_______________KAPITEL 11_______________

 

Aufwachen ... und ein neues Leben

 

J
etzt hör auf, dir einen solchen Kopf zu machen. Jürgen hat einen Maler an der Hand, und der wird die Wohnung renovieren. Das brauchst du doch nicht selbst zu machen! Komm lieber zu mir, und lass uns Tapeten aussuchen. Danach gehen wir in die Sauna und essen dann noch einen Happen.«

Als ich meine Tasche für das Wochenende packte, merkte ich, dass ich gern in Hannover geblieben wäre. Ich fand es schön, endlich wieder eine Mutter zu haben. Ich freute mich auch, wenn abends das Telefon klingelte, und Mama war am anderen Ende der Leitung. Mama und Jürgen nahmen mir viele Dinge ab, und es erleichterte mir die Arbeit. Mein Leben lang war ich es gewohnt, für alles und jeden verantwortlich zu sein, und auf einmal hatte sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Jürgen kümmerte sich um meinen Umzug, fuhr mein Auto an den Wochenenden durch die Waschanlage, erneuerte Öl und prüfte den Reifendruck, und ein bisschen erinnerte er mich an Alfons.

Meine Bedürfnisse, bei dem herrlichen Wetter mit Capriola und Don durch die Heide zu reiten, mit Otto und Martha einen gemütlichen Plausch am Kaffeetisch zu halten und abends bei Gerd auf ein Glas Cidre vorbeizuschauen, schob ich zur Seite. Mein Leben hatte sich nun geändert. Da war es sicherlich normal, dass ich mich umstellen musste, und auch normal, dass man an den Wochenenden zu seiner Familie fuhr. Erleichtert stellte ich fest, dass es nur noch zwei Wochen waren, bis Pferd und Möbel in Ruhrstadt sein würden. Dann hätte diese Hetzerei auf der Autobahn auch ein Ende. Hektisch suchte ich nach der Tüte Storck Schokoladenriesen. Auf den Fahrten nach Waldstadt hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, stets eine Familientüte Schokoladenriesen mitzunehmen, und kam ich in Waldstadt an, war nicht ein einziger übrig geblieben.

Den Abend verbrachten wir in der Sauna. Meine Eltern waren früher jeden Freitag in diese Sauna gegangen, und schon als Fünfjährige schwitzte ich in der Kabine. Zum Glück, so dachte ich, ist mein Vater nun nicht mehr dabei ...

Jürgen kam mittlerweile fast jedes Wochenende mit in die Sauna. Ich spürte seine Blicke und versuchte ihm, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen. Als wir unter der Dusche standen, bewunderte Mama zum x-ten Male mein Tattoo auf der Hüfte.

»Wenn ich das so sehe, könnte ich mir glatt auch eines machen lassen«, scherzte sie.

»Mach doch einfach«, sagte ich, »in deinem Alter brauchst du dich doch um Konventionen auch nicht mehr zu scheren, oder?«

»Und Jürgen?«, flüsterte sie zurück.

»Ihr seid jetzt über fünfzehn Jahre zusammen«, gab ich erstaunt zurück, »da sollte eine Rose auf deiner Hüfte kein Drama sein, oder?«

Ich verstand meine Mutter oft nicht. Sie war achtundvierzig Jahre alt, hatte eine Top-Figur und war als Lehrerin mit ihrem Gehalt völlig unabhängig. Wenn sie ein Tattoo haben wollte, warum ließ sie sich dann nicht einfach eins machen? Ständig hinterfragte sie, was Jürgen wohl zu diesem und wohl zu jenem sagen würde, und manchmal kam sie mir vor wie ein verängstigtes Karnickel.

Als Jürgen zu den Duschen kam, verschwand ich so unauffällig wie möglich. Ich mochte es absolut nicht, wenn er mich nackt sah, und ging immer dann in die Saunakabine, wenn er gerade herauskam.

Als ich abends im Leopardenbett lag, lauschte ich zur Tür. Hatte ich da gerade etwas gehört? Kamen Schritte die Treppe hinunter? Es war nichts. Es war wohl nur meine Angst.

Noch am Tag meines Einzugs lernte ich meine Nachbarn kennen. Silke war eine hübsche junge Frau, vielleicht vier, fünf Jahre jünger als ich, und hatte fantastische naturblonde superlange Haare. Sie war Kinderkrankenschwester auf der Intensivstation einer großen Kinderklinik, und ich fand, dass sie exakt so aussah, wie man sich eine Kinderkrankenschwester vorstellte. Ihr Freund Rolf war genauso alt wie Silke und Gas- und Wasserinstallateur. Er hatte den Schalk im Nacken sitzen, und wenn er den Mund aufmachte, kam nur geistreich-witziges Geblödel heraus.

»Gas, Wasser, Scheiße! Und Tach auch, Rolf, der Nachbar«, hatte er sich vorgestellt. »Komm doch gleich auf ein Bier rüber, dann lernen wir uns kennen. Silke ist auch gleich von der Arbeit zurück.« Die Basis für eine freundschaftliche Nachbarschaft war schnell gegeben.

Mein Leben in Ruhrstadt war tatsächlich so ganz anders als in Hannover. Es war ein schwerer Abschied gewesen, und fast täglich dachte ich an »meine Leute« da oben. Von Richard Hinrichs hatte ich in den Jahren nicht nur reiterlich sehr viel gelernt. Viele seiner Sätze und Kommentare begleiten mich bis heute durchs Leben: »Sitzen Sie nicht so fatalistisch auf dem Pferd! Sie RE-agieren immer nur! Sie müssen AGIEREN!« oder »Passen Sie auf, dass Ihnen das Pferd nicht Höflichkeit als Schwäche auslegt! Das gilt übrigens auch für einige Menschen!«

Vielleicht ist die tägliche Konfrontation mit bestimmten körperlichen Reaktionen aus meiner Jugendzeit mit ein Grund dafür, dass ich auch heute noch mit vierzig Jahren das Reiten als Therapie empfinde.

Am ersten Tag meiner Ausbildung saß ich inmitten von jungen Leuten, die größtenteils frisch von der Schulbank kamen. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Wir wurden mit einer langen Rede empfangen und mit den Gepflogenheiten einer Polizeischule bekannt gemacht.

Montagmorgens um sieben Uhr war Dienstbeginn und »Antreten«. Bei Wind und Wetter standen wir in Reih und Glied nebeneinander, und die Anwesenheit wurde kontrolliert. Am Freitagnachmittag endete die Woche stets mit dem »Stubendurchgang«, bei dem die Sauberkeit der Zimmer überprüft wurde und wir ins Wochenende entlassen wurden. Es prasselte derart viel auf mich ein, dass ich Mühe hatte, mein neues Leben zu organisieren. In der Heide schien die Landschaft von einer unendlichen Weite geprägt zu sein. Hier im Ruhrgebiet war alles enger, grauer und hektischer. Die täglichen Wege waren anders geworden, und den Alltag in der Polizeikaserne empfand ich zeitweise als Gefängnisaufenthalt. Mit eiserner Disziplin bemühte ich mich um die Bewältigung des Neuen. Grausam lange Gesetzestexte sollten auswendig gelernt werden, und mit Kopfarbeit oder mit intellektueller Herausforderung hatte die Ausbildung relativ wenig zu tun. Stures Auswendiglernen war angesagt, und es fiel mir unglaublich schwer. Morgens um sechs Uhr begann mein Tag, und selten hatte ich mehr als fünf Stunden Schlaf.

Gleichzeitig wurde uns allen sportlich sehr viel abverlangt. Schwimmen, Zirkeltraining, Laufen und Kraftsport standen auf dem Programm. Christine, die in ihrem ganzen Leben noch nicht gejoggt war, musste plötzlich morgens um sieben bei Eiseskälte durch den Stadtpark rennen. Der Rest der Auszubildenden war größtenteils zehn Jahre jünger als ich, und die Sorge, nicht mithalten zu können, setzte mir zu. Also lief ich mir die Seele aus dem Leib und verbrachte jede mögliche Sekunde im Kraftraum. Zusätzlich trainierte ich zwei weitere Stunden pro Woche im Hallenbad. Binnen eines Jahres hatte ich Schultern und Arme wie ein Preisboxer und lief die jüngeren Kolleginnen meines Ausbildungsjahrgangs in Grund und Boden.

Ich bemerkte gar nicht, dass sich in meinem generalstabsmäßig geplanten Leben langsam, aber sicher ein Putzfimmel breitmachte. Jeden Tag putzte ich meine Wohnung und polierte die Armaturen meines Badezimmers. Hatte ich das Waschbecken benutzt, dann säuberte und trocknete ich es sofort und polierte jeden einzelnen Tropfen vom Wasserhahn. Punkt neunzehn Uhr saß ich dann am Schreibtisch und ackerte den Stoff des Tages noch mal durch. Ich verbrachte täglich drei bis vier Stunden mit Lernen und Ausarbeitungen.

Im Jahrgang war ich bis auf wenige Ausnahmesituationen nicht allzu beliebt. Die raspelkurzen Haare, meine mir selbst aufgebürdete Disziplin, mein Alter und nicht zuletzt die Tatsache, dass ich an den abendlichen Spaßaktionen der anderen weder teilnahm noch diese lustig fand, machten mich schnell unbeliebt. Man konnte mich nicht so recht einschätzen, und viele hatten wohl den Eindruck, dass ich verklemmt und völlig dröge war. Niemand wusste, was ich nach sechzehn Uhr tat, denn ich sprach auch nicht über mein Leben »draußen«. Die wenigen Kollegen und Kolleginnen, die ich näher an mich heranließ, schätzten meine Ehrlichkeit und meinen Humor. So unterschiedlich können die Sichtweisen sein. Niemals in meinem Leben zuvor war ich mit dem Thema »Unbeliebtheit« konfrontiert worden. Ich war immer die Jüngste gewesen, und mein Umfeld mochte mich. Unbeliebt war ich eigentlich nur zu Hause bei meiner Mutter gewesen.

Kein Mensch ahnte, was sich hinter den Kulissen meines Lebens abspielte. Meine Mutter rief jeden Abend an und jammerte mir die Ohren voll, wie schrecklich ihr Leben mit Jürgen Karnasch sei. Die Seiten hatten sich verkehrt. Ich, die Tochter, gab ihr, der Mutter, Ratschläge und versuchte, so gut es ging, zuzuhören. Meine schwachen Einwände, dass ihre Telefonate, die mindestens eine Stunde dauerten, meinem Lernen nicht dienlich seien, überhörte sie einfach. In wenigen Wochen erfuhr ich eine Menge aus den vergangenen Jahren.

»Er macht mich fertig, Christine! Das ist wie eine Gehirnwäsche. Du weißt doch, dass ich mich niemals für Autos begeistern konnte. Im letzten Winter waren wir dann bei Toyota, weil ich neue Winterreifen brauchte.«

Ich zog an meiner Zigarette, schob die Unterlagen beiseite und hörte zu. Es würde mal wieder ein langes Telefonat werden.

»Jedenfalls sehe ich da im Ausstellungsraum einen blauen Geländewagen. NIEDLICH. Das schnuckeligste Auto, das ich je gesehen habe.«

»Ein RAV, Mutter«, bemerkte ich knapp.

»Ich habe Jürgen von diesem Auto vorgeschwärmt, und er war ganz überrascht, dass ich mich derartig dafür begeistern konnte. Und jetzt pass auf: Anfang des Jahres dann, ich schaue aus dem Küchenfenster, da kommt Jürgen plötzlich mit genau diesem blauen RAV vorgefahren, steigt aus dem Wagen und begrüßt mich mit den Worten: ›Na, Gundis? Schon gesehen, was ich da Feines habe?‹ Jetzt sag doch mal ehrlich, Christine! Was hättest DU an meiner Stelle gedacht?«

Ich drückte die Zigarette aus. »Ich an deiner Stelle hätte mich schon über mein neues Auto gefreut und nach den Schlüsseln gefragt«, antwortete ich müde.

»GENAU!«, rief meine Mutter hysterisch am anderen Ende. »Ich habe Jürgen auch gefragt, ob wir nicht mal eine Runde fahren können, und weißt du, was er geantwortet hat?«

»Nööö.«

»Er hat mir eine Riesenszene hingelegt.«

Ich richtete mich auf. Es wurde interessant.

»Ich schwöre dir, er hat einen Tanz hingelegt, der war filmreif. Jetzt wüsste er, wessen Geistes Kind ich sei. Das wäre SEIN Auto, und ich wäre wohl nur hinter seinem Geld her. Ich würde ihn gar nicht lieben, sondern wolle ihn aussaugen. Ich sei hinterhältig. Er wäre enttäuscht von mir. Ich ...«

Der Mann war nicht nur krank. Dessen war ich mir sicher. ER war es, der hinterhältig war, und meine naive Mutter fiel auf seine Spielchen auch noch herein. »Merkst duʼs denn gar nicht, Mutter?«, rief ich in den Hörer. Ich konnte in diesem Moment nicht »Mama« sagen. »Merkst du nicht, dass er dich fertigmacht? Merkst du nicht, dass er krank ist?«

Meine Mutter weinte.

»Mutter, hör auf zu heulen!«

Sie schniefte in den Hörer. »Weißt du eigentlich, wie froh ich bin, dass du auch so reagiert hättest? Ich weiß schon nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Der Mann macht mich irre. Und ständig droht er mir, mich rauszuschmeißen.«

»Hergott noch mal!« Ich verlor langsam die Beherrschung. »Du hast deine eigene Wohnung, du siehst gut aus, du verdienst dein eigenes Geld. Warum gehst du nicht einfach? Warum, verdammt noch mal, verlässt du Jürgen nicht? Er ist ein Schwein. Wach doch endlich auf.« Ich musste aufpassen. Noch mehr solcher Gespräche, und es würde nicht lange dauern, dass ich mein letztes, bislang gut gehütetes Geheimnis preisgeben würde.

»Er kommt, Christine. Wir sprechen morgen wieder.« Meine Mutter legte auf.

Seit vier Wochen war ich nun in der Ausbildung. Und jeden Freitag fuhr ich weiterhin nach Waldstadt und ging mit meiner Mutter in die Sauna. Jürgen kam meistens etwas später. Und jedes Mal fuhren wir nach dem Saunabesuch in ein Restaurant zum Essen. Und jedes Mal fuhren wir anschließend in Jürgens Haus, und jeden Freitagabend und Samstagabend lauschte ich angespannt die Treppen hinauf. Und jeden Samstag gab es dasselbe Theater. Der Stall machte um sechzehn Uhr dicht, und wenn ich nicht um halb zwei losfuhr, dann wurde es eng mit Capriola. Jeden Samstag um halb zwei machten die beiden ein Heidentheater.

»Bleib doch noch. Nie hast du Zeit. Alles wegen diesem Pferd. Komm doch heute Abend zurück. Was willst du denn da in Ruhrstadt.« Und so weiter und so fort.

Und jeden Samstag bretterte ich wieder einmal viel zu spät über die Autobahn und ärgerte mich maßlos. Jürgen war auf die glorreiche Idee gekommen, mir die tausend Mark in wöchentlichen Rationen auszuhändigen. Jeden Samstag also musste ich um die zweihundertfünfzig Mark bitten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich aus dieser Nummer wieder rauskommen sollte.

 

Der einunddreißigste Oktober stand vor der Tür. Mein dreißigster Geburtstag. Es war ein ganz normaler Wochentag, der um sechs Uhr begann. Um achtzehn Uhr saß ich in meiner Wohnung am Schreibtisch und lernte, als es plötzlich an der Tür klingelte. Kann nur Silke sein, dachte ich bei mir und drückte auf den Türöffner.

Im nächsten Moment stand Jürgen grinsend vor meiner Tür. »Ich kann dich doch nicht an deinem Geburtstag allein lassen!« Er strahlte.

Völlig perplex starrte ich ihn an. Ein verdammt ungutes Gefühl überkam mich.

»Willst du mich denn gar nicht hereinlassen?«

»Doch, doch, komm rein«, stammelte ich.

Jürgen marschierte schnurstracks in die Küche, zog seine Lederjacke aus und hängte sie wie selbstverständlich über den Stuhl.

»Echt schön geworden, deine Wohnung. So schön hast du in Hannover nicht gewohnt, stimmtʼs?«

Jürgen schlenderte durch die Wohnung und öffnete wieder grinsend die Tür zum Schlafzimmer.

Eine bittere Kälte drang aus dem Raum.

»Ich verstehe gar nicht, dass du mein Angebot nicht angenommen hast, das schöne Bett von unten aus dem Gästezimmer zu nehmen. Was findest du bloß an diesem niedrigen Futon-Bett?« Er schüttelte verständnislos den Kopf.

