Oma!« Ich sprach laut und bestimmt. »WAS ist los, verdammt noch mal?« Ich wurde ungeduldig.
Oma heulte schon wieder. Schnäuzte sich. »Ich finde, es ist die Pflicht deiner Mutter, dir den Führerschein zu bezahlen. Vor vielen Jahren hatten Uroma und ich ein Sparkonto für dich eingerichtet. Alles, was wir erübrigen konnten, haben wir aufs Sparbuch gebracht. Für dich. Für später. Für einen Moment wie diesen. Die Scheidung. Das viele Geld. Deine Mutter brauchte Geld. Und sie hatte versprochen, es wieder auf das Sparbuch zurückzuzahlen. Sie hatte es versprochen, Christine! Meinst du im Ernst, ich hätte ihr das Sparbuch gegeben, wenn ich geahnt hätte, dass sie ihr Versprechen nicht einhalten würde? Keinen Pfennig hat sie zurückbezahlt. Bis heute nicht. Und ich meine, dass dieser Jürgen genug Geld hat. Ihn hätte sie doch fragen können. Ihm hätte sie es dann doch zurückzahlen können. Es war doch dein Geld. Dein Geld, das Uroma und ich all die Jahre für dich gespart haben. Jetzt weißt du, wie ich über deine Mutter denke. Jetzt weißt du es. Es tut mir so leid, Christine.« Oma heulte schon wieder.
Ich hasste meine Mutter. Ich hasste Jürgen. Oma hatte so viel Geld für mich gespart und selbst kaum genug zum Leben. »Ich schaffe das schon, Omi. Wein bitte nicht mehr. Du kennst mich doch. Ich schaffe das auch allein. Und Mama werde ich nicht fragen. Das werde ich nicht. Und du tust es auch nicht, verstanden?« Omi nickte. Sie hatte verstanden. Ihre Enkeltochter war fleißig. Arbeitete immer. Eigentlich zu viel für ein Kind.
Felix hatte viel Geld sparen können. So viel Geld, dass wir nun davon profitierten, weil wir denkbar niedrige Monatsraten hatten, um die Restsumme unserer Wohnung zu begleichen. Mich regte bei Felixʼ Knauserigkeit auf, dass er jedes Mal ungläubig den Kopf schüttelte, dass ich keine Rücklagen gebildet hatte. Alles, was ich besaß, war durch den Verkauf von Capriola entstanden. Und alles, was ich vorher besaß, waren die Restbestände von Kasper. Althoff war ja mächtig großzügig gewesen. Das Geld von Kasper klebte an den Wänden und den Böden unserer alten Wohnung. Die Zeiten, in denen man ordentlich »Abstand« verlangen konnte, waren lange vorbei. Es gab leerstehenden Wohnraum zuhauf. Keinen Cent erhielt ich von dem investierten Geld zurück und akzeptierte es einfach. Sich darüber aufzuregen, hätte eh nichts genutzt.
Die Küche hatte ich auch noch selbst bezahlen können. Die Elektrogeräte. Und all das, was Felix so selbstverständlich jeden Tag benutzte: Handtücher und Haushaltswäsche, Oberbetten und Kopfkissen, Geschirr, Töpfe, Pfannen, Besteck, Kerzenhalter, Fernseher und Stereoanlage. Eben alles das, was man täglich benutzt und was man nicht umsonst bekommt. Es wurmte mich, dass ich zu der Eigentumswohnung lediglich das Inventar beisteuern konnte. Und es wurmte mich noch mehr, dass das blöde, reparierte Sofa, das Jürgen bezahlt hatte, nicht auf den Sperrmüll wandern durfte. Und dass ich das Bett, das mittlerweile dreizehn Jahre alt war, nicht kurz und klein schlagen durfte. All das wurmte mich. Ich hasste dieses Bett. Warum war mir eigentlich egal. Ich wollte es nicht mehr. Hunderte von Malen hatte ich Felix erklärt, wie teuer es war, wenn man von Grund auf jedes Fitzelchen neu anschaffte und selbst bezahlte. Kamen dann noch Pferd und Auto dazu, dann musste man mit Mitte zwanzig schon mächtig viel Geld verdienen, wollte man da noch »Rücklagen« bilden. Dieses Wort konnte ich nicht mehr hören. Ich reagierte allergisch darauf. Ich konnte Felixʼ Geschwafel von Eigentum und Rücklagen, seine Verständnislosigkeit und sein mangelndes Vorstellungsvermögen für MEIN Leben nicht mehr ertragen.
Felix und das liebe Geld. Nach Alfons wirkte Felix auf mich wie Dagobert Duck. Das Leben ist teuer. Ich wusste das bereits seit meinem zwölften Lebensjahr. Seit dem Tag, als ich Bierkästen stapelte und Gemüsekisten mit Blumenkohl wuchtete. Mein Leben und Arbeiten waren ausschließlich darauf ausgerichtet, den Alltag und die Passion Reiten zu finanzieren. Felix hatte gespart. Felix hatte Eltern, die ihn unterstützten. All das, wofür ich mein Geld ausgeben musste, stand ihm gratis zur Verfügung. Er war so aufgewachsen, und unsere Diskussionen wurden daher von zwei gänzlich unterschiedlichen Blickrichtungen aus geführt.