Warum war dieser Kerl hier? Was sollte das alles?

Die rote Warnleuchte im Hirn sprang an, ganze Armeen von kleinen Adrenalin-Männchen mit Helmen und Schutzschildern rasten durch die Gänge der Blutbahnen, die Seilwinden wurden von den kleinen Hilfsarbeiter-Männchen angekurbelt und stellten die Nackenhaare hoch, das Herz pochte lauter und schneller, und unten im Bauch drückten gerade die Sklaven-Männchen verzweifelt das schwere hölzerne Burgtor zum Magen zu. Sie schwitzten unter der Last, denn der Speisebrei drückte mit Vehemenz dagegen, und die kleinen Kerle drohten umzufallen. Ich atmete durch und stellte fest, dass selbst das nicht mehr funktionierte. Ein riesiger Drache mit ungeheuer großen Flügeln setzte sich gerade auf die Lungenflügel. Wieder rannte eine bewaffnete Adrenalin-Truppe mit erhobenen Speeren in Richtung Lungenportal. Der Weg schien unendlich ...

»Bitte sei so gut und mach mir einen Kaffee, ja? Ich bin ziemlich müde. Hatte einen langen Tag.«

Kaffeemachen hieß, Jürgen den Rücken zudrehen zu müssen. Du spinnst!, herrschte mich eine innere Stimme an. Er will doch nur einen Kaffee!

»Er will mehr!«, kreischte eine piepsige hysterische Stimme aus dem Kellerverlies des Gehirns. Ein entsetzlich dünnes und ausgemergeltes Kind mit wirren schwarzen Haaren rüttelte an den Gitterstäben. In einem dunklen, feuchten und modrig muffigen Loch fristete es sein Dasein. Barfuß, nur ein Hemdchen am Leib und mit spindeldürren Ärmchen umfasste es die Stäbe. Ein wirrer Blick. Ein panischer Blick. Das Kind hatte kaum noch Kraft. Dann öffnete sich sein Mund. »Er will, dass du bezahlst! Er will, dass du bezahlst! Er will, dass du beza... « Die Wärter schossen auf das erbärmliche Kind zu und packten die Kleine rüde am Hals. Und schon hatten sie der kleinen piepsigen Stimme die Luft abgedrückt.

Mach einfach den Kaffee, und dann raus mit ihm!, schoss es mir durch den Kopf. Ich drehte mich um. Ließ Wasser in die Kanne laufen, schüttete vorsichtig das Wasser in die Kaffeemaschine, nahm einen Kaffeefilter, knickte die Kanten sorgfältig ein, öffnete die Dose mit dem Kaffeepulver und nahm den Löffel in die Hand.

Jürgens Atem war in meinem Nacken zu spüren. Seine Hände legten sich auf meine Hüften. Der Löffel blieb im Kaffeepulver stecken. Der Drachen umschloss mit seinen gigantischen Flügeln die Lungen. Jürgens schweres Atmen dröhnte in meinen Ohren.

»Weißt du, dass du noch dasselbe knabenhafte Becken hast, wie vor fünfzehn Jahren?«, flüsterte Jürgen in mein Ohr.

Ich rührte im Kaffeepulver herum. Keine Adrenalin-Männchen mehr, keine Sklaven, keine Hilfsarbeiter. Nur der Drache. »Du willst es doch auch. Du hast mich vermisst, das habe ich gleich gespürt, schon als ich in Hannover war, habe ich es gespürt, stimmtʼs?« Jürgens Griff an dem Becken des Mädchens wurde fester. »Komm«, ertönte seine Stimme, »gehen wir ins Schlafzimmer.«

Das Mädchen mit dem knabenhaften Becken ließ brav den Löffel in das Kaffeepulver fallen. Der Mann, den sie so lieb hatte, schob sie mit bestimmtem Griff in das Schlafzimmer und legte sie sich auf dem Leopardenbett zurecht. Leopardenbett? Wo war das Muster geblieben? Und die schwarze Holzvertäfelung? Die Wände waren so anders, so hell ...

»Bring ihn um! Bring ihn um! Töte ihn! Töte ihn!«, kreischte die kleine Stimme aufgebracht. So zart das Mädchen auch war. Sie musste Kraft haben. Sie rüttelte wie eine Wahnsinnige an den schweren eisernen Stäben. War vollkommen durchgedreht. Eine schwarze Haarsträhne war ihr ins Gesicht gefallen. Kalter Schweiß floss ihr den Rücken herunter. Sie stank bestialisch. Es musste Jahre her sein, seit sie sich das letzte Mal gewaschen hatte. Der penetrante Geruch von altem, verkrustetem Sperma und ihre eigenen Körperausdünstungen füllten die Gänge des Kellerverlieses. Es gab nur sie da unten. Alle anderen Zellen waren leer. Wieder rüttelte sie an den Stäben. Sie hing sich förmlich auf daran. »Biiitttteeeee! Töte ihn! Töööööööte iiiiiihhn!« Die Wärter lachten.

Schallendes Gelächter ertönte ebenfalls aus dem riesigen Maul des Drachen. »Hahahahaha! Jaaaaaa! Töte ihn! Töte ihn doch! So töte ihn doch! Hahahahaha! Dann wird DEIN Leben beendet sein! Dein Leben! Dein Leben! Dein Leben! Dein Leben!« Mit seinen riesigen Flügeln schlug sich der Drache auf seinen eigenen Bauch. Er lachte und lachte und lachte und lachte. Die piepsige Stimme schluchzte. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und war in die Knie gegangen.

Der Mann, den das Mädchen so lieb hatte und der der Freund ihrer Mama war, knöpfte sich die Hose auf. Er zog den Reißverschluss runter. Er schob die Hose runter. Der Mann küsste das Mädchen. Der Mann schmeckte scheußlich. Die Zunge war so trocken. Die Zunge war so klein. So dünn. So schmal. Das Mädchen war verwirrt. Der Mann fasste sich plötzlich an sein Ding. Das Mädchen hatte nur selten zu dem riesigen Ding geschaut. Es war immer besser, wenn das Ding weg war. Wenn es einfach in ihr verschwunden war. Dann war es auch bald vorbei. Das Mädchen schaute zu dem Ding. Die Augen des Mädchens weiteten sich vor Erstaunen. Der Mann hatte ein kleines schlaffes Ding. Das war lustig und so ganz anders als sonst. Und der Mann fasste sich selbst an. Er rubbelte an sich selbst herum. Nicht an dem Mädchen. An sich selbst.

»Na? Was ist denn da unten los?«, sagte der Mann.

Ein schrilles Telefonklingeln ertönte. Das hatte es noch nie gegeben. Der Anrufbeantworter sprang an.

»Hallo. Ich bin im Moment nicht zu erreichen. Bitte hinterlasst mir doch eine Nachricht, und ich rufe umgehend zurück. Tschüüüüss.« Es war die Stimme von Christine Al-Farziz. Es war meine Stimme. Das war ich.

Ich hörte meine Mutter und ihre Freundin Ursula, wie sie kichernd gemeinsam ein Lied anstimmten. »Happy Birthday to you! Happy Birthday to you! Happy Birthday, liebe Christine, happy birthday to you! Ruf mal zurück, du Pflaume! Hier ist dein Mütterchen!«

»Und hier ist Ursulaaaa!«

»Wir wollten dir zum Geburtstag gratulieren! Bis gleich!«

Die piepsige Stimme schrillte durch den ganzen Körper. Sie schrie und schrie. Das Mädchen hatte sich plötzlich aufgebäumt. Mit letzter Kraft schrie es sich die Seele aus dem Leib. »Mach ihn fertig! Mach ihn fertig! Mach ihn fertig! Tuʼs doch endlich! Tuuuuuuuu ʼs doooooch!« Keine Wärter. Kein Lachen. Der Drache verstummt und blöde glotzend.

Ich stieß Jürgen mit seiner halb heruntergezogenen Hose heftig von mir weg und sprang in einer unglaublichen Geschwindigkeit von meinem Bett auf.

Die Armeen der Adrenalin-Männchen hatten gerade den Drachen erledigt, der blutüberströmt wie ein Trümmerhaufen auf dem Boden des Brustkorbes lag. Weitere Armeen rückten nach, und es schienen Millionen zu sein. Ihre Schlachtrufe füllten alle Gänge des Körpers. Das kleine Mädchen klatschte in die Hände und tanzte auf schmutzigen Füßchen verzückt in seinem Verlies. Es freute sich. Bald würde SIE kommen und es befreien! Endlich befreien! Der Drache war tot.

»Raus hier, du Mistkerl! Raus! Raus! Raus!« Meine Stimme überschlug sich, und eine ungeheuere Wut schoss durch meine Adern. »Raaaaaaauuuuuussss !« Ich war vollkommen durchgedreht! Ich packte Jürgen an seinem sündhaft teuren Kaschmirrolli und zerrte ihn in die Küche. Verächtlich stieß ich ihn von mir. Er stand im Raum und funkelte mich bedrohlich an. Sollte er doch funkeln. Mein Hass war nicht mehr aufzuhalten. Mein Blick und meine ganze Haltung schienen ihm allerhöchste Gefahr zu signalisieren. Léon hatte mein plötzlicher Wutausbruch damals auch aus der Fassung gebracht. Wie ein Raubtier starrte ich Jürgen an. »Ich habe gesagt RAUS!«, zischte ich jetzt leise und gefährlich.

Jürgen zog seine Hose hoch, schloss den Knopf, machte den Reißverschluss zu und fummelte umständlich an seinem Gürtel.

Ich würde ihn umbringen. Ich wusste es. Ich würde ihn umbringen. Wieder packte ich zu und erwischte ihn am Oberarm. Die Messer? Wo hatte ich die Küchenmesser? Ach was! Ich schubste den Kerl Richtung Ausgangstür. »RAUS, oder ich bring dich um.«

Jürgen schaute mir direkt in die Augen. Dann zog sich eine Fratze des Grinsens über sein Gesicht. »Das wirst du mir büßen!« Und fort war er.

Ich verschloss die Tür, und noch bevor ich nachdenken konnte, was gerade passiert war, wurde mir speiübel. Die Sklaven-Männchen fielen um, und das riesige hölzerne Burgtor fiel auf die am Boden liegenden Sklaven und begrub diese unter sich. Ein Speisebrei-Tsunami rollte tosend heran. Ich kniete vor der Toilette und kotzte und kotzte. Es wollte nicht aufhören.

»Wo bist du? Es ist jetzt neun Uhr! Ich fahre gleich zu Jürgen ins Haus. Ruf mich doch bitte an.« Wieder eine Nachricht meiner Mutter.

Ich musste sie anrufen. Jetzt. Sofort. Keinesfalls würde ich bei Jürgen im Haus anrufen. Ich wischte mir notdürftig den Mund ab und hetzte ans Telefon.

»Ich war bei Silke nebenan. Wir haben uns verquatscht. Ich muss noch lernen. Lieb von dir, ja sicher. Ne ne ... mir gehtʼs gut. Alles in Ordnung. Ich komisch? Nein. Ich bin nur müde. Ja sicher. Bis morgen.«

Erschöpft ließ ich den Hörer auf die Gabel fallen. Ich war fix und fertig. Ausgepumpt. Ausgelaugt. Leer. Kraftlos. Angewidert von mir. Angewidert von Jürgen. Angewidert von meinem eigenen Bett. Ich putzte akribisch die Toilette, wechselte die Bettwäsche, duschte ausgiebig und fiel ins Bett. Alles musste so weitergehen wie bisher. Ich musste noch disziplinierter sein. Noch konsequenter. Nichts in meinem Leben würde ich dem Zufall überlassen. Alles musste seine Ordnung haben. Alles musste überschaubar und planbar sein. Keine Schwäche zeigen. Stark sein. Unerbittlich das Ziel vor Augen. Koste es, was es wolle.

Nach wie vor fuhr ich freitags nach Waldstadt. Unmerklich veränderte sich das Verhalten meiner Mutter. Jürgen hatte wieder mit seinen Sticheleien und seinen Intrigen begonnen. Er ließ keine Gelegenheit aus, mich schlechtzumachen und mich zu provozieren. Für meine Mutter war nichts mehr genug. Es reichte nicht, dass ich an den Wochenenden nach Waldstadt fuhr.

»Ich bin wirklich enttäuscht von dir«, jammerte sie eines Abends am Telefon. »Du machst dir in Ruhrstadt einen schönen Abend, und Jürgen hat so viel zu tun. Er ist genauso enttäuscht wie ich. Du wolltest ihm doch helfen, das neue Buchhaltungsprogramm zu installieren. Was soll das, Christine? Erst erzählst du wunders, was du alles beruflich gemacht hast und was du alles kannst, und dann drückst du dich.«

»Ich sitze hier nicht abends rum, sondern ich lerne! Und nicht ICH habe Jürgen angeboten, dieses Programm zu installieren, sondern ER hat das so beschlossen, dass ich es gefälligst zu machen habe.« Mir reichte es.

»Jetzt hör aber auf, Christine!« Meine Mutter nahm wieder ihren Eiskeller-Ton auf.

Das Gespräch endete mit dem Fazit, dass ich ohnehin nichts zu tun hätte, die Ausbildung etwas für Doofe sei und ich mit meinem faulen Hintern abends mein Sofa platt drückte. Diese Anfeindungen kannte ich bereits.

Es ging auf Weihnachten zu. Julia, die Tochter von Ursula, Mutters Freundin, war vierzehn Jahre alt und umschwärmte Jürgen. Ich hätte kotzen können. Sie nahm ihm Kassetten mit Herzschmerz-Gedudel für seinen Jaguar auf, und ich bekam mit, wie Jürgen ihr am Telefon mit säuselnder Stimme Honig um den Mund schmierte. »Nein, nein, Kleines. Wirklich superschön die Kassette. Mensch, da haste dir aber Mühe gemacht. Da freue ich mich aber.«

Als Julia mit ihrer Mutter Stress hatte, verbot Ursula ihr, zum Konzert der Kelly Family zu gehen. Jürgen kaufte sogleich zwei Karten, fuhr zu Ursula und überredete sie, Julia mit ihm nach Köln fahren zu lassen. Natürlich setzte er durch, was er sich vorgenommen hatte, und die beiden rauschten im Jagi-Baby los.

Ich war fassungslos. Ich fragte meine Mutter, ob sie es nicht merkwürdig finden würde, dass Jürgen mit diesem jungen Mädchen zu einem Konzert der Kelly Family fuhr.

»Du bist genauso missgünstig wie dein Alter!«, schrie mich meine Mutter an. »Wolltest du jetzt noch eifersüchtig werden? Das Mädchen ist froh, wenn Jürgen sich um es kümmert. Und Ursula hat seit der Scheidung von Ulrich genug Probleme um die Ohren. Du bist doch echt verhaltensgestört.«

An einem Samstagmorgen, kurz vor Weihnachten, ging ich dann mit Jürgen in die Stadt. Keine Ahnung, warum und wieso die beiden es wieder einmal geschafft hatten, mich dazu zu überreden. Innerlich schüttelte ich über mich selbst den Kopf. Ich steckte in diesem Film drin und wollte nur noch raus. Jürgen kaufte bei Douglas das gesamte Sortiment von Oilily. Duschgel, Eau de Toilette, Bodylotion und zu guter Letzt noch eine extra Flasche von dem Duft.

»Packen Sie alles schön ein. Nur die zweite Flasche Parfum nicht.«

Erstaunt fragte ich, für wen denn diese Flasche sei, und ich betete innerlich, dass dieser Perversling nicht etwa meinte, ICH würde mir dieses Zeug aufsprühen.

»Für mich«, antwortete Jürgen. »Ich finde den Duft so toll. Ich benutze den selber.«

Mir wurde übel. Mir wurde wirklich schlecht. Das war alles so abstrus, so ätzend, so durchsichtig. Ich konnte doch nicht allen Ernstes die Einzige sein, der dieses offensichtliche Spielchen auffiel ... WOLLTEN meine Mutter und Ursula es nicht erkennen?

Jürgen kaufte Handtäschchen, Schmuck und Parfum und war nicht mehr zu bremsen. Als wir zu meiner Mutter fuhren, hatte er für Julia Geschenke für über tausend Mark gekauft. Ich musste weg hier. Ich musste sofort nach Ruhrstadt zurück. Das war alles entsetzlich krank hier.

Zu Hause fuhr ich sogleich zum Stall und erfuhr von dem Bauern, dass heute Abend die Weihnachtsfeier stattfinden würde. »Komm doch auch vorbei«, lud er mich ein.