Mein Mann nervte mich in dieser Zeit so lange, bis ich letztlich auch unserer Putzfrau Adieu sagte. Als wir noch kein Kind hatten, beide arbeiteten und auf sechzig Quadratmeter wohnten, hatten wir unsere portugiesische Perle von Freunden empfohlen bekommen, und einmal pro Woche nahm sie uns den leidigen Haushalt ab und bügelte die Wäsche. Wir hatten so viel gestritten über das Thema Haushalt, dass diese Lösung die beste für uns war. Unabhängig von unserer Putzfrau schrubbte ich natürlich weiter. Hatte sie gerade alles auf Vordermann gebracht, so sah es, zumindest in meinen Augen, bereits einen Tag später wieder chaotisch aus. In mir herrschte Chaos, aber sicherlich nicht in unserer Wohnung. Ich hatte einen Putzfimmel, und der wuchs so langsam, aber sicher in Richtung Zwangsneurose.
Nun lebten wir auf über hundertzwanzig Quadratmetern, hatten Mia, unsere Arbeit und nun wieder den Haushalt am Bein. Ich war von Felix enttäuscht. Er sollte seinen Teil dazu beitragen, und alles, was ich zu hören bekam, war das Gejammer meiner Schwiegermutter, dass »ihr Junge« das nicht schaffen würde. »Du bist zu dämlich, um ein Loch in den Schnee zu pinkeln!« Verächtlich trat meine Mutter gegen den Putzeimer. Ich kniete auf dem lindfarbenen Wohnzimmerboden und mühte mich mit Flecken ab. »Du musst den Schwamm SO halten und nicht SO.« Gedankenverloren strich meine Mutter über die Türrahmen. »Beeil dich! Die Türrahmen warten auf dich. Von alleine siehst du wohl gar nichts, he? Das sieht doch ein Blinder, dass die ʼs mal wieder nötig haben. Ich muss jetzt los.« Die Tür fiel ins Schloss, und Hund und Mutter verschwanden. Sie traf sich mit einer Freundin, die ebenfalls einen Hund hatte. Wenn ich fertig war, müsste ich noch zu Jürgen in die Firma. Jürgen war ungeduldig. Das letzte Mal war schon über eine Woche her ...« Meine Putzneurose nahm abenteuerliche Formen an. Jeden Morgen stand ich um halb sieben parat, unabhängig davon, ob ich Spätdienst oder Nachtdienst hatte, bereitete das Frühstück, machte Mia fertig und wartete während des Frühstücks schon darauf, dass Felix die Wohnung endlich verlassen würde. Ich räumte den Tisch ab, parkte Mia vor dem Fernseher mit den Teletubbies und begann. Jeden gottverdammten Tag saugte ich die Wohnung, wischte den Boden, putzte den nicht vorhandenen Staub weg, schrubbte das Badezimmer, polierte die Armaturen usw. ... Unsere Betten sahen aus wie mit dem Lineal gezogen, nicht ein Zettelchen lag auf der Küchenanrichte, die Fenster stets blitzblank, der Hausflur wie geleckt, die Wäsche im Schrank perfekt gefaltet und gebügelt und die Konserven nach Inhalt und Verfallsdatum ordentlich sortiert.
»Du musst lernen, ein ordentlicher Mensch zu werden. So geht das nicht weiter.« Jürgen schüttelte mit seinem »Da-binich-aber-enttäuscht«-Blick den Kopf. »Du weißt doch, wie die Mami ist. Warum provozierst du sie dann noch? Ich kann doch nicht ständig aus dem Büro kommen, nur weil ihr beiden euch die Köpfe einschlagt. Versprich mir das, Christine. Hand drauf. Ab heute wirst du ein ordentlicher Mensch, ja?«
Verheult reichte ich Jürgen die Hand. Ich war zwölf Jahre alt, und Jürgen beschützte mich vor meiner Mutter. Wäre er nicht gekommen, hätte sie mich womöglich totgeschlagen. Jürgen war lieb. Jürgen hatte mich lieb. Ich hatte Jürgen lieb. Ich wollte ein braves Mädchen sein. Ordentlich eben.
Ich saß am Küchentisch und rauchte eine Zigarette. Schon wieder überfiel mich eine innere Unruhe. Ich durfte nicht herumsitzen. Mia schrie schon wieder. Keine zwei Stunden konnte sie aushalten. Es war zum Verzweifeln. Und es hörte nicht auf. Ich musste noch zum Einkaufen und das Abendessen kochen. Und die nächste Maschine Wäsche war auch schon wieder fällig. Eben noch alles weggebügelt, da war die Wäschetruhe voll. Es hörte nie auf.
Felix nervte mich. Wenn ich schon diesen Blick sah, den er aufsetzte, wenn ihm die sexuelle Lust aus den Augen quoll. Ekelhaft.
Ich duschte und versuchte unter der Dusche, die Flecken aus dem Bikini zu waschen. Oh Gott! Es war mir schrecklich peinlich gewesen, dass ich am Strand meine Tage bekommen hatte. Ich heulte. Der schöne Bikini. Ich hatte das Schnittmuster in Mamas Brigitte gefunden und mit Omas Hilfe das erste Mal ein Kleidungsstück selbst genäht. Der schöne weiße Bikini. Die Flecken gingen nicht raus. Ich war unruhig. Hektisch. Nervös. Ich war nicht gern allein im Apartment. Selbst hier in Spanien war ich vor Jürgen nicht sicher. Alle waren unten am Strand. Schnell trocknete ich mich ab. Wollte gerade aus der Dusche steigen. Da stand er schon vor mir. Lüsterner Blick. Die Augen auf meinen schmalen Körper gerichtet. Es hörte nie auf. Ich würde ihm nie entkommen. Und es reichte nicht. Es war nie genug, was ich tat. Was auch immer ich tat, es war nie genug ...