Auf diese Feier freute ich mich enorm. Es war wie ein Befreiungsschlag. Kein Anruf aus Waldstadt, keine Fahrt über die Autobahn, keine Julia, kein Jürgen, keine Mutter. Mit dem Bauern trank ich gleich zu Beginn einige Johannisbeerlikörchen und schmetterte zu später Stunde ein ganz besonderes Weihnachtsliedchen. »Oh Tannenbaum. Oh Tannenbaum. Die Bullen sind längst abgehauʼn! Der dicke Benz, der ist gestohlʼn, der kommt bestimmt sofort nach Polʼn! Oh Tannenbaum! Oh Tannenbaum! Die Bullen sind längst abgehauʼn!« Ich hatte zehn lustige Strophen am späten Nachmittag komponiert, weil jeder aus dem Stall aufgefordert worden war, sich etwas Schönes für den gemeinsamen Abend auszudenken. Mit über dreißig Leuten völlig gemischten Alters saßen wir auf Strohballen in der Deele und sangen aus Leibeskräften. Die Stimmung war überwältigend, die Leute schrien vor Lachen, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Ruhrstadt fühlte ich mich frei und unbeschwert. Man mochte mich, man lachte über meine blöden Sprüche, und man lachte mit mir. Der Bauer schlug mir freundschaftlich mit seiner riesigen Pranke auf die Schulter. »Du bist mir ja ʼne Deene!«, gluckste er. Auch er wurde immer fröhlicher.

Eine gestylte Blondine, mir schräg gegenüber sitzend, beäugte mich argwöhnisch. Ich spürte ihre Ablehnung deutlich. »Prost!«, schmetterte ich meinem Nachbarn zu. Er war der Sohn der Bauersleute. Ein großgewachsener hübscher Kerl mit breiten Schultern. Erst vor kurzem waren wir uns in der Stallgasse begegnet, und interessiert hatte mich Felix gefragt, was ich denn da für ein Pony habe. Zugegeben: Neben seinem Pferd sah Capriola aus wie eine geschrumpfte Micky Maus, aber PONY? Felix hatte noch nie zuvor einen Lipizzaner aus der Nähe betrachtet und war ganz überrascht, dass es diese Rasse auch in Schwarz gab. Und stolz hatte ich ihm erzählt, dass es unter tausend Lipizzanern vielleicht einen einzigen schwarzen gab. Dass ich in schönster Harmonie Lektionen mit meinem Pferd ritt, die sein eigenes Pferd nicht beherrschte, schien ihm ein wenig zu imponieren. Felix gefiel mir auf Anhieb. Er hatte eine sehr liebenswerte und zurückhaltende Art. Sein Gesicht war pure Güte. An seinem Blick konnte ich erkennen, dass dieser Mann keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.

»Ja denn auch Prost!«, antwortete Felix, und wir kippten den Schnaps in unsere Kehlen.

»Warte, ich sitze hier so blöde auf der Kante, ich rutsch mal eben zu dir rüber. Dann müssen wir uns den Strohballen teilen.« Und schon saß ich neben ihm. Es war ein schönes Gefühl. Die Nähe zu Felix hatte so gar nichts Bedrohliches. Wir kicherten albern. Felix war auch nicht mehr so ganz nüchtern. Die Blondine funkelte mich immer noch an. »Sag mal«, flüsterte ich in Felixʼ Ohr, »wer ist denn dieses Blondchen da gegenüber? Die sieht ja reichlich unlustig aus!«

Felix flüsterte zurück. »Das ist meine Freundin.«

Über mein belämmertes Gesicht amüsierte er sich köstlich. Ich wollte schon aufstehen, aber er protestierte. »Ne ne«, sagte er, »bleib man ruhig hier sitzen. Das ist schon okay so.«

Am nächsten Wochenende fuhr ich das erste Mal nicht nach Waldstadt. Meine Mutter hatte sich zwischenzeitlich nur zwei Mal gemeldet, und diese Gespräche bestanden nur aus Vorwürfen. Das Konto bei der Bank hatte ich überzogen. Ich würde es nach Weihnachten wieder ausgleichen. Felix ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Meine Nachbarin Silke hörte sich meine Schwärmereien interessiert an. Wenn Rolf abends unterwegs war, saßen wir zusammen, und es entwickelte sich langsam, aber stetig eine nette Frauenfreundschaft.

Probleme mit dem Alleinsein kannte ich nicht. Weder war ich erpicht darauf, einen Mann unter allen Umständen kennen lernen zu wollen, noch hatte ich beschlossen, mein Leben als Single weiterzuführen. Es würde sich schon etwas ergeben, dessen war ich mir sicher. Ich spürte aber, dass meine innere Uhr tickte und dass sich ein Bedürfnis in mir regte, das ich zuvor nicht gekannt hatte. Ich war dreißig und genoss dieses Alter sehr. Irgendwie, so fand ich, hörte sich das als Zahl erwachsener an als neunundzwanzig. Ich legte sehr viel Wert darauf, mich erwachsen zu fühlen und als Erwachsene respektiert zu werden. Warum das so war, wusste ich nicht.

 

Heiligabend in diesem Jahr verlief katastrophal. Ich spürte eine bleierne Müdigkeit, als ich am Nachmittag in Waldstadt von der Autobahn fuhr. Das konnte ja heiter werden. Jürgen absolvierte sein übliches Programm mit seiner Exfrau und seinen Söhnen. Nichts, aber auch wirklich gar nichts hatte sich verändert. Die Zeit in diesem Kaff war stehen geblieben. Das Einzige, das sich geändert hatte, war, dass meine Mutter beschlossen hatte, Heiligabend bei Ursula zu feiern. Wer weiß, ob sie es war, die diesen Entschluss gefasst hatte. Sie stellte es so dar, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass Jürgen ihr diesen »Entschluss« unmerklich eingeredet hatte. Meine Mutter war immer überzeugt, dass sie und NUR sie, ihre eigenen Entschlüsse fasste. Und ich hatte stets das Gefühl, dass Jürgen und NUR Jürgen diese Entscheidungen steuerte und zu seinen Gunsten beeinflusste. Er fand schon immer die Freundinnen meiner Mutter, die wiederum selbst Mütter von Töchtern waren, sehr nett. Mütter von Söhnen im Umfeld meiner Mutter wurden so lange in den Dreck gezogen, bis meine Mutter diese Kontakte abbrach.

»Ich habe mir selbst ein Weihnachtsgeschenk gemacht und einen Brief an ›Brot für die Welt‹ geschrieben. Ich möchte ein Mädchen adoptieren und ihm ein schönes Zuhause geben.« Jürgen setzte sein Glas Wein ab und beweihräucherte sich mal wieder selbst. Es war mittlerweile nach zweiundzwanzig Uhr. Ich war irgendwann auf Ursulas Couch eingenickt, als Jürgens laute Stimme mich plötzlich unsanft geweckt hatte.

»Da liegt die auf der Couch und schläft. Es ist Weihnachten, Christine, und du hast nichts Besseres zu tun, als zu pennen?« Verächtlich hatte er den Kopf geschüttelt.

Mit Ursula und meiner Mutter war kein unterhaltsames Gespräch möglich gewesen. Die beiden wirkten derart unzufrieden und hatten ausschließlich Ursulas anstehende Scheidung und ihren angeblich verhaltensgestörten Exmann als Thema. Es war immer dasselbe: Entweder die Leute im Umfeld meiner Mutter »tickten sauber«, oder sie waren »verhaltensgestört«. Eine gemäßigte Linie, Toleranz und Generosität waren Attribute, die meiner Mutter und Jürgen völlig fremd waren. Es gab einfach nur »ihre Welt«, und sie allein setzten die Maßstäbe für das, was sie als »normal« bezeichneten und duldeten. Das alles hatte mich ermüdet.

»DU hast bestimmt nicht geschlafen, Julia, stimmtʼs?«, dröhnte Jürgens Stimme. Julia kicherte, und mit einer »Das-kann-dochaber-MIR-nicht-passieren-heiligster-Jürgen«-Miene schüttelte sie energisch den Kopf. Mich nervte ihr Getue. Sie strahlte »ihren« Jürgen mit glänzenden Augen und erwartungsfroh an. Mit übertrieben blau geschminkten Augen und rot gemalten Lippen blickte die Vierzehnjährige hingebungsvoll zu ihm auf.

Es war Zeit für die Bescherung.

Julia packte aus und packte aus und packte aus.

»Oh Jürgen«, quietschte sie verzückt bei jedem Päckchen. »Oililiiiiiiii iiiee. Daaaaaas ist ja tollllll.« Sie schmiss sich in seine Arme, begleitet von dem wohlwollend mütterlichen Lächeln von Ursula.

»Ich habʼs selbst auch drauf! Hier am Hals. Riech mal.« Jürgen zerrte sich den Rollkragen ein Stück herunter, und Julias Nase kroch ihm an den Hals.

Die Worte der Anwesenden rauschten in meinen Ohren, und die gewohnte Übelkeit stieg in mir auf.

In einem kleinen Päckchen, das für mich bestimmt war, fanden sich ätzend bunte Diamant-Ohrringe vom Nobeljuwelier der Stadt. Meine Ohrlöcher waren seit drei Jahren zugewachsen, und für bunten Schmuck habe ich NICHTS, aber auch wirklich GAR NICHTS übrig. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich Freude heucheln und die Dinger in Ruhrstadt zum Pfandleiher bringen sollte. Ich hatte keine Lust mehr auf dieses Theater. Ich hatte es satt bis oben hin, und die ganze Stimmung widerte mich an. Ich würde jetzt hier und heute am Heiligen Abend auf Ursulas Teppich kotzen, wenn ich nicht unverzüglich abhaute. Völlig erschüttert nahm die illustre Gesellschaft meine Missachtung von Jürgens wertvollem und mit »Liebe« ausgesuchtem Geschenk zur Kenntnis. Die anschließenden Beschimpfungen hörte ich gar nicht mehr. Wie in Trance schnappte ich mir meine Jacke und verließ fluchtartig die Wohnung. Als ich draußen in der Kälte stand, atmete ich tief durch. Da war es wieder. Da war mein Gefühl der Freiheit. Freiheit am Heiligen Abend in einer menschenleeren Stadt ohne Familie. Das war MEINE Freiheit.

 

Die nächsten Tage hörte und sah ich nichts von der Waldstädter Mischpoke. An Silvester plötzlich, ich war bei Freunden eingeladen, klingelte am Spätnachmittag das Telefon.

Meine Mutter. Sie heulte. »Er will mich rausschmeißen. Wenn er gleich wiederkommt, soll ich meine Sachen gepackt haben.«

»Ich hole dich sofort ab, Mutter«, rief ich in den Hörer. »Hörst du? Ich setze mich jetzt ins Auto und hole dich ab.« Es hatte Blitzeis gegeben, und nur ein völliger Idiot hätte sich ins Auto gesetzt, um zig Kilometer in Richtung Sauerland zu fahren. Mir war das gleichgültig. Ich wollte meine Mutter da rausholen und würde mit ihr Silvester feiern. Wenn es sein musste, dann auch mitten auf der Sauerlandlinie.

»Nein!«, entfuhr es meiner Mutter panisch. »Ich kann nicht! Ich kann einfach nicht! Da geht die Tür!«

»Klack.« Aufgelegt.

Unzählige weitere Anrufe folgten. Ein ständiges Hin und Her. Um einundzwanzig Uhr war mir alles egal geworden. Ich würde ohnehin nicht heil in Waldstadt ankommen. Meine Freunde hatten in dem ganzen Telefontheater angerufen und mir empfohlen, dicke Socken über die Schuhe zu ziehen. Draußen ging gar nichts mehr. In meinem Inneren auch nicht. Der liebe Gott hatte aus allen Straßen und Gehwegen Eisbahnen gemacht und mich auf diese Art und Weise gerettet. Vielleicht hätte ich Jürgen doch noch umgebracht. Vielleicht hätte mich meine Mutter in ihren Sumpf gezogen. Meine Mutter war genauso krank wie Jürgen. Die beiden hatten sich verdient. Sie passten wie Deckel auf Topf mit ihren kranken Weltvorstellungen.

Heute glaube ich, dass meine Mutter eine Borderlinerin ist. Ich glaube auch nicht, dass sie therapierbar wäre, selbst wenn sie es jetzt noch wollte. Sie hatte sich selbst geopfert. Ihr Leben. Ihre Seele. Ihre Psyche. Ihre Tochter. Ihre Freundinnen. Die Töchter ihrer Freundinnen. Vielleicht war sie ja selbst Opfer. Ich weiß es bis heute nicht. Ich will es auch gar nicht mehr wissen. Sie ist Lehrerin. Sie hätte sich vor langer, langer Zeit helfen lassen können. Die Beihilfe zahlte schon Ende der siebziger Jahre so etwas Abenteuerliches wie eine Psychotherapie. Selbst meine Großmutter hatte für ihre Enkelin therapeutische Hilfe im Kopf. Aber meine Mutter, die nur achtzehn Jahre älter ist als ich, zog so etwas nie in Betracht.

Im Januar meldete sich dann Jürgen telefonisch bei mir und fragte nach meiner Kontoverbindung. Es war mir mehr als egal, dass ich monatlich tausend Mark als Schweigegeld von seinem Konto überwiesen bekam. MEIN Leben sollte weitergehen. Ich wollte Capriola behalten, und ich wollte meine eigenen vier Wände behalten. Ich verdrängte das elendige Gefühl, bezahlt zu werden.

 

Anfang Februar, ich hatte mich auch nicht zum Geburtstag meiner Mutter gemeldet, rief sie plötzlich an. »Ich habe ein Knöllchen hier liegen«, zischte sie durch den Hörer.

Siedend heiß fiel mir ein, dass die alte Fiat-Kiste immer noch auf den Namen meiner Mutter angemeldet war. Ich beschloss, diesen Umstand unverzüglich zu ändern.

»Schick es mir mit der Post zu, und gut ist«, raunzte ich zurück. »Was hast du an einem Freitag um ein Uhr siebenundzwanzig in einer Straße namens ›Junggesellenstraße‹ zu suchen?«, ereiferte sich die Frau am anderen Ende der Leitung. Doch das war nur der Anfang. »Haste dich schön durchvögeln lassen, ja? Du bist das Letzte. Du bist derartig unzufrieden mit deinem Leben, mit deinem Scheißgaul. Du musst dich gar nicht wundern, dass dich seit zweieinhalb Jahren kein Mann mehr anpackt. Hörst du? Wann lernst du endlich, mit deinem Leben zufrieden zu sein? Dein Alter, der hat das bis zum heutigen Tag nicht gelernt. Und diese Scheiße mit deinem Alfons. Das kannst du doch wohl wirklich nicht als Beziehung bezeichnen. Den hast du ausgesaugt und dann fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Wenn ich so einen Mist schon höre. ›Ich klammere nicht bei einem Mann.‹ Das zeigt doch nur, dass du ein widerwärtiger Egoist bist. Dass du gleichgültig deinen Männern gegenüber bist. Du kotzt mich an. Du nutzt Gott und die Welt nur aus. Du nutzt deine Weiber aus der Polizeischule aus, weil die dich bewundern und für deine Disko-Eskapaden zur Verfügung stehen. Und wenn die Phase dann vorbei ist, dann schießt du die auch wieder ab. Anstatt samstagabends in der Disco herumzuflippen, hättest du ganz andere moralische Verpflichtungen. Tickst du noch ganz sauber? Du bist so krank! Wer mit dreißig noch in die Disco geht, ist verhaltensgestört! Jaaaa! Verhaltensgestört!«

Die Frau am anderen Ende der Leitung tobte und tobte. Ich hielt den Hörer unverändert ans Ohr, war unfähig, aufzulegen. In mir zerbrach etwas. In mir starb etwas. Ich wusste nicht, was es war, aber es zog mir den Boden unter den Füßen weg.

»Seitdem du Arschloch wieder in mein Leben getreten bist, sitze ich jeden beschissenen Tag auf heißen Kohlen. Ständig habe ich das Gefühl, dass du sowieso wieder alles hinschmeißt! Du wirst wieder die Ausbildung abbrechen! Es geht wieder alles den Bach runter. Du musst auch mal Opfer bringen, hörst du? Dein dämlicher Spruch, du wärest nicht bei der Caritas oder als Mutter Theresa geboren, zeugt doch davon, wes Geistes Kind du bist!«

Die Rage der Frau nahm kein Ende. Zwischenzeitlich fragte ich mich, ob ich wirklich eine Frauenstimme hörte. War das nicht Jürgen? Nein. Es war meine Mutter. Meine eigene Mutter, die mich anschrie und beleidigte und damit nicht enden wollte. Es musste doch mal aufhören, oder? Irgendwann ist man doch fertig mit seinem ganzen Hass und seiner ganzen Wut. Oder? Irgendwann sind doch alle Emotionen abgelassen, und dann kann man doch in Ruhe sprechen? Irgendwann ...