Felix war einen Abend zu mir ins Bad gekommen. Ich hasste es, wenn ich meine Ruhe haben wollte, Felix aber dennoch ins Bad kam. Ich stieg gerade aus der Dusche, da stand er plötzlich vor mir. Lachte mich lüstern an und grinste. »Lecker siehst du aus«, sagte er.
Ich malochte den ganzen Tag und hatte wahnsinnig viel zu tun mit dem Haushalt, mit Mia, mit den ständig kranken Pferden, mit der Arbeit auf der Wache. Ich machte und tat, und Felix ließ mich im Stich. Wenn er Sex wollte, dann liebte er mich auf einmal. Aber bei allen anderen Sachen liebte er nur sich selbst. Ging reiten, während ich putzte. Fuhr zu seinen Turnieren, während ich den Hof fegte und die Stallungen einstreute. Nicht einer sagte Danke. Meine Schwiegermutter nicht. Mein Schwiegervater nicht. Mein Mann nicht. Nicht einer. Mia schon mal gar nicht. Die war ja auch zu klein. Und anstrengend. Das Kind raubte mir den letzten Nerv. Dass ich dünner und dünner wurde, interessierte niemanden.
»Lass mich gefälligst in Ruhe!«, schrie ich Felix im Bad an. »Wenn du im Alltag nur halb so agil wärest wie im Bett ... Du kotzt mich an. Was kannst du an mir nur ›lecker‹ finden? Brüste wie Fahrradschläuche! Lecker, ne? Ist dir doch egal, was da unter dir liegt. Hauptsache, rein damit.« Das saß! Ich wusste es: DAS saß!
Felix stand erschüttert vor mir. Er kämpfte mit den Tränen. Schaute mich mit seiner unendlichen Güte traurig an.
Omi heulte. Sie legte ihre Hand auf meine Hand. Wir saßen am Küchentisch ihrer großen Wohnküche, und der Ofen bollerte seine Hitze in den Raum. Omi hatte noch schnell Briketts in den Ofen geworfen, als ich kam. Sie wusste, dass ich die Wärme liebte. »Christinchen, mein armes Mädchen. Jetzt hör doch auf zu weinen. Was ist denn los mit dir? Ich mache mir solche Sorgen um dich. Da stimmt doch was nicht. Nun sag schon.« Zärtlich drückte sie meine Hand.
Ich konnte es ihr nicht sagen. Es hätte ihr das Herz gebrochen. Vorgestern noch hatte ich im Krankenhaus gelegen. Auf der Intensivstation. Wo sich die Frau die Schläuche aus den Venen gerissen hatte. Wo der Arzt mich so lange angeschaut hatte. Wo mir der Auftritt meiner Mutter so furchtbar peinlich gewesen war. Wenn ich Omi das erzählte, wenn ich Omi das ALLES erzählte, dann wäre sie gestorben. Herzinfarkt oder so. Und Omi durfte nicht sterben. Jürgen sollte sterben. Meine Mutter sollte sterben. Ich sollte sterben.
»Ist es wieder wegen deiner Mutter?«
Ich nickte. Weinte weiter.
Omi weinte mit. Sie schnäuzte sich die Nase. »Ich habe mal gelesen, dass es da Leute gibt, die mit einem reden, wenn man ein Problem hat. Psychologen. In der Frau im Spiegel schrieben sie, dass einem das wirklich helfen könnte. Aber es ist sehr teuer. Ich hab mich da mal erkundigt. Das ist leider viel zu teuer. Irgendetwas liegt dir schwer auf der Seele. Ich spüre das. Christinchen. Wenn ich könnte, ich würde dir sofort so eine Therapie bezahlen. Ich kann das aber nicht. Es tut mir so leid.« Wieder ein fester Händedruck.
Omi und ich saßen am Küchentisch und heulten und heulten. Omi tat mir leid. Ich tat mir leid. Ohne Omi war ich verloren. Alleine und verloren.
Felixʼ Blick ging mir durch Mark und Bein. Ich war ordinär. Ich war verletzend. Ich war brutal. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Wie konnte ich mich denn so benehmen? Tränen stiegen in mir hoch. Bittere, salzige, unaufhaltsame Tränen der Schuld. Es stimmte nicht, was ich gesagt hatte. Ich wusste das. Ich spürte es genau in diesem Augenblick. Es tat mir leid. Unendlich leid.
»Hör auf zu weinen, Christine. Komm doch mal zu mir.« Felix wollte mich umarmen.
Das war zu viel. Das ging nicht. »Fass mich nicht an!«, kreischte ich los.
Ich wusste nicht, wie ich mit Felix noch reden sollte. Er hatte eine Gabe, immer im falschen Moment das Falsche zu sagen und das Falsche zu machen. Oder er sagte einfach gar nichts und machte auch nichts. Unsere Ehe war am Ende. Felix und ich waren gescheitert. Ich hatte mir das alles anders vorgestellt. Die Hoffnung, in eine nette Familie einzuheiraten und mich geborgen zu fühlen, schwand dahin. Felix war ein Muttersöhnchen und kommunikativ einfach unfähig. Und er war ein ausgesprochener Egoist. Und ein Geizhals. Ein richtiger Geizhals. Dass ich mit so einem Mann eine Familie gegründet hatte, war ein Riesenfehler. Mia. Mia sollte in einer richtig schönen und harmonischen Familie aufwachsen. Das hatte ich mir geschworen. Das hatte ich ihr geschworen.
Als wir uns in der neuen Wohnung eingelebt hatten und Pferd Nummer zwei gerade sein Leben gelassen hatte, wusste ich noch nicht, dass es so weitergehen würde. Zum Glück wusste ich das nicht. Ich kämpfte immer noch gegen meinen Absturz und realisierte nicht wirklich und nicht in aller Konsequenz, dass die Schussfahrt ins Verlies schon lange begonnen hatte und unaufhaltsam war.