»... hast den Arsch offen, in Kneipen rumzuhängen. Guck deinem Gaul lieber einmal mehr in den Hintern, oder bleib mit deinem Hintern zu Hause! Jetzt hast du alles, was du brauchst! Und jetzt zeigt mein Töchterchen ihr wahres Gesicht. Du kommst höchstens mal vorbeigeschneit, hast nie Zeit, glotzt ständig auf die Uhr, und dann kassierst du deine Kohle und entfleuchst wieder! Du kotzt mich an! Im Sommer hast du noch so getan, als sei alles in bester Ordnung, und ich hatte gehofft, meine Scheißtochter sei endlich erwachsen geworden, und was ist? Ich habe eine Pubertierende vor mir! Eine Pubertierende!« Ihre Stimme überschlug sich.

»Halt endlich deine dumme Schnauze!«, schrie ich aus Leibeskräften plötzlich in den Hörer. Ich schrie so laut, dass es den Hörer bald sprengte. Noch nie, noch nie in meinem Leben hatte ich mich selbst so laut schreien gehört. Da war sie wieder. Diese unglaubliche Wut. Das Raubtier war erwacht! Hätte diese Frau vor mir gestanden, ich hätte mich vergessen. »Halt verdammt noch mal deine dreckige Schnauze! Für immer! Für iiiimmmmmmeeeeer!« Ich drehte völlig durch. Mein Puls raste. Mein Herz schlug wie wild. Kalter Schweiß lief mir den Rücken runter. Ich war wahnsinnig geworden. Diese Frau hatte mich tatsächlich in den Wahnsinn getrieben. Mit aller Macht schmiss ich den Hörer auf die Station. Ich riss das Kabel aus der Wand.

Eine beängstigende Stille kehrte ein. Es war entsetzlich still. Mein Herz raste immer noch. Und es kam, was kommen musste: ein unglaublicher Schmerz, der mich fast zerriss, rollte unaufhaltsam aus dem dunklen Verlies nach oben. Ich wurde wahnsinnig vor Schmerzen. Ich hielt diesen Schmerz nicht aus. Ich packte meinen Kopf zwischen meine Hände und schrie und schrie: »Neeeeeiiiiiinn!« Immer wieder. Immer wieder. Immer wieder. Es hörte nicht auf. Ich schlug meinen Kopf auf den Boden. Es tat weh. Es reichte nicht. Der Schmerz war schlimmer. Er brachte mich um. Jetzt stieß ich meinen Kopf mit der Kraft des Schmerzes gegen die Wand. Der Schädel dröhnte, ich taumelte, fiel zurück und schlug der Länge nach in meinem Wohnzimmer hin. Dieser Schmerz durchzuckte meinen Kopf noch heftiger. Ich heulte laut auf. Dann wurde es dunkel.

Als ich aufwachte, hatte ich mich auf den Boden erbrochen. Fast hätte ich in meinem eigenen Erbrochenen gelegen. Es war ekelig. Mein Schädel brummte. Aber ich war wieder nur eine Hülle. Ich fühlte nicht den wahren Schmerz. Ich dachte nichts. Ich war nichts.

Ich säuberte den Teppichboden. Es stank erbärmlich. Ich bewegte mich vorsichtig, damit der Kopf ruhig blieb. Bei der kleinsten falschen Bewegung fuhr ein stechender Schmerz durch meinen Schädel. Es war ein Gefühl, als würde jemand ein Messer in meinen Kopf rammen.

Es war zum Glück Samstag. Bis Sonntagnachmittag konnte ich kaum das Bett verlassen. Am Montag schmiss ich Kopfschmerztabletten, die Silke aus der Klinik mitgebracht hatte, ein und setzte meinen Alltag fort, so als ob nie etwas geschehen sei. Die Wochen rauschten dahin.

 

Ostersamstag, ich mistete gerade Capriolas Box aus, stand die Bäuerin auf einmal an der Boxentür.

»Felix hat sich gerade von seiner Freundin getrennt. Ich dachte, das könnte dich interessieren?« Sie zupfte sich energisch das Kopftuch zurecht.

Ich mochte diese resolute Frau mittlerweile. Sie war ein wenig wie ich. Immer agil. Immer zielstrebig. Ich grinste breit. »Und ob mich das interessiert! Und ob!«

Verschwörerisch-verschmitzt schauten wir uns an. Als Felix am nächsten Tag im Stall war, sprach ich ihn an. »Wenn du mal Zeit und Lust hast, kannst du mich gern anrufen. Wir könnten mal ein Bier trinken gehen. Oder essen gehen. Was hältst du davon?«

Ich war aufgeregt und mimte die Entspannte.

Felix lächelte mich an. »DAS finde ich jetzt aber nett von dir! Ja klar. Mache ich gerne. Ich muss ab nächste Woche auf eine Baustelle nach Berlin. Ich melde mich aber bei dir!«

Mein Herz hüpfte vor Freude. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Diese Güte in seinen Augen. Mein Gott, was war der Mann nett.

Am Freitagabend gingen Silke und ich wieder gemeinsam in die Stadt. Wir saßen in einer Kneipe und hatten uns am Tisch von zwei Männern ein Plätzchen ergattert. Der Laden war brechend voll. Aufgeregt erzählte ich Silke von Felix. Mit leuchtenden Augen hörte sie zu. Eine mir bekannte Stimme sagte plötzlich laut: »Guten Abend!«

Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten wie wild umher. Felix und ein Freund begrüßten die beiden Männer an unserem Tisch. »Das ist er, Silke. Das ist er! Ich glaubʼs ja nicht! Da setzen wir uns ausgerechnet an den Tisch seiner Freunde. Das ist ja der Hit.« Ich freute mich wie ein kleines Schulmädchen.

Als Felix mich entdeckte, stieß er ein freudiges »Ach hallo. DAS ist ja ein Zufall!« aus. Wir verbrachten einen lustigen gemeinsamen Abend. Felixʼ Freunde waren geistreiche Spaßvögel und absolut unterhaltsam. Wir lachten und lachten.

Ich hatte die Haare wieder wachsen lassen, weil ich nicht mehr aussehen wollte wie ein Kerl. Diese superkurzen Haare hatten viel zu viel Härte in mein Gesicht gebracht, und ich trauerte insgeheim um meine schönen schwarzen langen Locken. Zum Glück brauchte ich mir um meinen Haarwuchs keine Gedanken zu machen. Wenn meine Konten so schnell wachsen würden wie meine Fingernägel und meine Haare, dann wäre ich schon längst mehrfache Millionärin.

In einer Tanzkneipe spielten sie Marianne Rosenbergs Er gehört zu mir. Felix trällerte den gesamten Text mit, während wir ein flottes Tänzchen aufs Parkett legten. Er fühlte sich so gut an. So stark. So unbeugsam. Diese Mischung aus Güte und Stärke zog mich magisch an.

Er war ein fantastischer Reiter und galt damals in der Ruhrstädter Reiterszene als Lokalmatador. Dass etliche Frauen aus dem ländlichen Reitsport nur darauf gewartet hatten, dass Felix »wieder zu haben war«, wusste ich nicht. Vom Turniersport, insbesondere im Ruhrstädter Umfeld, hatte ich keinen blassen Schimmer. Als mir später der unverhohlen zum Ausdruck gebrachte Neid einiger Frauen wie ein eisiger Wind entgegenschlug, bekam ich einen ersten Einblick in diese Szene. Jeder kannte jeden. Jeder wusste, wer mit wem wann was »hatte«, alle waren hier in der Region aufgewachsen und gemeinsam älter geworden.

Es war schon spät in der Nacht, als Felix mich nach Hause brachte. Er wohnte mit seinen Ende zwanzig noch bei seinen Eltern. Für mich völlig unverständlich und unvorstellbar.

»Warum hätte ich ausziehen sollen, Christine?«, erläuterte er mir. »Ich war nach dem Abi bei der Bundeswehr, habe dann ganz in der Nähe studiert und hatte meine Pferde bei meinen Eltern im Stall. Und jetzt bin ich unter der Woche in Berlin.«

Heile Welt! So musste sie aussehen, die heile Welt! Ich hatte einen Mann kennen gelernt, der vollkommen anders aufgewachsen war als ich. Immer behütet. Immer umsorgt. Immer geliebt. Was wusste dieser Mann von existentiellen Ängsten? Kannte dieser Mann das Gefühl, mutterseelenallein für sich selbst Verantwortung zu tragen? Kannte Felix den Zustand, ohne Familie, ohne Rückhalt, ohne Unterstützung, ohne Heimat, ohne Wurzeln durch das Leben zu flüchten? Nichts davon kannte er, und nichts davon KONNTE er kennen.

Mein Lebenstempo glich dem Tempo, das nur Flüchtende an den Tag legen können. Es ist das Tempo der Menschen, die vor sich selbst und vor den Erinnerungen fliehen. Beseelt von einer inneren Unruhe. Die Unruhe, die Rastlosigkeit, die ihren Nährboden in der Angst ums Überleben findet. Meine Voraussicht, mein Gespür für Disharmonie, mein permanentes Denken, alles zu tun, um geliebt zu werden, mein Fanatismus für Ordnung und Sauberkeit, mein Bedürfnis nach Sicherheit und Transparenz, nach Kalkulierbarem, nach Offensichtlichkeit und der totalen Ehrlichkeit. All das war diesem Mann so fremd, als spräche ich eine völlig andere Sprache! Er wusste nicht, auf was er sich eingelassen hatte, wer ich war und woher ich kam. Er hatte nicht MEIN Leben gelebt.

In seinen Augen sah ich die Güte meiner Großmutter. Das Stückchen heile Welt, das Omi mir gegeben hatte. Omi hatte mich verwöhnt. Omi hatte sich um mich gekümmert. Omi war immer an allem interessiert. Ihr Todestag jährte sich zum zehnten Male, als Felix und ich uns gerade kennen gelernt hatten. Omi fehlte mir immer noch.

Als Felix mich nach Hause brachte, war ich superaufgeregt. Sogar echte Erregung spürte ich in meinem Körper. Felix hatte auf meinem Sessel in meinem Wohnzimmer Platz genommen und schaute mich einfach nur freundlich an. Ich wusste, was mein Job war. Cool und scheinbar souverän setzte ich mich auf seinen Schoß und begann, ihn zu küssen. Dieser Mann haute mich um. Seine Küsse waren die reinste Freude. Er beherrschte das gesamte Repertoire von zärtlich bis gierig und war immer vorsichtig genug, um keine Grenze zu überschreiten. Wir knutschten uns die Seele aus dem Leib und waren atemlos vor Freude über unser Glück. Ich wollte mehr von Felix. Ich wollte ihn erobern. Ich wollte ihn überzeugen, dass ich die Frau für sein Leben war. Felix war da wesentlich entspannter. Wie ein verliebtes Pärchen standen wir am Türrahmen und konnten so gar nicht voneinander lassen. Schweren Herzens trennten und verabschiedeten wir uns zärtlich.

Als ich am nächsten Tag in den Stall kam, war die Vorfreude auf Felix schon groß. Er begrüßte mich freundlich wie immer, und seine Zurückhaltung ließ mich zweifeln. Dann aber kam er auf mich zu und fragte, ob ich am nächsten Wochenende Zeit hätte. Da stünde ja noch das vereinbarte Essen aus.

»Gerne!«, freute ich mich, »wir können ja zum Italiener gehen«, schlug ich vor.

Felix schaute mich an. »Wenn wir beide essen gehen, dann gehen wir richtig essen!« Ein Satz, der mich zutiefst beeindruckte. Ein Satz, den ich für mich als etwas ganz Besonderes interpretierte.

Ich war froh, dass Felix unter der Woche in Berlin war. Ich hatte ohnehin keine Zeit für eine Beziehung. Felix war kein Mann, der viel telefonierte. Oft wusste ich freitagabends nicht, ob wir uns sehen würden, weil Felix einfach nicht angerufen hatte. Offensichtlich hatte ich noch keinen festen Platz in seinem Leben eingenommen.

Das bedeutete Unsicherheit, und mit Unsicherheit konnte ich nicht umgehen.

Felix hatte für unser erstes Essen ein feudales Restaurant ausgesucht. Ich hatte mich bemüht, mich schick anzuziehen, Felixʼ Geschmack aber nicht wirklich getroffen. Das spürte ich, auch wenn er nichts sagte. Es war Spargelzeit, und wir schlemmten das köstliche Gemüse und redeten und redeten. Als das Restaurant schließen wollte, wurden wir höflichst gebeten, doch bitte die Rechnung zu begleichen. Felix zahlte und wirkte mächtig männlich auf mich. Es waren wundervolle Stunden mit Felix.

Unsere erste Nacht begann. Felix war ein wunderbarer Liebhaber und bemüht, mich auf Wolken zu betten. Er liebkoste und erforschte und wurde es nicht leid, meinen Körper zu streicheln. Er strahlte so viel Ruhe aus und gab mir das Gefühl, ALLE Zeit der Welt nur für mich zu haben.

Ich ärgerte mich insgeheim, dass ich meinen Höhepunkt vorheucheln musste, weil ich immer noch nicht wusste, wie ich mit einem Mann dahin gelangen sollte. Aber diesen Preis bezahlte ich gern für das gewonnene emotionale Gefühl. Als wir Arm in Arm einschliefen, war ich einfach nur glücklich.

Ein Sonnenstrahl kitzelte mich wach. Es war schon spät am Morgen, und das Bett war leer. Bestimmt machte Felix das Frühstück und holte Brötchen. Ein so fürsorglicher und zärtlicher Mann gehörte zu der Kategorie Frühstückmacher. Kein Frühstück. Kein Mann. Kein Kuscheln. Keine Notiz. Keine Sicherheit. Keine Transparenz. Er war einfach weg. Irgendwann aufgestanden und weg. Ich kämpfte mit den Tränen und dem Gefühl, benutzt worden zu sein. Als ich mich wieder gefangen hatte, ging ich zum Stall. Als Felix mich sah, begrüßte er mich wie immer. Keine Umarmung. Kein demonstratives Zeichen unserer Zusammengehörigkeit. Er war nett wie immer. Für mich brach eine Welt zusammen. Den Abend verbrachte ich ohne ihn. Felix war auf irgendeinem Turnier, hatte dort eine Prüfung gewonnen, und war danach mit Freunden beim Bier versumpft. Am Abend heulte ich mich bei Silke aus. »Da hätte er ja gleich einen Fünfziger auf der Kommode liegen lassen können«, schimpfte sie mit mir. »Das ist ja das Allerletzte!«

Am Sonntag brach es dann aus mir heraus. Ich präsentierte Felix eine prächtige Szene, wie sie nur tief verletzte Frauen präsentieren können. Und ich spürte es gleich: Dieser Mann verstand nur Bahnhof. Weder wollte er mich verletzen, noch hatte er sich auch nur eine einzige Sekunde Gedanken gemacht, wie ICH mich in den letzten Stunden gefühlt hatte. Das brachte mich vollends aus der Fassung. Bis heute hasse ich es, wenn ich jemandem etwas erkläre und mein Gegenüber mir das Gefühl der völligen Verständnislosigkeit gibt. Das macht mich aggressiv, insbesondere dann, wenn ich so etwas wie Ohnmacht verspüre. Als ich wieder zu Hause war, überwältigte meine Angst, Felix verlieren zu können, alle meine Zweifel und jeden Zorn in mir. Ich erwartete Transparenz von ihm und konnte mich doch selbst nicht transparent machen. Hätte man Felix eine Gebrauchsanleitung von mir in die Hände gedrückt, dann hätte er, der Pragmatische von uns beiden, sicherlich gewissenhaft diese Anleitung studiert und wäre nicht in so viele Fettnäpfchen getreten.

Die Wochen vergingen wie im Flug. Die Turniersaison hatte begonnen, und ich war selig, mitfahren zu »dürfen«. Ich schleppte Sattel und Zaumzeug und versuchte, meinen neuen Job der Turnierbegleiterin so gut wie möglich zu machen. Später erfuhr ich, dass diese Leute »Turniertrottel«, kurz »TT« genannt wurden. Niemand aus der Reiterei meint diese Begrifflichkeit wirklich böse, denn ohne »TT« kann ein Turnier ganz schön stressig werden. Helfende Hände werden im Sport eben immer gebraucht.