Das Kind im Verlies lebte. Es starb nicht. Es wartete. Es wartete. Es wartete. Die Wärter weg. Der Drache tot. Die Gefängnistür immer noch zu. Man hatte sie wohl vergessen. Damals. Als die große Schlacht tobte. Als es juchzend voller Freude in seinem Verlies tanzte. Auf Befreiung hoffte. Die große Schlacht. Das war toll gewesen ... Das Mädchen hockte in der Ecke seines dunklen und modrigen Verlieses. Die Arme um die Beine geschlungen. Den Kopf auf die Knie gestützt. Sie würde warten. Sie würde nicht sterben. Auch ohne Nahrung würde sie nicht sterben. Sie würde warten. Weiter warten. Wenn es sein musste, ein Leben lang.
Außer einem guten Psychiater und Therapeuten hätte mir bereits jetzt niemand mehr helfen können. Keiner aus der Familie Birkhoff hätte auch nur ansatzweise ahnen können, welche Mechanismen bei mir in Gang gesetzt worden waren. Neulich sah ich die Domino-Weltmeisterschaften im Fernsehen. Riesige Säle gefüllt mit Millionen kleiner Dominosteinchen. Meine schicksalhafte Talfahrt als Nicht-Fachmann stoppen zu wollen wäre so erfolgreich gewesen wie die Ausrichtung der Domino-Weltmeisterschaften im Auge von Hurricane Caterina. Ich suchte mein Heil in Psychopharmaka. Die halfen ein bisschen. Aber auch nicht richtig. Die Albträume blieben. Die nächtliche Atemnot blieb. Mysteriöse Schmerzen in den Extremitäten. Immer nachts. Ich verstand mich nicht mehr. Felix nicht mehr. Meine Schwiegereltern nicht mehr. Mein Leben nicht mehr. Meine Welt nicht mehr. Die Leere wurde größer und größer. Und Mia wurde immer aggressiver ...
Mia, unser aufgewecktes Mädchen, spürte zu dieser Zeit sehr deutlich, was auch ich spürte und nicht beschreiben konnte. Mias Mutter war präsent. Aber nur als Hülle. Als Fassade. Wenn man als Mutter einem kleinen Menschenwesen Halt und Zuversicht geben möchte, dann muss man diese Attribute in seinem Innersten besitzen.
Mia war jetzt schon in der Phase der Revolte. Zu Hause schrie sie vor Wut und schlug den Kopf auf den Boden. Ihre Zerstörungswut kannte keine Grenzen und machte auch vor sich selbst nicht Halt. Immer wieder nahm ich Mia mit in den Stall und setzte sie auf einen Isländer, der uns von Einstellern für unsere Ausritte zur Verfügung gestellt worden war. Es war meine einzige Chance, meiner Tochter und mir Stunden der Harmonie, der schönen Zweisamkeit und Geborgenheit zu verschaffen. Mein Schwiegervater erklärte mich für »bekloppt« und half uns, stur wie er war, nicht ein einziges Mal auf das Pony rauf. Mia konnte noch nicht allein auf dem Isländer sitzen, und es waren andere Leute vom Hof, die mir die Kleine anreichten, wenn ich schon oben saß.
Wir flüchteten vor dem Alltag. Mia und ich erkundeten auf dem Rücken des Ponys die Natur und die Landschaft. Sie saß vor mir auf dem Pferdchen, lehnte sich an meinem Bauch an und spürte die Kraft und die Festigkeit meiner Hand an ihrer kleinen Taille. Das war es, was uns immer wieder rettete: gegenseitiges Vertrauen und die Möglichkeit für Mia, immer wieder festzustellen, dass Mama stark war. Manchmal jedenfalls. Im Alltag hatte sie genug Grund, an meiner Stärke zu zweifeln. Auch bei diesen Ausritten kam mir wieder meine Fähigkeit zu Hilfe, völlig abzuschalten und mit mir selbst zufrieden zu sein, wenn niemand an diese fragile Seele rührte.
Während unserer Ausritte sahen wir viele Tiere: Hasen, Kaninchen, Rehe, Bussarde und viele schöne Ziervögel. Ich liebte es, meiner kleinen Tochter die Welt zu zeigen, und erklärte ihr mit Begeisterung alles Neue. Es waren die wenigen Momente, in denen ich nicht nur stark auftrat, sondern auch stark war. Das kam an bei Mia. Es gibt bei uns einen Baum im Wald, dessen Baumstamm direkt in Augenhöhe eine Aushöhlung aufweist, die aussieht wie eine Vogeltränke. Diesen Baum erreicht man aber nur, wenn man vom Weg abreitet und durch das tiefe Laub direkt in den Wald hineingeht. Wir fanden das beide immer sehr spannend, und das Pony trat geschickt und sicher auf diesem unebenen Boden auf. In den Sommermonaten nutzten die Vögel tatsächlich dieses Wasserreservoir aus der natürlichen Vogeltränke. Das konnten wir unzählige Male beobachten. Als Mia in einem trockenen Sommer feststellte, dass das Regenwasser fast verdunstet war, machte sie sich schreckliche Sorgen um die Vögel. Sie hatte tatsächlich die Befürchtung, alle Vögel am Himmel könnten nun verdursten und sterben. Ihre Mama hatte die rettende Idee, und Mias Herz flog mir entgegen: Fortan ritten wir stets mit einer vollen Volvic-Flasche los, und mit strahlenden Augen schüttete Mia vom Pony aus das Wasser in die Tränke.
Zu Hause fanden die Tobsuchtsanfälle von Mia kaum noch ein Ende. Meine hingegen hatten aufgehört. Mia und Felix sahen mich die meiste Zeit nur noch heulend am Küchentisch. Ich war auf dem besten Wege, mich selbst aufzugeben. Vielleicht hatte es ein Gutes, dass ich mich damals mit Antidepressiva vollstopfte. Vielleicht. Wenn Mia »Kinder« sagen wollte, dann benutzte sie das Wort »Tetta«. Immer wieder rannte sie über den Hof meiner Schwiegereltern und rief »Tetta«, »Tetta«. Mir zerbrach es das Herz. Ich hatte den Eindruck, dass Mia instinktiv wegwollte von mir. Dass sie instinktiv den Umgang mit ihresgleichen, mit Kindern, bitter nötig hatte. Mir wurde bewusst, dass ich Mia nicht mehr guttat. Eine schmerzhafte Pille für mich. Gleichzeitig aber merkte ich auch, dass Mia, meine eigene Tochter, mir selbst nicht guttat. Und diese Erkenntnis war noch viel schmerzhafter. Ich fühlte mich, als ob ich mein eigenes Fleisch und Blut nicht mehr ertragen konnte. Ich fühlte mich wie eine Rabenmutter. »Du kotzt mich an. Hätte ich gewusst, was aus dir geworden ist ...« Ich kapitulierte als Mutter und versuchte zu retten, was noch zu retten war.
In der Kindertagesstätte schwang ich eine beeindruckende Rede. Der Leiter der Kita hatte mir gerade erläutert, dass ich weit hinter den alleinerziehenden Müttern auf der Warteliste rangieren würde. »Ach ja? Das ist ja interessant!«, hatte ich provokativ geantwortet. »Und was bin ich? Mein Mann verlässt morgens um halb acht das Haus und kommt abends nicht vor neun Uhr nach Hause. Ich muss arbeiten gehen. Wie stellen Sie sich das vor? Im Schichtdienst! Mein Frühdienst beginnt um halb sechs, mein Spätdienst um halb zwei und mein Nachtdienst um halb zehn abends. Meinen Sie, das ist einfacher für mich, weil ich VERHEIRATET bin? Meinen Sie das wirklich?«
Im Gegensatz zu der Dame vom Jugendamt reagierte der Leiter der Kita ausgesprochen menschlich. Die Dame vom Jugendamt hatte mir am Telefon noch vormittags schnippisch geantwortet: »Tja, so ist das nun mal. Wenn Sie verheiratet sind, dann brauchen Sie nicht arbeiten zu gehen!« Mir lag die Frage auf der Zunge, ob sie lesbisch sei oder welch anderer schrecklicher Grund SIE in die Berufstätigkeit trieb, hatte mir diese Antwort aber zum Glück verkniffen und einfach aufgelegt. Besser warʼs. Der Leiter der Kita erhielt vom Tage meines Besuchs an regelmäßig einen freundlich-zwitschernden Morgenanruf. Am vierten Tag hatte er die Nase voll. Bei Franz Althoff hatte das damals auch gewirkt. Probieren Sieʼs einmal aus: Wenn Sie Glück haben, sind die Leute es so leid, Ihren Namen zum x-ten Male zu hören, dass Sie bekommen, was Sie wollen. Wenn nicht, auch egal. Sie habenʼs dann wenigstens versucht. Ich unterschrieb erleichtert den Betreuungsvertrag und erhielt den Kitaplatz für Mia, als sie genau eindreiviertel Jahre alt war und »Tetta, Tetta« rufend über den Hof rannte.
Mittlerweile hatte Mia schon so viel Ungutes adaptiert, dass es höchste Zeit wurde, dass sie mehr mit Kindern spielte. Als ich sie zwei Wochen vor Kita-Beginn dabei beobachtete, wie sie mit originalgetreu nachgeäfftem schwiegermütterlichem Stöhnen schwerfällig aufstand, da wusste ich, dass meine Entscheidung goldrichtig gewesen war! Mia machte nun auch noch Probleme beim Essen. Ich weigerte mich energisch und bestimmt dagegen, dass die Regel »Man muss seinen Teller leer essen, sonst regnetʼs« im Hause Birkhoff auf Mia übertragen wurde. Ich wollte nicht künstlich eine ständig diäthaltende Frau heranziehen, sondern ihr beibringen, dass man so lange isst, bis man satt ist. Teller halbvoll, viertelvoll, gar nicht voll. Egal! Wir nahmen jeden Tag bei meinen Schwiegereltern das Mittagessen ein. Zu Hause fühlte ich mich einsam. Außerdem schmeckte mir die Küche meiner Schwiegermutter vorzüglich, und ich brauchte nur für den Abend zu kochen.
Wenn man aber so eng mit drei Generationen jeden Tag zusammen ist, dann ist die Gefahr, dass der Schuss nach hinten losgeht, relativ groß. Grenzen verschieben sich, alle fühlen sich für alles verantwortlich, und irgendwann diskutiert man selbst über die Entscheidungen, die einem nicht zustehen. Aus so einer Nummer kommt man nur schlecht wieder raus, und oft muss man Porzellan zerschlagen, um das eigene Revier wieder abzustecken. Mia sollte den Teller leer essen, und ständig schob meine Schwiegermutter noch ein Löffelchen, wieder ein Löffelchen und dann das vorletzte des allerletzten Löffelchens in das bereits pappsatte Kind hinein. Wenn ich dann mopperte, dann schaute mich meine Schwiegermutter mit ihrem »Was-du-schon-wiederhast«-Gesicht an und machte weiter. So, als ob ich gar nichts gesagt hätte. So, als ob ich nicht die Mutter wäre. So, als existierte ich gar nicht. Irgendwie war ich überflüssig. Das kam mir alles bekannt vor, und wie eine Morgendämmerung schoben sich Erinnerungsfetzen unaufhaltsam in mein Bewusstsein. Mia bekam diesen täglich wiederkehrenden Streit mit, verband Essen mit Disharmonie und ... jetzt aß sie gar nicht mehr. Das Problem hörte zum Glück binnen kürzester Zeit auf, als Mia in die Kita kam.