Auf den Turnieren ging es anders zu, als ich es gedacht hatte. Weder hielt Felix mein Händchen, noch legte er mal den Arm um mich. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass wir ein Paar waren. Der Gipfel des für mich Erträglichen war schließlich erreicht: Felix hatte mich bei Leuten als »eine Bekannte« vorgestellt. Wieder entbrannte ein heftiger Streit zwischen uns. Wir stritten uns oft. Wir stritten darüber, dass er mich nach seiner Ankunft im Stall einfach draußen stehen ließ und sich bei seiner Mutter den Kuchen einverleibte. Wir stritten an den Wochenenden, weil wir oft erst nach sechzehn Uhr nach Hause kamen und ich Capriola dann nicht mehr reiten konnte, da um sechzehn Uhr Stallruhe war, und wir stritten über Felixʼ Unzulänglichkeit, im Voraus die Wochenenden zu planen. Immer wieder tauchte ich verheult freitagabends bei Silke auf, weil Felix nicht erschienen war und mich auch nicht angerufen hatte.

Wir waren ein häufig streitendes Paar, und mit jedem Monat, der verging, wurden meine Unsicherheiten größer. Felixʼ Mutter sprach dann irgendwann ein Machtwort. Selbstverständlich käme ich mit zum Kaffee ins Haus und selbstverständlich könne ich zumindest noch mein Pferd in der Reithalle laufen lassen, wenn es nach vier sei. Sie hatte, so interpretierte ich, offensichtlich das Sagen im Hause Birkhoff. Sie war eine Frau, und sie konnte vieles, das mich verletzte, nachvollziehen.

Als es auf Weihnachten zuging, wurde mir schwer ums Herz. »Wo wirst du Weihnachten verbringen?«, fragte mich Felixʼ Mutter eines Tages im Dezember.

Ich zuckte mit den Schultern und antwortete nicht. Aber die Tränen flossen unaufhaltsam. Ich konnte sie einfach nicht mehr zurückhalten.

Wenn Felixʼ Mutter eines nicht ertragen kann, dann ist es, andere Menschen leiden zu sehen. Ein Charakterzug, den sie ihrem Sohn weitergegeben hat und der die beiden absolut liebenswürdig und unentbehrlich macht. Spontan umarmte sie mich und drückte mich fest an sich. »Ach Kind! Ach Kind! So hör doch auf, zu weinen! Bitte! Du kommst zu uns, ja? Du bleibst doch nicht Weihnachten allein! Das passiert nicht! Mach dir keine Sorgen! So, und jetzt wisch dir die Tränen aus dem Gesicht, und sei wieder fröhlich!«

Ich war so dankbar. Ich war so unendlich dankbar. Weihnachten war mir ein Horror, und im Hause Birkhoff würde es bestimmt gemütlich sein. Ich liebte das alte Fachwerkhaus und liebte den großen Kachelofen im Flur. Er strahlte im Winter eine behagliche Wärme aus und verlieh dem Haus etwas Nestähnliches. Kein Wunder, dass Felix dieses Nest nicht verlassen wollte.

Ich merkte, wie der Neid auf die Mutter, die ihrem Sohn seit Jahrzehnten ein schönes Zuhause präsentieren konnte, größer wurde. Felix fühlte sich im elterlichen Hause deutlich wohler als in meiner Wohnung.

Wenn sich ein Mann bei Mama und Papa wohler fühlte als bei der Frau, mit der er schlief, dann konnte es mit der Liebe nicht weit her sein, dachte ich. Ich empfand ihn als echtes Muttersöhnchen, und er stand nicht loyal hinter unserer Beziehung. Und wieder eine Verletzung mehr auf dem Konto. Dass Felix im Betrieb seiner Eltern mit entsprechend viel Publikum aufgewachsen war, schlecht allein sein konnte und schnell das Gefühl hatte, eingesperrt zu sein, wusste ich nicht. Sein Leben lang war er es gewohnt, die Tür aufzumachen und im Freien zu stehen. Mit Hunden, Katzen und Pferden auf einem richtigen Bauernhof. Ein echter Landmensch eben! Meine Wohnung hatte weder einen Balkon noch einen Garten. Seine Art, für sich dieses Problem zu lösen, bestand darin, einfach nach Hause zu gehen.

Ich hingegen hätte es gern gehabt, ein einziges Mal nach Hause zu kommen und erwartet zu werden. Ein einziges Mal das schöne, doch leider so seltene Gefühl aus der Kindheit zurückzuholen, wenn es schon dunkel wurde und das Licht im Haus meiner Großmutter signalisierte, dass ich in jeder Beziehung ins Warme kam. Oma war immer zu Hause gewesen. Felix war nie zu Hause. Oma hatte mich immer erwartet. Felix erwartete mich nie. Er, der mich mit seiner gütigen Art so sehr an meine Oma erinnerte, reagierte aber nicht wie sie. In meinem Kopf und meinem Denken vermischten sich Vergangenheit und Gegenwart.

Felix mochte meine Wohnung nicht, die ich so sehr liebte. Felix erwartete mich nicht, also liebte er mich nicht. Felix verwöhnte mich nicht. Also liebte er mich nicht. Felix stand zu seinen Eltern. Also liebte er diese mehr als mich. Felix war illoyal. Bei mir kamen genau diese Botschaften an, und sie hatten nichts mit den wahren Gründen zu tun. Wir waren unfähig, diese Missverständnisse zu erkennen und aus dem Weg zu räumen. Dass ich mich nicht von Felix trennte, lag daran, dass er tatsächlich sehr viele Eigenschaften hatte, die ich schon an meiner Großmutter geschätzt hatte: Er war ausgeglichen. Er strahlte Ruhe aus. Er war nie launisch, und ich fühlte mich wohl in seiner Nähe. Er hörte mir zu. Er war bodenständig. Er war mit seiner Heimat verwurzelt. Felix ging nie an einem Bettler vorbei, ohne ihm einen Groschen in die Hand zu drücken. Das hört sich heroisch an, war und ist aber so. Felix glaubte immer an das Gute im Menschen. Und Felix hatte Mitleid mit den Bedürftigen. Und Felix hat, genau wie meine Oma, recht nah am Wasser gebaut. Bei rührigen Filmen heulen wir stets gemeinsam Rotz und Wasser. Gehässigkeit, Intriganz, Hinterhältigkeit. Das alles sind Attribute, die meinem Mann genauso fremd sind, wie sie meiner Oma fremd waren.

Ich hatte mir einen Mann ausgesucht, den mir mein Instinkt als gut verhieß. Mein Instinkt behielt Recht. Er hatte mich vor allen Männern geschützt, die nicht gut für mich gewesen wären. Und er hatte mich zu Felix geführt. Aber Felix war eine eigenständige Persönlichkeit, und er war Felix Birkhoff und NICHT meine Oma. Diese Vermischung von guten Erinnerungen und unerreichbaren Hoffnungen, diese Missverständnisse im sprachlichen Austausch, die falschen Bewertungen von Handlungen des Partners, die Unfähigkeit, den anderen als eigenständige Person zu erforschen ... all das kann Partnerschaften zerstören.

Trotz meines aufkeimenden Neids musste ich mir eingestehen, dass Felixʼ Mutter auch eine Faszination auf mich ausübte. Es war für mich unvorstellbar, dass man jede Woche locker zwei Kuchen backen konnte, die restlos aufgefuttert wurden.

»Weißt du«, begann sie eines Tages, »der Felix ist immer gerne nach Hause gekommen. Der Junge hatte schreckliches Heimweh, wenn er nicht bei uns war. Und seine letzte Freundin hat gesagt, dass man den Jungen seinem Elternhaus entfremden müsse. Unglaublich. Das schafft niemand. Merk dir das, Christine: DAS schafft niemand.«

Ich nickte devot. Meine Konkurrentin hatte sich gerade geoutet!

Im Kopf war ich schon dabei, Felix den Vorschlag zu machen, zu mir zu ziehen. Wir waren jetzt seit neun Monaten ein Paar, und ich verstand nicht, dass man dann nicht zusammenlebte. Alfons und ich waren nach drei Wochen zusammengezogen. Alfons hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich Hals über Kopf in mich verliebt hatte. Und Felix? Ich wusste es nicht. Ich hätte niemandem sagen können, ob dieser Mann mich so liebte, wie ich ihn liebte. Trotz aller Streitereien, ich liebte ihn und hätte ihn schon nach kürzester Zeit geheiratet. Die Worte seiner Mutter fielen auf fruchtbaren Boden. Meine Besessenheit, geliebt zu werden und eine Familie zu haben, öffnete Tür und Tor für alle Warnungen. Für mich klangen ihre Worte wie Verhaltensmaßregeln, und ich war es mein Leben lang gewohnt, solchen Erwartungshaltungen zu entsprechen. Trotzdem war meine Sehnsucht nach einem gemeinsamen Leben mit ihrem Sohn viel zu groß. Mich nervten die zwischenzeitlich fallenden Kommentare. Mal ermahnte sie mich, »den Jungen« nicht so spät nach Hause »zu schicken«, weil der »Junge« seinen Schlaf bräuchte. Mal sagte sie: »Streitet doch nicht so viel. Ich kann das nicht haben.« Dann erzählte sie mir immer wieder, was die letzte Freundin alles falsch gemacht und Böses gesagt hatte, und dann wiederum schimpfte sie mit Felix, weil der sich an den Wochenenden bei mir durchfutterte und nicht ein einziges Mal auf die Idee kam, wenigstens Kaffee und Aufschnitt einzukaufen. Ich musste trotz der Unterstützung ohnehin jeden Pfennig umdrehen, und da fiel es mächtig ins Gewicht, wenn an den Wochenenden der Kühlschrank geplündert wurde. Felixʼ Mutter schwankte zwischen uns beiden hin und her, und vermutlich war dieser Seiltanz auch kein Genuss für sie. Im Leben nicht hätte sie ihren erwachsenen Sohn vor die Tür gesetzt, auch wenn es höchste Zeit dafür geworden war.

Felix erschien mir als ein Mensch, der fröhlich lächelnd durch das Leben spazierte. Bei einer heftigen Knutscherei war der Bezug meines Sofas gerissen. Felix interessierte gar nicht, dass ich fast fünfhundert Mark bezahlen musste, um das Sofa neu beziehen zu lassen. Er war immer völlig erstaunt, wenn ich ihm von meinen Geldsorgen erzählte, und verstand nicht, dass ich keine Rücklagen gebildet hatte. Als ich ihm sagte, dass in meiner Wohnung zehntausend Mark steckten, schaute er mich nur ungläubig an. Das wiederum interpretierte ich als Missachtung dessen, was ich mir im Leben aufgebaut hatte, und ich wurde wütend. Dieser Mann hatte keine Ahnung, was das Leben kostete. Er kannte das Gefühl von Geldsorgen nicht.

Unmittelbar nach dem letzten Telefonat mit meiner Mutter wurde direkt vor meiner Haustür die Seitenscheibe meines Autos eingeschlagen. Eine Sporttasche mitsamt Inhalt war gestohlen worden. Eine Katastrophe für mich. Scheibe reparieren lassen, neue Sportsachen kaufen, das alles waren MEINE Probleme. Kurz darauf wurden mir zwei Male hintereinander die Reifen zerstochen. Ich wusste bald nicht mehr ein noch aus. Als wieder kurze Zeit später jemand die Radmuttern am Auto losgeschraubt hatte und ich nur mit viel Glück in der Polizeischule ankam, gesellten sich zu meinen finanziellen Sorgen noch Sorgen einer ganz anderen Art. Der Gedanke, dass diese »Anschläge« Grüße aus Waldstadt sein könnten, schürte meine Angst vor Jürgen. Die Angst wurde so groß, dass ich jede Nacht zwei bis drei Male mein T-Shirt wechseln musste, weil ich es komplett durchgeschwitzt hatte. Abends legte ich frische T-Shirts ans Bett, sodass ich nur noch danach greifen brauchte und mich schnell umziehen konnte. Dann rollte ich mich auf die andere Seite des Bettes, denn meine Matratze und mein Oberbett waren ebenfalls schweißnass. Ich schrie in der Nacht und wachte von meinen eigenen Angstschreien immer wieder auf.

Das Schlafzimmer war feucht und kalt, und es kümmerte meinen Vermieter nicht im Geringsten. Regelmäßige Rechtsanwaltsbesuche beim Mieterschutzbund begleiteten meine Ausbildung. Capriolas Sattel passte hinten und vorn nicht mehr. Er war derartig muskulös geworden, dass nur ein neuer Sattel hätte Abhilfe schaffen können. Wochenlang ritt ich mein Pferd ohne Sattel, weil ich einfach kein Geld hatte. Ein neuer Sattel hätte gut und gern eintausendfünfhundert Mark gekostet, und die hatte ich nicht. Das Auto muckte. Bei Frost bekam ich nach dem Öffnen der Fahrertür die Tür nicht mehr zu. Das Schloss rastete nicht ein. Ich knotete eine alte Jeans von innen an den Türgriff und presste das andere Ende zwischen meine Knie. Ständig drohte die Tür während der Fahrt zur Polizeischule aufzufliegen. Es konnte auf Dauer so nicht mehr weitergehen.

Aber ich lebte, genau betrachtet, auch ein völlig normales Leben. Es war ein Leben, das man führt, wenn man erwachsen geworden ist und sich bewusst wird, dass man für jedes Kinkerlitzchen allein zuständig ist. Es war das Leben, wie es Hunderttausende in unserer Republik leben.

Der einzige Mensch, der zu diesem Zeitpunkt nicht so lebte, war Felix. Er hörte sich zwar am Wochenende die Probleme an, aber dass ich Hilfestellung gebraucht hätte, diese Botschaft kam bei ihm einfach nicht an. Von meiner Vergangenheit wusste Felix bis zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenig. Er wusste auch nicht, dass ich kurz vor Ostern eine tiefenpsychologische Analyse bei einem Therapeuten begonnen hatte. Und er wusste nicht, dass ich mich immer öfter mit Suizidgedanken quälte. Dass ich meine eigenen Schreie in der Nacht nicht mehr ertrug, dass ich den Druck in der Polizeischule nicht mehr ertrug, dass ich diese Leere in mir nicht mehr ertrug, dass mir mein Leben schlicht und ergreifend zu viel geworden war. Dass ich meines eigenen Lebens überdrüssig und müde geworden war. Lebensmüde eben. Meinen Schmerz über den Verlust meiner/einer Mutter hatte ich vielleicht bewältigt. Nicht aber den Verlust meiner Großmutter. Wie sollte ich auch?

Dachte ich an Felix, dachte ich auch an sie. Er konnte mir aber nicht geben, was sie zu geben vermochte. Sie war meine Großmutter. Felix war mein Partner. Die so entstandene Lücke empfand ich als schmerzliche Leere. Je deutlicher ich spürte, dass ich vergeblich von Felix forderte, was Oma mir freiwillig gegeben hatte, je deutlicher diese Diskrepanz für mich wurde, umso mutloser wurde ich. Umso größer wurde das Loch in meiner Seele. Umso schmerzlicher wurden die Erinnerungen an meine Großmutter. Ich sah Felix und sah meine Großmutter. Die Todessehnsucht stieg im selben Maße, wie sich das Loch in meiner Seele vergrößerte.

Felix und ich schlugen uns an den Wochenenden mit Banalitäten herum. Verstanden kein Wort voneinander und ließen dennoch nicht los voneinander. Stritten über Peanuts. Peanuts, die in meiner Seele zu Elefantenbäumen heranwuchsen und die Leere nur noch vergrößerten.

Etwas Wichtiges änderte sich in unserer Beziehung nach Weihnachten. Felix hatte lapidar gefragt, warum ich nicht Jürgen um finanzielle Hilfe für ein neues Auto bitten würde. Mein emotionaler Ausbruch muss tiefe Spuren bei ihm hinterlassen haben. In fünf Sätzen qualifizierte ich seinen Vorschlag ab und knallte ihm Begrifflichkeiten wie Missbrauch, Misshandlung, Therapie, Suizid und so weiter um die Ohren. Gleichzeitig überschüttete ich ihn mit Vorwürfen, immer tatenlos zuzusehen, wie ich mich mit meinem Leben quälte. Felix machte sich gelegentlich lustig über meine Berufsausbildung bei der Polizei. Seine Erfahrung mit der Polizei manifestierte sich in der Begegnung mit einem Kollegen, der ihn mit den Händen in der Hosentasche und Kaugummi kauend nach seinem Fahrzeugschein und Führerschein gefragt hatte. Felix ahnte nicht, dass Fragen wie »Ballert ihr da eigentlich auch so richtig mit der Knarre rum?« meine Seele tief verletzten. Er ahnte auch nicht, wie stolz ich insgeheim war, diesen schwierigen Lebensweg bis hin zur Polizeischule bewältigt zu haben. Und er ahnte ebenfalls nicht, wie sehr es mich anwiderte, dass ich diese Ausbildung von meinem eigenen Missbraucher mitfinanzieren ließ. Ich sehnte mich nach dem Tag der Prüfung und sehnte mich danach, dass diese Zahlungseingänge aufhörten. Jeden Monat stand es schwarz auf weiß auf meinem Kontoauszug: Tausend–Mark-Einzahler »Jürgen Karnasch«. Es stand direkt unter den Ausbildungsbezügen der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen.

Was genau von meinem Wortschwall bei Felix angekommen war, weiß ich bis heute nicht so richtig. Einige Tage später stand er tief bewegt mit einem kleinen Matchbox-Auto vor der Tür. Er wusste, dass ich einen Mitsubishi, der kaum Kilometer drauf hatte und einem alten Herrn gehört hatte, für einen guten Kurs bekommen konnte. Felixʼ Vater hatte mir den Händler empfohlen. Der Kauf scheiterte aber an der Anzahlung über dreitausend Mark, die ich zu leisten hatte. Den Restbetrag hätte ich monatlich in vierundzwanzig Raten abstottern können. Sicher, ich hätte den Gürtel enger schnallen müssen, aber diese Raten waren machbar. Ich starrte auf das kleine Matchbox-Auto und fing an zu heulen. Es war ein kleiner schwarzer Mitsubishi Colt, genau das Modell, das ich kaufen wollte. Felix hatte feuchte Augen, als er mir einen Umschlag dazu gab. Er nahm mich in den Arm. »Ich kann dir kein neues Auto kaufen«, begann er, »aber die Anzahlung, die kann ich dir geben. Wenn du irgendwann besser bei Kasse bist, kannst du es mir zurückzahlen. Jetzt zumindest brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen und kannst jeden Tag beruhigt zur Polizeischule fahren.«

Ich war sprachlos. Felix hatte mir eine Seite offenbart, die ich bis dato nicht an ihm kannte. Ich heulte mich in seinen Armen aus, und es tat unglaublich gut, einmal schwach sein zu dürfen.

Während meiner wöchentlich stattfindenden Therapiesitzungen litt ich Höllenqualen. Ohne ein Päckchen Tempotaschentücher ging gar nichts. Der Schmerz, meine Mutter verloren zu haben, und der Schmerz über alles, was sie mir angetan hatte, überwältigte mich jedes Mal. In diesem Wirrwarr von gegensätzlichen Gefühlen kam nach fast einem Jahr Therapie meine Sexualität zur Sprache. Ich offenbarte mich dem Therapeuten. Ich wusste, dass Schauspielerei hier zu keinem guten Ergebnis führen würde. An diesem Tag nahm ich zwei Sätze des Therapeuten mit nach Hause. Der erste Satz war: »Sie dürfen ruhig EINE Mutter vermissen, aber bitte nicht DIESE Mutter!« Der Satz hatte tiefen Eindruck bei mir hinterlassen und sorgte für etwas Ruhe in mir. Der zweite Satz hatte mich zum Explodieren gebracht und dazu veranlasst, die Sitzung vorzeitig und unfreundlich zu beenden. Es war der Satz: »Sie werden gar keine andere Wahl haben, als Ihrem Partner zu sagen, dass Sie noch nie mit einem Mann einen Höhepunkt hatten.«

»Niemals! Nur über meine Leiche!«, hatte ich den Therapeuten angebrüllt. Ich war völlig aus der Fassung geraten. »Eher breche ich diesen ganzen Mist hier ab!« Mit diesen Worten war ich aufgestanden und gegangen. Ich war unhöflich gewesen, stellte ich auf der Heimfahrt fest. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass Therapeuten geschult waren, so etwas auszuhalten, und überdies dafür bezahlt wurden. Meine Gedanken waren bei Felix. Und bei dem Therapeuten. Der hatte gut reden. Wie stellte er sich das eigentlich vor? »Du hör mal, Felix. Ich wollte dir nur sagen, dass ich dir fast ein Jahr lang ein großartiges Schauspiel präsentiert habe. Mein ganzes Gestöhne, meine blöden Zuckungen, meine ganzen Orgasmen ... tja, die waren gespielt, mein Liebster? Aber mach dir keine Sorgen, du bist großartig im Bett, und lieb habe ich dich trotzdem?«

Unmöglich! Es war einfach unmöglich! Aber die Hoffnung war da. Ich spürte sie deutlich, und der unbändige Wunsch nach sexueller Identität ließ nicht nach. Es war alles so verdammt verrückt in dieser Zeit. Mal wollte ich meinem Leben ein Ende setzen, dann wiederum kämpfte ich wie eine Löwin um mich. Ich gab mich auf. Ich kämpfte. Ich gab mich auf. Ich kämpfte.

Felix war sexuell immer begeistert bei der Sache, und auf Dauer konnte ich so nicht weitermachen. Ständig fragte er, was mir gefallen würde, und diese Fragen bedeuteten Stress! Innerhalb kürzester Zeit würde es so aussehen wie bei Alfons und mir. Ich würde Felix ständig abwimmeln mit Kopfschmerzen, Zwischenblutungen und allem, was uns Frauen so einfällt, wenn Männer Lust haben und uns das zu viel wird. Felix war ein Mann, dem die Sexualität Nähe und Gemeinsamkeit gab. Er liebte es, mich zu verwöhnen. Er würde mich verlassen, wenn er hörte, dass alles nur gespielt war. Aber war ALLES gespielt? Ich hatte Lustempfinden, hatte eigentlich Spaß am Sex, ich wusste nur nicht, wie ich mit einem Mann Befriedigung erlangen sollte.

 

Allein war das schon lange kein Problem mehr. Ich wusste genau, wie ich funktionierte. Gerd sei Dank.

Als Felix am Wochenende bei mir war, druckste ich herum. Aber es wollte nicht über meine Lippen. Heulend und frustriert igelte ich mich in meinem Bett ein.

Wenig später kam Felix und hockte sich neben mich. Er streichelte mein Haar. »Was ist denn, Christine?« Besorgnis lag in seiner Stimme.

»Du wirst mich verlassen, Felix. Wenn ich dir DAS erzähle, wirst du mich bestimmt verlassen! Das verzeihst du mir nie!« Ich schluchzte und heulte zum Herzzerreißen.

Felix hörte auf, mich zu streicheln. »Hast du mit einem anderen Mann geschlafen?«, fragte er und wich unmerklich ein Stück zurück.

Ich starrte ihn überrascht, verheult und ein wenig erleichtert an. »Iiiiiiich?«, fragte ich erschüttert. »DAVOR hättest du Angst, Felix?« Innerlich triumphierte ich bereits. Wenn DAS alles war, was diesen Mann schockierte, dann konnte ich ihn beruhigen.

»Dann sag mir endlich, was los ist!« Felix hörte sich ungeduldig und ein wenig distanziert an.

Ich setzte mich in meinem Bett auf, und jetzt sprudelte es auf einmal aus mir heraus.

Felix machte es sich irgendwann in meinem Bett bequem und hörte aufmerksam zu. Es wäre ohnehin zwecklos gewesen, meinen Redefluss unterbrechen zu wollen. Ich redete über meine Therapie, über Jürgen, über mein Leben mit anderen Männern, über Gerd, über meinen Körper und über meine Ängste. Ich schüttete Felix meine Ängste praktisch vor die Füße. Die Angst, dass er mich verlassen könnte, die Angst, dass er glaubte, ich würde ihn nicht lieben, die Angst, dass er an seinen sexuellen Fähigkeiten zweifeln könnte, die Angst, ihm alles gesagt zu haben und dann doch nichts in meiner Sexualität ändern zu können, die Angst, sexuell zu versagen und nun entblößt zu sein.

Felix streichelte meine Haare. »Schschschttt. Beruhige dich. Mach dir keine Sorgen. Dann müssen wir eben üben. So einfach ist das.«

Wie ein kleines Kind lag ich in Felixʼ Armen und fühlte mich geborgen wie nie. Eine immense Erleichterung überkam mich, und die Anspannung fiel merklich von mir ab. Mir war ein Riesenstein vom Herzen gefallen.

»Du hast gesagt, du wüsstest, wie dein Körper funktioniert. Du hast auch gesagt, dass du dich selbst befriedigen kannst.« Ich nickte selig.

»Dann will ich dir mal etwas von meinen Sehnsüchten erzählen, ja?« Felix lächelte mich verschmitzt an und tuschelte mir etwas ins Ohr.

»Nein!«, antwortete ich verlegen und schamvoll zugleich. Ich wurde knallrot, und mir wurde heiß. »Nein! Felix!« Meine Empörung war nur gespielt. Ich grinste breit. Ich freute mich.

Wir kicherten und alberten herum und kugelten miteinander durch das Bett.

»Doch, doch«, flüsterte Felix, »mach das. Das wäre mein größter Wunsch. Das habe ich noch nie einer Frau erzählt.«

Wir saßen also in einem Boot? Das war wirklich amüsant. Und ausgerechnet ich konnte diesem Mann mit meinem »Problem« einen Wunsch erfüllen? Es war unglaublich. Wir passten im Bett zusammen wie zwei Puzzleteilchen.

Was soll ich Ihnen sagen, liebe Leser? Man muss nicht alles erzählen, finden Sie nicht auch? Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf, so wie Felix und ich es an diesem Abend auch getan haben. Es hat Spaß gemacht. Es hat so unglaublich viel Spaß gemacht, und wir konnten gemeinsam vor Freude weinen. Ich war einunddreißig Jahre alt, und mein Mann war »mein Erster«. Ein wunderschönes Gefühl.

Als wir später im Restaurant saßen, ulkten wir herum.

»Das schreit nach einer Fortsetzung«, witzelte Felix. Oh Gott, ich liebte diesen Mann. Seine unbeschwerte Art, seine unbekümmerte Lebensführung, die mich tagtäglich auf die Palme brachte ... ich liebte sie jetzt. Genau diese Art war es, die mich hatte fliegen lassen. Es war genau diese Art, die die Ekstase über die Selbstbeherrschung hatte siegen lassen. Ich war einunddreißig und spürte, dass sich in meinem Leben, in meinem Empfinden als Frau etwas Entscheidendes geändert hatte.

Der Therapeut war sichtlich stolz auf mich.

»Sie marschieren hier durch die Therapie, das ist ja Wahnsinn!«

Ich platzte vor Stolz. Ich dachte wirklich, ich hätte meine Vergangenheit nun endlich hinter mich gebracht. Nach über zwei Jahren Therapie beendeten wir unsere Sitzungen.

Trotz aller sexuellen Harmonie veränderte sich wenig an den Streitereien zwischen mir und Felix. Er zierte sich und zog erst zu mir, als ich mit Trennung drohte. Das war kein schönes Gefühl. Ich hatte mir so vieles anders vorgestellt. Als es darum ging, einen Schrank für Felixʼ Kleidungsstücke zu kaufen, schaute er ständig auf die Preise und regte sich selbst bei Sonderangeboten tierisch auf, wie teuer alles sei. Mitten auf einer Rolltreppe entbrannte ein heftiger und lautstarker Streit. Felix hasste es, wenn wir uns in der Öffentlichkeit stritten. Ihm war Diskretion heilig, ich aber musste manche Dinge an Ort und Stelle klären.

Als wir Wochen später endlich einen Schrank kauften, konnte ich mich beim besten Willen nicht darüber freuen. So war es auch mit seinem Einzug gewesen: Die permanenten Diskussionen zehrten an meinen Kräften, und wenn dann endlich eine Entscheidung fiel, dann war mir die Freude vergangen. Wir ließen nichts aus: Ferienplanungen (Felix plante niemals ...), Zukunftspläne (»Wozu das denn?«), Heiraten (»Um Gottes willen, mit neunundzwanzig Jahren schon?«), Kinder (»Viel zu jung!«), neue Wohnung (»... hä? Ist doch schön hier?«) und so weiter und so fort ...

Ich hatte das Gefühl, als lebten wir auf zwei völlig verschiedenen Planeten. Mit seiner Lethargie machte Felix systematisch meine Träume kaputt. Ich war ein Mensch, dem die Träume und die Zuversicht immer Stärke gegeben haben. Ohne Perspektive war ich ein Nichts und sank völlig in mich zusammen. Andere Frauen wurden auf Knien angefleht, ihren Prinzen zu heiraten. Der Meinige ließ sich von mir durchs Leben tragen, und ich empfand diese Last als unerträglich. Ich wusste nicht, woher ich die Kräfte nahm, immer wieder mit Felix zu diskutieren. Was heißt eigentlich »diskutieren«? Ich schwallerte wie wild darauflos, nagelte Felix gnadenlos rhetorisch und argumentativ mit dem Rücken an die Wand, und er schwieg. Er schwieg und machte mich rasend.

Die Frage, ob dieser Mann mich liebte, beantwortete ich mir selbst damit, dass er immer noch an meiner Seite weilte. In stillen Momenten dachte ich gelegentlich, dass so manch ein anderer vermutlich schon längst das Weite gesucht hätte. Aber solange es Männer gab, die ihrer Holden einen Heiratsantrag machten, sich rührend im Alltag um alles kümmerten und sich sehnlichst einen Thronfolger wünschten, so lange hielt ich an meinem Traum vom Frausein und Geliebtwerden fest. Und ich sah es absolut nicht ein, diesen Traum zu begraben. Felixʼ Art des Liebesbeweises kam bei mir nicht an. Für mich hieß Liebe, sich Gedanken um die Zukunft zu machen, gemeinsame Zukunftspläne zu schmieden, Liebesbeteuerungen, kleine Aufmerksamkeiten und vieles mehr. Eben all das, was ich machte. In dieser Zeit träumte ich oft, dass wir ohne unsere Pferde einen Hindernisparcours absolvieren mussten. Ich sprang über die höchsten Hindernisse und stand anschließend diskutierend hinter dem Hindernis. Felix stand davor und traute sich nicht über die Hürde. Aufgewacht bin ich dann immer, weil ich schrie: »Springen musst du schon alleine. Ich kann dich nicht rübertragen.«

Die Ausbildung bei der Polizei schritt voran. Ich befand mich in meinem letzten Praktikum. Die Praktika waren eine echte Wohltat. Meine Kollegen waren zumeist so alt wie ich, hatten Familie und dieselben Lebensansichten wie ich. Der Polizeialltag lag mir und passte zu meinem Temperament: Dachte ich in der einen Sekunde noch »Och, ist das langweilig ...«, so rief unser Funker in der nächsten Sekunde schon: »Raus! Raus! Täter am Werk!« Wir lachten viel unter uns Kollegen. Humor lässt einen die Dinge distanzierter sehen und sich vom Geschehen abheben. Ich sah Wohnungen, von denen ich nichts geahnt hatte. Wohnungen von Alkoholikern, die nach Fusel und Abfall stanken und in denen lauter leere Flaschen zwischen schmutziger Wäsche und Dreck lagen. Wohnungen von Junkies, die nach Urin und Kot stanken, wo die Wände mit Fäkalien beschmiert worden waren und die Spritzen und das Stanniolpapier kreuz und quer herumflogen. Wohnungen, in denen sich das Geschirr ganzer Monate selbstständig vorwärtsbewegte und Wohnungen, in denen die verdreckten Toiletten neues Leben hervorgebracht hatten. Es war schier unglaublich, und die Perversitäten kannten keine Grenzen. So also endete man, wenn man aufhörte zu kämpfen. Wenn man keine Kraft mehr hatte und liegen blieb.

Da wurden Frauen von ihren Männern tagelang ans Bett gefesselt, brutal verprügelt und vom eigenen Mann und dessen Saufkumpanen mehrfach vergewaltigt. Frauen saßen auf der Wache, deren Gesicht förmlich zu Brei geschlagen worden war und die nicht mal mehr Kraft für eine einzige Träne hatten. Frauen, deren Anzeigen ich akribisch schrieb und die am nächsten Tag wieder auf der Wache standen und ihre Anzeige zurückzogen. Als der Polizei endlich die Befugnis gegeben wurde, prügelnde Männer aus den Wohnungen zu schmeißen und ihnen für zehn Tage ein Rückkehrverbot zu erteilen, war das für viele Frauen ein Segen.

Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir nachhaltig bewusst, dass mir bei allem, was ich erlebt hatte, viel erspart geblieben war. Zum Glück.

Ich sah so viel Leid, aber eines sah ich nie: missbrauchte Kinder. Ich sah niemals auch nur ein misshandeltes Kind. Die Kolleginnen und Kollegen in den zuständigen Fachkommissariaten sehen solche Kinder jedoch täglich. Aber wir? Die Polizisten auf der Straße?