Drei Monate vor Beginn der Kitazeit erzählte ich meinem Mann und meinen Schwiegereltern von meinem Vorhaben, die Kleine in Betreuung zu geben. Ich hatte auf ihre Zustimmung gehofft, spätestens nach meiner Überzeugungsarbeit. Felix quälte sich nur widerwillig zwecks Besichtigung der Kitaräume dorthin und hatte Angst, dass sein kleines Mädchen inmitten der Kinderschar untergehen könnte. Stundenlang hatte ich auf ihn eingeredet, sämtliche Bedenken vom Tisch gefegt, und als wir endlich inmitten der Kitakinder standen und er gerade anfangen wollte, das Ganze doch ein wenig gut zu finden, da drückte ein etwa dreijähriger Junge einem jüngeren Kind die Gurgel zu. Das beherzte Einschreiten der Erzieherinnen konnte dieses traumatische Bild auch nicht wiedergutmachen. Mit weit aufgerissenen Augen stand Felix zwischen den lärmenden Kindern und starrte mich ungläubig an. »Das ist doch nicht dein Ernst?«, war alles, was er noch rausbrachte. Ich begrub, wie schon so oft, meinen Traum von Loyalität und Unterstützung. Ich rief Dana an. Heulend und völlig verzweifelt. Dana hatte mittlerweile vier Kinder. Kitakinder. Hübsche, nette, normale, sympathische und ihre Mutter liebende Kitakinder. Sie gab mir die Kraft, durchzuhalten und mich entgegen aller Widerstände ein letztes Mal durchzusetzen.
Meine Schwiegereltern sprachen ab sofort kein Wort mehr mit mir. Der tägliche Gang zum Pferd wurde ein schwerer Gang. Wenn ich zum Dienst musste, brachte ich Mia nur widerwillig zum Hof. Mutti, in ihrer Verzweiflung und mit ihren ganz eigenen Verlustängsten und Sehnsüchten, verwöhnte Mia immer mehr, je näher der Tag der Kita rückte. Es war eine bedrückende Atmosphäre, so als hätte ich das Kind für das Schafott angemeldet, nicht für die Kita.
In meiner Fantasie lief ein Film ab. Eine Mischung aus einem Gemälde von Brueghel und einem Bild vom sterbenden Jesus: Ich, in einem mittelalterlichen Gewand, zerre herzlos meine barfuß laufende, in Lumpen gekleidete und sich heftig wehrende Tochter die Stufen zum Schafott hoch und drücke ihr Köpfchen unter das Fallmesser einer Guillotine. Meine Schwiegermutter, in ein bäuerliches Kleid mit abgewetzter Schürze gehüllt, krallt sich mit letzter Kraft und völlig hilflos wirkend an meinem Bein fest und wird bei jedem Schritt von mir die Stufen mit hochgeschleppt. Sie schluchzt bitterlich und fleht um Gnade. »Habt Erbarmen, Frau! So habt doch Erbarmen. Es ist doch nur ein Kind. Habt ein Einsehen.« Flehender Blick von unten nach oben.
Am Fuße des Schafotts tobt die skandierende Masse und schreit mir hasserfüllt entgegen: »Steinigt sie! Steinigt sie! Rabenmutter! Rabenmutter!« Schnitt.
In einem bösen Streitgespräch schleuderte Mutti mir eines Tages entgegen: »Was kostet diese Kita? Was? Siebenhundert Mark im Monat? Dann gib MIR das Geld! Ich kann das besser! Und eines sage ich dir: Wenn du das Kind in die Kita gibst, dann werden sich für dich hier einige Dinge ändern. Merk dir das gut!«
Mein Schwiegervater setzte dem noch eins drauf: »Und glaub man ja nicht, dass ich einen Fuß in diese Kita setze. Nicht einen. Kannste mal zusehen, wer die Kurze da abholt. WIR nicht!« Sprachʼs und blätterte weiter in seinem Landwirtschaftlichen Wochenblatt.
Unser Verhältnis war zerrüttet.
Menschen, die mir drohen, egal ob Vorgesetzte, Freunde oder meine Familie, verspielen meinen Respekt. Ich meine damit nicht das Aufzeigen von Konsequenzen. Ich meine diese Formulierungen wie »Dann lernen Sie mich kennen« oder »Dann wirst du schon sehen, was passiert!« oder »Das wirst du bitter bereuen!« oder eben »Dann werden sich für dich einige Dinge ändern!«. Ich gehöre nicht zu den »Untertanen«, die devot in die Knie gehen, wenn insbesondere Vorgesetzte, also Führungskräfte, mir mit solchen Machtspielchen kommen. Bei Machtspielchen setzen wichtige Kontrollmechanismen in meinem Verstand aus. Das Beste ist dann, wenn ich gar nichts mehr sage. Alles, was mir an Äußerungen noch provokativ entlockt wird, ist hochgradig destruktiv.