Wohl überkam mich manches Mal ein komisches Gefühl. Das Gefühl, das mit der präsentierten heilen Fassade irgendetwas nicht stimmte. Ein kurzer »anderer« Blick aus Kinderaugen, eine unbestimmte Geste, ein allzu aggressives oder auch allzu introvertiertes Verhalten. Und wenn ich dann mal mein Gefühl gegenüber den Kollegen äußerte, reagierten sie fast alle gleich.

»Ich habe doch mit dem Vater gesprochen! Der war supernett! Hast du das Haus gesehen? Der Typ ist Oberstudienrat. Neeeeee! DAS glaube ich nicht!«

Aber es gibt sie, diese Kinder. Es gibt misshandelte, fast zu Tode geprügelte und unvorstellbaren Seelenqualen ausgesetzte Kinder. Es gibt sie, die Kinder, die täglich, wöchentlich ihren Missbraucher ertragen müssen.

Als Polizistin der Straße sehe ich sie als Erwachsene: in den Wohnungen der Alkoholiker, der Junkies, der Gestrandeten; am Straßenstrich und in den Bordellen; als Opfer auf der Wache mit blau geschlagenem Körper.

Wo waren sie als Kinder? Als Opfer, die noch am Beginn ihrer desaströsen »Karriere« standen? Sie waren wie ich damals: perfekt in der Tarnung. Perfekt im Lügen. Perfekt darin, ihren Missbracher zu schützen. Ich möchte wissen, vor wie vielen missbrauchten Kindern ich bisher schon gestanden habe. Ich möchte wissen, wie viele Kinderaugen schüchtern zu der Frau in der Polizeiuniform hochgeschaut haben und vielleicht hofften, dass ich sie endlich aus ihrer hoffnungslosen Lage heraushole! WIE VIELE? Ich möchte es wissen!

Die Anblicke unzähliger menschlicher Schicksale belasteten mich nicht in dem Maße, mit dem ich gerechnet hatte. Ich zog meine eigenen Lehren daraus und habe bis heute meine eigene Art, mit diesen Bildern zurechtzukommen. Immer wieder relativiert sich dann mein eigenes Leben. Ich hatte das unglaubliche Glück (oder das unglaubliche Gespür?), als erwachsene Frau ausschließlich an Männer zu geraten, die mir nicht geschadet haben. Selbst Léon, der alte Choleriker, war mit den Männern, die ich im Polizeialltag mit dem größten Vergnügen in die Zelle schleppe, in nichts zu vergleichen. Ich hatte mit Felix einen ebenso lieben wie geduldigen Mann gefunden. Ich hatte eine Arbeit, mit der ich auf »redliche« Weise mein Geld verdienen konnte. Ich hatte das Geld, mein Pferd und meine wunderschöne Wohnung finanzieren zu können. Das tägliche Ambiente des Bauernhofs stand im krassen Gegensatz zu dem Lärm der Stadt und dem Gestank in den vielen Behausungen.

Felix wohnte nicht gern bei mir, war nach wie vor lieber bei seinen Eltern, schmiedete keine Zukunftspläne, machte mir keinen Antrag und wünschte sich kein Kind.

Wie sehr hatte ich darauf gehofft, dass sich der Mann meiner Träume eines Tages ein Kind wünschen würde? Gegen Ende meiner Ausbildung hatte ich Felix förmlich erpresst: Sex ja – Verhütung nein! Das Gefühl war einfach schlecht. Richtig schlecht.

In der Polizeischule diskutierten alle bereits über die Versetzungen, die mit den Abschlussprüfungen einhergingen. Es gab Städte, die waren schier unerreichbar für uns. Zum damaligen Zeitpunkt gehörte Ruhrstadt auch dazu. Die Chancen stiegen mit Wartepunkten, die man im Laufe der Jahre sammeln konnte. Das Punktekonto konnte aber mit einer Heirat oder einer Familiengründung mächtig aufgefrischt werden. Stichtag für dieses Punktekonto war der 20. Januar, der Geburtstag von Felixʼ Mutter.

Ich erzählte Felix von meiner Sorge. Ich äußerte freimütig meine Angst vor einer räumlichen Trennung, die Angst, dass unsere Beziehung in die Brüche gehen könnte, und die Angst, schon wieder in meinem Leben alle Zelte und Kontakte abbrechen zu müssen. Ohne Heirat standen für mich als Single Städte wie Köln oder Düsseldorf ganz oben auf der Skala der Wahrscheinlichkeit. Ich sehnte mich danach, dass Felix Farbe bekannte und mich in dieser Krise nicht allein ließ. Es war nicht nur mein Problem. Es war schließlich unser Problem, denn es ging um unsere Zukunft. Hätte ich Felix nicht gekannt, wäre mir die Versetzung herzlich egal gewesen. Eine Wohnung für mich und eine Box für Capriola ließen sich überall finden.

Felix schwieg und hörte zu. Immer wieder drängte ich ihn, seine Meinung preiszugeben und mir endlich zu sagen, was er dachte. Streit lag wieder in der Luft.

Dann eröffnete mir Felix: »Wenn du tatsächlich nach Düsseldorf oder Köln versetzt wirst, warum nimmst du dir dann nicht ein kleines Appartement und kommst an deinen freien Tagen nach Ruhrstadt? Ich bleibe dann hier in der Wohnung und übernehme die Miete.« Das warʼs. Das war sein Statement.

Ich war sprachlos. Felix hatte es geschafft, MICH sprachlos zu machen.

»Du tickst doch wirklich nicht ganz sauber!«, herrschte ich Felix an. »Wie stellst du dir das eigentlich vor? DU wohnst in MEINER Wohnung, die ICH von MEINEM Geld eingerichtet habe, und ICH ziehe in ein Miniappartement und verbringe meine wenigen freien Tage dann mit Wäschewaschen und Putzen? Gehtʼs dir noch gut?«

»Hey! Jetzt reg dich nicht gleich wieder auf! Es ist doch nur ein Vorschlag! Und natürlich würde ich dann die Miete für diese Wohnung übernehmen!«

Mir platzte der Kragen. »Oooohhh! Wie generöööööös von dir«, schimpfte ich los. »Da muss ich wohl noch dankbar sein, wie? Und was ist mit Capriola? Was ist mit meinem Pferd? Soll ich vielleicht noch ein neues Auto kaufen mit Anhängerkupplung und einen Pferdeanhänger, damit ich Capriola dann immer von Köln nach Ruhrstadt und wieder von Ruhrstadt nach Köln fahre? Wo soll ich hin mit dem Pferd? Stelle ich ihn nach Köln, dann kann ich ausgerechnet an meinen FREIEN Tagen NICHT reiten! Soll ich HIER nicht reiten?«

Ich war völlig aufgelöst. Felix hatte mir gerade den Boden unter den Füßen weggerissen. Er hatte mich verraten, im Stich gelassen und mich den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Er war wie die anderen, die meine Seele mit Füßen getreten hatten. Er saugte mich aus, nutzte alles das, was ich mir mühsam aufgebaut hatte, und trudelte völlig entspannt mit seiner Mama durch den Alltag. Und irgendwann würde er eine neue Frau finden und mich abschießen. Wegwerfen. Dann, wenn ich überflüssig geworden war. Ich brach in Tränen aus. Heulte und heulte und heulte. Hasste diesen Mann. Liebte diesen Mann. Schoss ihn ab. Warf mich vor ihn. Starb und kämpfte. Hoffte und resignierte. Ein Orkan tobte in mir.

Felix realisierte, dass sein Vorschlag daneben war. Aber nicht, weil er begriffen hatte, dass sein Vorschlag eine Zumutung für mich war, sondern weil er meine Reaktion volle Wucht abbekam. Wir stritten wie die Kesselflicker. Umsonst. Wir kamen auf keinen gemeinsamen Nenner. Ich würde mich trennen müssen. Ich kam mit solchen Zwitterlösungen nicht zurecht. Eher schlug ich alles kurz und klein, als dass ich mich mit einem solch faulen Kompromiss zufriedengegeben hätte. Sekt oder Selters. Letzteres kannte ich bereits zur Genüge. Dann müsste ich eben wieder von vorn anfangen. Würde mir eine richtig schöne Wohnung suchen, für Capriola ein neues Zuhause finden, würde mich niederlassen in einer fremden Stadt, Kontakte knüpfen und eines Tages vor einem Mann stehen, der mich besser behandelte, als Felix es tat. Ich wollte ein Zuhause. Ich wollte Wurzeln. Ich wollte Heimat. Ich wollte Sicherheit.

In letzter Verzweiflung schmiss ich Felix, der ohnehin nur halbherzig bei mir wohnte, kurzerhand raus. »Geh zu deiner Mama!«, schrie ich ihn an. Als er tatsächlich ging, brach ich zusammen. Dieser elendige Schmerz breitete sich wieder in meinem Körper aus. Es zerriss mir das Herz. Ich zitterte am ganzen Körper, zäher Speichel floss aus meinem Mund, ich würgte, ich spuckte, ich krampfte und schrie. Ich wollte sterben. Ich wollte bei Oma sein. Ich wollte nicht mehr verlassen werden. Ich wollte nicht mehr kämpfen. Ich wollte endlich meinen Frieden.

Meine Automatismen, mein Zwangskorsett der eisernen Disziplin, mein Putzfimmel, meine Nikotinsucht und meine Sucht nach Leistung trugen mich weiter durch den Alltag. Ich lernte wie besessen, erklärte den Kolleginnen rechtliche Zusammenhänge, organisierte eine abendliche Lerngruppe in meiner Wohnung und sammelte in den Stunden mit Capriola Kraft. Das Pferd und die Reiterei waren die einzige Chance für mich, einmal richtig abzuschalten. Ich liebte Capriola. Typisch Skorpion war er: mutig, intelligent, vorsichtig, skeptisch und immer zur Leistung bereit. Für ein Lob von mir brachte das Tier sich fast um. Capriola war völlig fixiert auf mich. Wir verstanden uns wortlos. Verstanden uns mit Gesten, die kaum ein anderer wahrnahm. Er lernte und lernte und lernte. Niemandem war es bis jetzt gelungen, dieses Pferd auch nur zu longieren, geschweige denn zu reiten. Ich ritt mit ihm ohne Sattel und ohne Reithalfter Piaffe-Passage-Übergänge, und meinem Schwiegervater verschlug es die Sprache.

Vier Monate vor dem Ende der Ausbildung hatte Felix die Tür meiner Wohnung von außen zugeschlagen. Es folgte das reinste Chaos. Immer wieder standen wir heulend voreinander und kamen nicht weiter. Ich schlug vor, dem Thema Heiraten etwas mehr Glanz und Abenteuer zu verpassen, um die diffusen Ängste von Felix beiseitezudrängen. Warum nicht nach New York fliegen? Wir könnten heiraten, nach New York fliegen, Weihnachtseinkäufe machen und gelassen unserer Zukunft entgegenblicken. Ich würde im Frühjahr nach Ruhrstadt versetzt werden, und unser Leben ginge fröhlich weiter. Felix nickte und schwieg. Ich wertete dies als Zustimmung und schöpfte wieder Hoffnung. Dann die Enttäuschung. Felix wollte nicht. Felix konnte nicht. Er selbst wusste nicht, warum. Doch, doch, so beteuerte er, doch, doch, er würde mich lieben, er wolle keine andere Frau, er wollte aber nicht heiraten.

Ich schmiss ihn raus. Er kam wieder. Ich schmiss ihn raus. Er kam wieder. Ich schmiss ihn wieder raus, und wieder kam er zurück. Es war grauenvoll. Es war absolut grauenvoll. Unser nicht enden wollender und mit all meiner Leidenschaft ausgetragene Streit zermürbte auch Felixʼ Eltern. Seine Mutter bemühte sich in stundenlangen Gesprächen mit ihm, die Gründe herauszufinden. Sie vergoss bittere Tränen, zweifelte an der Erziehung ihres Sohnes und verstand die Welt nicht mehr. Mein Schwiegervater stürzte sich eines Tages schluchzend in meine Arme. Das ganze Theater war ihm zu viel geworden, und er wusste nicht mehr, wohin mit seinen aufgestauten Gefühlen. Er könne auch nicht sagen, was mit Felix los sei, klagte er unter Tränen. Es war offensichtlich, dass bei uns allen die Nerven völlig blank lagen.

In dem ganzen Theater versuchte ich, mich auf meine Abschlussprüfungen vorzubereiten. Weihnachten stand vor der Tür. Ich fuhr zum Friedhof in die mir verhasste Stadt Waldstadt. Ich heulte am Grab meiner Großmutter und erzählte ihr, was los war. Auch das half nicht. Als ich die A45 zurückraste, ging es mir schlechter als vorher.

Ich hatte mir alle möglichen Notfallpläne im Kopf zurechtgelegt: Plan A sah vor, dass ich Capriola verkaufen würde. In Köln ein Pferd zu halten, war mehr als doppelt so teuer wie in Ruhrstadt. In Plan A hatte ich mit der Reiterei endgültig abgeschlossen. Ich wollte nicht mehr. Um Plan A bei Bedarf aus der Schublade ziehen zu können, hatte ich Capriola in einer bundesweit erscheinenden Zeitschrift als Verkaufspferd annonciert. Das Foto von ihm wurde sogar auf der Titelseite veröffentlicht. Plan A war ein grausamer, auf Selbstschädigung ausgerichteter und unerbittlich harter Plan.

Plan B sah die Suche nach einer kleinen Wohnung und einem Stall für Capriola vor. In Plan B wollte ich mit aller Macht an den Manifesten meines Lebens festhalten. In Plan B wollte ich unbedingt weiterreiten. Plan B hätte unglaublich viel Kraft gekostet. Beide Pläne hatten nur eine Gemeinsamkeit: Die unausweichliche und gnadenlose Trennung von Felix und die Suche nach einem anderen Mann.

Plan C beinhaltete ein Miniappartement in einer dieser Großstädte. In Plan C würde Capriola bei Felixʼ Eltern bleiben. Er fühlte sich wohl dort. Felixʼ Vater würde ihn in der Reithalle laufen lassen. Ich würde an meinen freien Tagen nach Hause fahren, reiten und in meiner Wohnung wohnen. Plan C kotzte mich an.

Plan D war die Heirat. Unspektakulär. Ohne Kniefall meines Mannes. Standesamtlich. Hauptsache, in Ruhrstadt bleiben. Hauptsache, mit Felix zusammenbleiben. Eine Familie gründen. In eine Bauersfamilie einheiraten. Ein braves Frauchen werden. Plan D schien unerreichbar. Plan D war allein nicht machbar. Plan D scheiterte an Felix.

Und so hatte ich noch Plan E. Plan E schlummerte schon seit vielen vielen Jahren in mir. Plan E hieß: Finito. Zurück in Omas Schoß ...

Anfang Januar erschien die Pferdezeitschrift. Als ich Capriola auf der Titelseite sah, weinte ich. Ich war erschrocken über die Grausamkeit in mir. Meine Illoyalität dem Tier gegenüber widerte mich an. Capriola, der mir sein ganzes Vertrauen geschenkt hatte und seit fünf Jahren mein täglicher und treuer Begleiter war, wäre der Preis eines Neustarts gewesen. Oder das Resultat einer gescheiterten Beziehung. Oder die Demonstration der totalen Kapitulation, der völligen Kraft- und Hoffnungslosigkeit.

Meine Schwiegereltern sahen das Bild. Mein Mann sah das Bild. Der einzige Kommentar, den ich erhielt, kam von meinem Schwiegervater. Ob ich allen Ernstes glaubte, DIESEN Preis für DAS Pferd zu bekommen, fragte er mich ungläubig und schüttelte den Kopf. Das war alles. Schaue ich zurück auf diese Zeit, dann hätte ich genau zu diesem Zeitpunkt eine Mutter gebraucht. Ich meine, eine »richtige Mama«. Würde meine Tochter eines Tages in ihrem Leben vor solch einer »Verzweiflungstat« stehen, dann würde ich sie mir unter den Arm klemmen, ein Restaurant aufsuchen und ihr gehörig ins Gewissen reden. Ich würde ihr schonungslos vor Augen führen, dass sie kurz davorsteht, einen großen Fehler zu begehen, und sie zurückholen in die Wirklichkeit.

Ich hatte keine Mama. Ich hatte mein chaotisches Leben und das Grab meiner Großmutter. Meine Oma hätte mir einen Vogel gezeigt, wenn sie noch gekonnt hätte.