Als meine Schwiegermutter damals Wind davon bekam, dass ich mir unbedingt wieder einen Hund zulegen wollte, stellte sie kurz und knapp klar, wie sie darüber dachte: »Du weißt ja, dass fremde Hunde nicht auf den Hof dürfen.« Thema erledigt. FREMDE Hunde. SO war das also. In meinem damaligen Zustand traf das tief und zog mich weiter nach unten. Wieder eine Stufe tiefer auf der Hierarchieleiter. Und auch das Thema »zweites Kind« ließen wir nicht aus. Mutti stellte energisch den Topf auf die Herdplatte und wies mich zurecht: »Glaub man ja nicht, dass du dann zwei Kinder hier abliefern kannst.« Mia war da bereits in der Kita, und zu keinem Zeitpunkt hatten wir Mia zuvor bei meinen Schwiegereltern »abgeliefert«. Meine Schwiegereltern schlugen sich um ihr Enkelkind, da konnte von »abliefern« keine Rede sein. Ich weiß nicht, warum Mutti damals so etwas gesagt hat. Ich bin mir sicher, dass sie sich diese Frage selbst nicht beantworten kann. Aber vielleicht strahlte ich schon so viel Kraftlosigkeit aus, dass sie das Gefühl hatte, noch eine Person mehr schultern zu müssen. Ein solches Gefühl kann einen erdrücken. Es ist diffus, aber es ist da. Vielleicht hatte sie auch nur Angst um ihren Sohn. Es war unübersehbar, dass unsere Ehe den Bach runterging.
Als ich Felix um ein zweites Kind anflehte, stritten wir wieder wochenlang. Die Atmosphäre war genauso wie kurz vor unserer standesamtlichen Hochzeit. Ja, nein, ja, nein, jein, nein, nein, nein! Dazwischen ein Meer von Tränen. Felixʼ Nein brach mir endgültig das Genick. Alle Frauen schienen ihren Job besser zu machen als ich. Ich, die ich die Wohnung so vorbildlich sauber hielt, die ich Felixʼ Unterhosen ganz gerade faltete, die einkaufte, kochte, putzte und Haushalt, Job, Hobby und Kind prima managte. Ich erhielt mit Felixʼ Nein einen Gehaltsauszug der letzten zwei Jahre unter die Nase gehalten. Einen Gehaltsauszug, auf dem in großen Lettern stand: NULL! Ich war eine Null. Hatte offensichtlich nicht zu seiner Zufriedenheit gearbeitet. Hatte es nicht verdient, Mutter eines zweiten Kindes zu werden. Ich hatte es MIR nicht verdient, mich noch einmal fortzupflanzen. Nicht MEINE Gene. Bloß nicht noch mal.
»Wolltest du nie ein zweites Kind?« Ein angeekelter Blick traf mich. Falsche Frage. Mama war doch nicht so gut drauf. Ich hatte einfach nur schwatzen wollen. Allgemeines Geplänkel. Vielleicht ein klein wenig meinen Stellenwert ausloten wollen. Vielleicht einfach mal etwas Nettes hören. Wie konnte man nur so gemein gucken? Es war mir unerklärlich.
Als Mama den Mund aufmachte, sah sie aus, als müsse sie sich jeden Moment übergeben. »Um Gottes willen! Dann hätte ich ja zwei von deiner beschissenen Sorte. Nee! Danke! Du Blag hast mir schon bei der Geburt völlig gelangt. Völlig!«
Felix hatte es mir gerade präsentiert. Ungenügend. Setzen. Ein Kind reicht. Der Stachel saß tief. Bohrte sich unaufhaltsam in meine Seele. Es tat so weh. So entsetzlich weh. Ich musste weg von diesem Mann. Dieser Mann liebte mich nicht. Dieser Mann hatte mich belogen und betrogen. Er war zu mir gezogen, weil ich ihn gezwungen hatte. Er hatte mich geheiratet, weil ich ihn gezwungen hatte. Er hatte mir ein Kind gemacht, weil ich ihn gezwungen hatte. Er hatte die Eigentumswohnung gekauft, weil ich ihn gezwungen hatte. Er hatte noch nie etwas selbst gemacht. Noch nie. War da irgendwann einmal Eigeninitiative? Ich konnte mich nicht erinnern! Oh! Doch! Klar! Wenn Felix Sex wollte, dann, aber auch nur dann, zeigte er Eigeninitiative. Sein ganzes Geschwafel von wegen »Magst du dies gerne? Magst du das gerne? Wie hättest du es denn gerne?«. Alles gelogen. Geheuchelt. Damit ich zu Diensten war. Damit ER auf seine Kosten kommt. Damit ER sich gut fühlt. Mein Höhepunkt? Den gab es doch nur, damit ER sich als Held fühlte: Ich, der große Felix Birkhoff. Ich habe es ihr das erste Mal besorgt.
Wie hatte ich nur so einen Egozentriker heiraten können? Ich schlug die Hände vors Gesicht. Heulte. Weinte salzige Tränen. Ich hielt das nicht mehr aus. Warum? Unzählige Male heulte und bettelte ich. Sag mir wenigstens den Grund. Warum nicht? WAS habe ich falsch gemacht? Bitte, WAS?
Eine düstere Zeit brach an. Noch düsterer als jemals zuvor. Ich sah die Sonne nicht mehr. Felix war außerstande, mir meine Frage nach dem »Warum nicht?« zu beantworten. Zuckte immer unwissend mit den Schultern. Ich fragte immer wieder danach. Jeden Tag. Jede Woche. Jeden Monat. Jedes Jahr. Ich fing immer wieder mit diesem Thema an. Immer wieder. Es ließ mir keine Ruhe. Es ließ auch Felix keine Ruhe. Selbst Jahre später, als wir uns wieder annäherten, kam immer wieder dieses Thema auf den Tisch. Ich würde so lange keine Ruhe geben, bis ich den Grund kannte. Den Grund für sein »Nein«. Nein zur Hochzeit und viel, viel, viel schlimmer, Nein zu einem zweiten Kind.
Felix konnte mir seine Gefühle damals nicht erklären. Sich selbst konnte er diese Gefühle nicht erklären. Aber sie waren da. Gefühle von Angst. Felix hatte panische Angst, dass etwas kaputtgehen könnte, das außerhalb seines Einflussbereiches stand. Er ist Bauingenieur. Und mir fällt ein, wie Felix von einem Brückeneinsturz hörte, der auf einen Konstruktionsfehler zurückzuführen war. »Das ist der GAU!«, kommentierte er diese Schlagzeile. »Wenn dir das passiert, dann ist alles vorbei. Dann kannst du einpacken.« Felix setzt sich Tag für Tag mit irgendwelchen Brückenkonstruktionen auseinander.
UNKALKULIERBARKEIT ist das Panikwort des Bauingenieurs.
UNKALKULIERBARKEIT ist Felixʼ Panikwort.
UNKALKULIERBARKEIT ist auch mein Panikwort.
Felix liebte mich schon damals für die schönen Seiten der Unkalkulierbarkeit: mein Temperament, meinen Ideenreichtum, meine Ziele, meine Träume, meine Leidenschaften, meine Fantasie, meine Spontanität, meine Kreativität, meine Impulsivität, meine Schlagfertigkeit. Er liebte mich so, wie ich bin. Aber er spürte auch die andere Seite dieser Unkalkulierbarkeit. Und er zögerte. Er zauderte. Er verharrte. Er hielt aus. Er hielt stand. Ich hielt meinen Mann für schwach. Ich war der pazifische Sturm gegen ihn. Ich frage mich: Was ist stärker? Der pazifische Sturm oder die westfälische Eiche?
Seine ständige Zurückhaltung wirkte auf mich wie Schwäche. Verwurzeltsein mit der Heimat, das ganze Gesülze von »Heimatgefühl«, die Verbundenheit mit dem elterlichen Haus, das Sichverpflichtetfühlen dem landwirtschaftlichen Betrieb gegenüber, diese Attribute rangen mir höchstens ein geringschätziges Lächeln ab. Ich kannte so etwas nicht. Ich litt. Wartete auf Anerkennung. Wartete auf Initiative. Wartete darauf, dass Felix sich erklärte. Offenbarte. Preisgab. Ich konnte es nicht. Er konnte es nicht. Wir saßen im selben Boot. Nicht auf zwei verschiedenen Planeten.
Mein Absturz war heftig und plötzlich wie ein Monsunregen. Von heute auf morgen ging gar nichts mehr. Ich schluckte vier, fünf, sechs Fluoxethin, aber auch das hielt diesen Niedergang nicht auf.
Es begann an einem Morgen, an dem ich Spätdienst hatte. Völlig erschöpft fuhr ich wie ein Roboter Mia in die Kita. Froh, dass ich sie los wurde. Ich fuhr zum Stall und wollte reiten. Mir war das Pferd gleichgültig, und mir war das Reiten gleichgültig. Es war mir einfach alles gleichgültig! Unverrichteter Dinge schleppte ich mich nach Hause. Ich fand alles schmutzig und unordentlich, aber auch das war mir egal. Ich würde krank werden, dachte ich noch. Kein Wunder! Ich wog nur noch sechsundvierzig Kilo, und diese immer wiederkehrenden Schmerzen in der Nacht waren sicher nicht normal. Vielleicht hatte ich ja Krebs. Irgendein krankhaftes Gewächs im Körper. Ich fühlte mich so. Im Dienst war ich vergesslich geworden. Kaum hatte ich über Funk den Einsatzort, Einsatzgrund und Anrufernamen gehört, dann warʼs auch schon wieder weg. Die Kollegen hatten auch schon gefragt, was mit mir los sei. Manchmal bretterte ich mit dem Streifenwagen los, um an der nächsten Kreuzung fragen zu müssen, wo die Reise überhaupt hinging. Und wenn wir dann angekommen waren, dann wusste ich nicht mehr, wozu wir überhaupt ausgerückt waren. Das war das Fluoxethin. Mein Polizeiarzt wäre in Ohnmacht gefallen, wenn er das gewusst hätte. Es war wichtig, dass man bei der Polizei davon nichts mitbekam. Ich hatte Angst vor einer Kündigung. Ich saß am Küchentisch, schaute auf die Uhr und stellte fest, dass ich mich schnellstens duschen müsste, wollte ich nicht zu spät zum Dienst kommen. Das tat ich ungern. Ich wollte immer sehr korrekt sein und las deshalb meine geschriebenen Anzeigen genauestens Korrektur.
Ich starrte auf die Packung. Mit dem Zeug ging es mir schlecht. Ohne das Zeug ging es mir auch schlecht. Aber die Kollegen würden stutzig werden. Es war auffällig geworden. Besser weg mit dem Zeug. Ich stand auf und schmiss die ganze Packung weg. Und wieder schaute ich auf die Uhr. Das Wichtigste hatte ich geschafft. Das Fluoxethin lag im Abfalleimer, und da konnte es gern bleiben. Ich rief auf der Wache an. Murmelte was von Migräne. Dann legte ich mich ins Bett. Ich wollte nur noch schlafen. Am liebsten immer. Und ewig. Sterben. Das wäre das Beste. Sterben. Gar nicht mehr aufwachen. Vielleicht hatte ich ja Glück und würde nicht mehr aufwachen.