Am Abend des achtzehnten Januars stritten wir wieder heftigst. Tränen flossen auf beiden Seiten. Kurz vor Mitternacht quälte sich Felix die alles entscheidenden Worte ab: »Dann müssen wir eben heiraten!«

Um acht Uhr am nächsten Morgen rief ich den Standesbeamten an. Ich erklärte ihm, dass er sozusagen Amtshilfe leisten müsse und ohne vorangegangenes Aufgebot noch heute unsere Trauung vollziehen sollte. Der Standesbeamte war hörbar amüsiert, lachte schallend und sagte: »Dann kommen Sie mal um zehn Uhr vorbei, und bringen Sie bitte die Familienstammbücher und Geld mit. Vielleicht treiben Sie ja noch irgendwo zwei Trauzeugen auf. Bis später.« Selbst als er auflegte, lachte er noch.

Felix starrte mich völlig erschöpft und fassungslos an. »Jetzt steh hier nicht so dämlich rum«, motzte ich ihn an. »Los! Mach voran! Sag deinen Eltern Bescheid. Ich rufe Britta und Karin an!«

»Ich muss doch ins Büro«, murmelte Felix.

Er war gänzlich überfordert und wusste nicht, wie ihm geschah. Ich drückte ihm den Hörer in die Hand.

»Du rufst da jetzt an und nimmst dir einen Tag Urlaub. Und wehe, du machst jetzt noch einen Rückzieher. Ich warne dich.« Böse funkelte ich ihn an.

Felix erledigte den Anruf und machte sich auf den Weg zu seinen Eltern.

Ich rief Britta auf dem Handy an. »Kannst du dich mit Karin auf den Weg machen und nach Ruhrstadt kommen? Ihr müsst um zehn Uhr mit zum Standesamt. Jaja ... Wir haben sonst keine Trauzeugen. Ja gut ... Macht das ... Meldet euch krank ... Ist ein Notfall.«

Auf Britta und Karin war Verlass. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich nur mit Britta und Karin vor dem Standesbeamten stehen würde, war so lange groß, bis Felix sein verdammtes »Ja« ausgesprochen hatte. Ich war aufgeregt. Nicht dazu in der Lage, mich zu freuen, sondern angespannt und voller Sorge, dass Felix noch kurz vor Toresschluss einen Rückzieher machen könnte.

Es war halb neun. Ich musste noch duschen und irgendein Röckchen anziehen. Draußen war es kalt. Ich hatte meine Tage, Pickel im Gesicht, Ränder unter den Augen und sah so gar nicht aus wie eine glückliche Braut. Egal. Ich duschte und klatschte mir fünf Pfund Make-up ins Gesicht. Es war viel zu viel und wirkte wie Spachtelmasse. Wurscht. Ein Rock und ein passender Blazer würden genügen. Die Plastikfolie von der dicken Binde knisterte beim Laufen. Wenn man eine Hose anhatte, war das nicht so, stellte ich nebenbei fest. Ich zog die Nur-Die-Seidenstrumpfhose höher. Es war ein Wunder, dass ich diese Strumpfhose in der Schublade gefunden hatte. Seidenstrumpfhosen gehören nicht unbedingt zu meinem Standardrepertoire. Als ich endlich auch das Familienstammbuch aus einem alten Karton gekramt hatte, klingelte es an der Tür. Es war Felix. Es war tatsächlich Felix.

»Bist du fertig?«, fragte er.

Ich versuchte, sein Gesicht zu studieren, und fragte zurück: »Und du? Freust du dich denn so gar nicht?«

»Und wie«, konterte er zynisch. »Meine Eltern kommen übrigens mit ihrem eigenen Auto. Sie bringen noch Tante Helma mit. Hast du Britta und Karin erreicht?«

Ich nickte. Felix dachte zumindest mit, und ich wertete das als gutes Zeichen.

Auf der Fahrt zum Standesamt stritten wir uns dann noch kurz über die Namensgebung. Felix weigerte sich, den Namen Al-Farziz anzunehmen. Eher würde er umkehren, polterte er los. Ich würde Birkhoff heißen, oder er würde nicht heiraten! Basta! Wenigstens in dieser Beziehung war Felix resolut. Felix Al-Farziz hätte sich blöd angehört. Christine Birkhoff war da wesentlich gefälliger. Vermutlich würde ich nun nicht mehr ständig meinen Namen buchstabieren müssen. Ich hörte mich als Christine Birkhoff so richtig deutsch an. Ich fandʼs okay und willigte ein.

Als wir auf dem Standesamt waren, empfingen uns Felixʼ Eltern und Tante Helma. Die Stimmung war angespannt, und jeder hoffte darauf, dass mit dieser Entscheidung endlich Ruhe einkehren würde. Felix war nervös und ging den Flur auf und ab. Britta und Karin kamen gehetzt und fröhlich lachend aus dem Fahrstuhl gerannt. Mit ihrer Jugendlichkeit und ihrer frischen Art entkrampften sie die Situation merklich.

Die Trauung selbst verlief unspektakulär und wenig emotional. Ich hatte Mühe, mit meinem neuen Namen zu unterschreiben. Bis heute habe ich kein Foto von diesem Tag gesehen, bin mir aber sicher, dass irgendjemand Fotos gemacht hat. Als wir nach zehn Minuten wieder auf dem Flur standen, war alles vorbei. Felix sagte: »Tjaaaa ... Das hätten wir wohl.«

Auf der Fahrt nach Hause heulte ich schon wieder. Ein Gefühl der Identitätslosigkeit überkam mich urplötzlich. Ich hatte den Namen meines mir so sehr verhassten Vaters abgelegt, und jetzt fehlte mir dieser Name auf einmal. Ich war immer »die Al-Farziz« gewesen. Der Name war besonders. Fremdländisch. Orientalisch. Mit diesem Namen hatte ich meinen Lebensweg beschritten, hatte ich meine Berufsausbildungen absolviert, mir bei der Lufthansa einen großen Teil der Welt angesehen, und dieser Name gehörte immerhin zweiunddreißig Jahre lang zu mir. Der Name war ICH. ICH war der Name. Ich trauerte ihm noch eine Zeit lang nach.

Nach dem Standesamt frühstückten wir gemeinsam bei uns zu Hause, und langsam lockerte die Stimmung auf. Als alle gegangen waren, schauten Felix und ich uns an. Wir landeten im Bett, und ich für meinen Teil hätte mir diesen Akt gern erspart. Weder war mir danach zumute, noch war es schön. Ich war so leer, so ausgepumpt und spürte, wie mir eine tiefe Traurigkeit den Rücken hinaufkroch. Felix verabschiedete sich mit zärtlichen Küssen und fuhr ins Büro. Er hatte nur einen halben Tag Urlaub genommen, wie ich erst jetzt erfuhr.

Ich saß an dem Küchentisch, der darauf wartete, abgeräumt zu werden. Ich stürzte in ein tiefes emotionales Loch. Ich konnte mich nicht freuen. Und die Tatsache, dass ich mich nicht freuen konnte, machte mir Angst. Und es machte mich traurig. Ich fühlte mich einsam. Ich war knapp zwei Stunden verheiratet und fühlte mich schrecklich einsam.

Am Nachmittag rief Felix an. Er war supergut gelaunt, und seine Stimme verkündete Lebensfreude.

»Ich habe fast alle Freunde von mir erreicht. Wir treffen uns heute Abend beim Italiener. Bei da Carlo hatten sie noch einen großen Tisch frei. Ich hole dich dann ab, ja? Bis später!«

Ich starrte den Hörer an. Und was war mit MEINEN Freunden? Silke musste zum Nachtdienst, Jule und Gerd hockten weit weg in Hannover, Dana war in Aachen, Gitta in Viersen, Carla in München. Super!

Ich rief Britta an.

»Ja und?«, gab sie mir zur Antwort, »dann fahren wir eben noch mal nach Ruhrstadt. Uns macht das nichts aus. Wir kommen auf jeden Fall.«

Am Abend saßen Felix und ich mit über zwanzig Leuten am Tisch. Zwei davon waren meine Freundinnen Britta und Karin. Der Rest waren die Freunde und Bekannten aus Felixʼ Umfeld. Felix, der mit seiner Heimat fest verwurzelt ist, der dreißig Jahre hier aufgewachsen war, hatte seinen Freundeskreis verständlicherweise hier in Ruhrstadt. Unsere Ad-hoc-Heirat ließ mir keine Chance, meinen weit verstreuten Freundeskreis an diesem Abend einzuladen. Da hätte ich eine Cessna chartern müssen, um meine Leute bundesweit einsammeln zu lassen. Ich war an diesem Abend mit meinen Gedanken weit weg und beobachtete die Szenerie wie durch einen Vorhang. Felix lachte viel und amüsierte sich prächtig. Ich gönnte es ihm von Herzen. Er hatte sich so unendlich schwergetan mit dieser Heirat, dass er nun ausgiebig feierte und mit seinen Freunden auf »seine« Blitzaktion anstieß. Sätze wie »Alter Knabe! Da haste uns aber überrascht!« oder »Felix, Felix. Stille Wasser gründen tief, he?« oder »Der Birkhoff! Hahaha! Immer für eine Überraschung gut, alter Sportsfreund!« rauschten an mir vorbei. Irgendwie gehörte ich nicht hierhin, und auch ohne mich wäre die Party fröhlich weitergegangen.

 

Es war Ende Januar. Meine Sportprüfung war gut gelaufen, und ich stand kurz vor den letzten Prüfungen. Eine Blasenentzündung ereilte mich zwei Tage vor der Klausurenreihe. Vollgestopft mit Antibiotika absolvierte ich die schriftlichen Klausuren. Es klappte alles zufrieden stellend, und zum Schluss war ich einfach nur froh, dass die Prüfungen vorbei waren. Für mich war es keine Frage, OB ich bestanden hatte, sondern lediglich WIE. Ab dem ersten April würde ich nie wieder den Namen von Jürgen Karnasch auf meinen Kontoauszügen sehen. Ich wusste, dass er unabhängig von der Kenntnis, ob ich meine Ausbildung beendet hatte, pünktlich seine Zahlungen einstellen würde. Ich würde endlich unabhängig von diesem Schwein sein.

Die letzten Wochen vor der Bekanntgabe der Noten verliefen locker. Wir alle schliefen viel und hielten uns mit einem Minimum an sportlichem Pensum fit. Diese Wochen sind die einzigen Wochen der Ausbildungszeit, die ich in guter Erinnerung habe. Wir alberten herum und vertrödelten die Zeit mit vielen Gesprächen.

In dieser Lebensphase erhielt ich eines Tages einen Anruf aus der Schweiz.

»Ich rufe an, weil Sie in der Pferdezeitung einen schwarzen Lipizzaner annoncieren. Ist das Pferd schon verkauft, oder können wir uns das Tier morgen anschauen?«

Morgen? Ich erschrak und stammelte irgendetwas. Der Mann am anderen Ende der Leitung musste mich für komplett beschränkt halten. Der Mann war ein Baron aus der Schweiz und wollte am nächsten Tag mit dem Flieger nach Ruhrstadt kommen. Das ging mir eigentlich viel zu schnell ... Aber dann antwortete ich.

»Fünfzehn Uhr siebenundzwanzig? Gut. Ich hole Sie ab. ... Nein, nein. Kein Problem. Bis morgen. Auf Wiederhören.«

Ich rief Felix im Büro an.

»Da hat ein Baron aus der Schweiz angerufen. Der will morgen mit seiner Frau kommen und Capriola anschauen. Ich soll die beiden am Nachmittag vom Flughafen abholen.«

Mein Tränenpegel stieg. Ich schluckte.

»Mit dem Flugzeug kommen die hierhin? Meine Güte! Die müssen ja Geld haben! Ja ist doch toll! Vielleicht nehmen die ja das Pferd?«

»Ja. Vielleicht tun sie das. Lassen wir uns überraschen. Bis später dann. Musst du lange arbeiten?«

»Es geht. Ich fahre danach mit Fides zum Training. Schon vergessen? Hatte ich dir aber gesagt. Ich denke, dass ich spätestens um zehn zu Hause bin. Bis später.«

Ich rauchte eine Zigarette und blies nachdenklich Kringel in die Luft. Das Gespräch war unbefriedigend verlaufen. Es hatte mir nichts gegeben. Ich wusste auch nicht so recht, was ich eigentlich erwartet hatte.

Ich rief Richard Hinrichs im Büro an.

»Hinrichs.«

»Hallo, Herr Hinrichs. Hier ist Christine. Herr Hinrichs. Ich weiß nicht mehr weiter. Ich brauche Ihren Rat. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«

»Schießen Sie los, Christine. Ich bin ganz Ohr.« Ich erzählte und erzählte. Wie einsam ich mich fühlte. Wie sehr mir die Fachsimpeleien unter den Reitern fehlten. Dass ich frustriert war, weil sich niemand um meine Reiterei kümmerte. Dass ich nur noch gut genug sei, um Felix die Brocken hinterherzutragen. Dass Capriola sich prima entwickelt habe. Dass dieser Baron morgen kommen würde. Dass er vielleicht sehr viel Geld bezahlen würde.

»Was denken Sie, Herr Hinrichs? Was würden Sie an meiner Stelle tun? Ich weiß echt nicht mehr weiter.«

Ich hörte, wie Richard Hinrichs am anderen Ende tief ein- und ausatmete. Er dachte hörbar nach. Und begann wie immer mit einem langgezogenen »Tjaaaaa... «. Er sagte: »Ganz ehrlich, Christine. Ich glaube nicht, dass Sie ein Mensch sind, der zum Eremitendasein geboren ist.

Wenn Sie eine miserable Reiterin wären, dann würde ich Ihnen jetzt sagen, seien Sie froh, dass Sie ein Pferd gefunden haben, das ganz passabel unter Ihnen läuft. Aber dafür können Sie zu viel. Dieses Eremitendasein passt einfach nicht zu Ihnen. Ich glaube nicht, dass Sie das auf Dauer glücklich machen wird. Den Baron kenne ich. Das sind furchtbar nette Leute. Die haben einen eigenen Stall. Hinsichtlich Ihrer Bedenken zu dem Pferd kann ich Ihnen nur sagen, dass Capriola bei diesen Leuten steinalt werden wird. Der Baron ist ein großer Liebhaber dieser Rasse. Da wird sich das Pferd auch nicht totarbeiten müssen. Also dahingehend kann ich Sie beruhigen. Und objektiv betrachtet ist der Preis, den Sie mir da gerade genannt haben, ein stolzer Preis. Der Markt ist im Moment schlecht. So viel Geld bekommen Sie für das Tier sicherlich nicht so schnell wieder. Und wie gesagt. Dieses Eremitendasein passt einfach nicht zu Ihnen. Aber entscheiden müssen Sie das selber. Die Entscheidung kann Ihnen niemand abnehmen.«

Die Entscheidung kann Ihnen niemand abnehmen. Die Entscheidung kann Ihnen niemand abnehmen. Die Entscheidung kann ... Es war zum Verzweifeln!

Ich rief Gerd an. Gerd würde mir weiterhelfen.

»Kapitzke.«

»Geeeeerd. Du musst mir einen Rat geben. Ich bin völlig verzweifelt.« Ein riesiger Schwall von Erzählungen prasselte auf Gerd nieder. Gerd kannte das schon. Er war der beste Zuhörer, den ich kannte. Ich heulte, während ich erzählte.

»Christine. Ich kann dir meine Meinung dazu sagen. Ein alter Rittmeister hat mal zu mir gesagt: ›Man hat nur ein einziges Mal im Leben SEIN Pferd.‹ Ich will damit sagen, dass du dir gut überlegen solltest, was du da tust. Sicher. Richard hat Recht. Das ist eine Menge Geld für Capriola. Und es stimmt sicher auch, dass der Baron wahnsinnig nett ist. Aber meinst du wirklich, Christine, dass du Spaß daran hättest, Turniere zu reiten? Wo bleibt da deine Kreativität? Jeden Tag stumpf dieselben Lektionen reiten, also ich weiß nicht, MIR würde das keinen Spaß machen. Überleg dir das gut, Christine! Eine falsche Entscheidung könntest du ein Leben lang bereuen.«

Ich kam nicht weiter. Ich kam einfach keinen Millimeter weiter. Am nächsten Tag holte ich den Baron und seine Frau am Flughafen ab. Es stimmte. Es waren sehr freundliche und warmherzige Menschen! Meine Sympathie flog ihnen zu. Der Baron wollte seiner Frau Capriola schenken. Wahnsinn! Es war so ein krasser Gegensatz zu meinem Leben. Wollte ich im Turniersport Fuß fassen, MUSSTE ich Capriola verkaufen, um ein Sportpferd bezahlen zu können. Mein Mann wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, MIR ein Pferd zu schenken. Oder mir sein eigenes Pferd Fides auszuleihen. Felix war viel zu sehr mit seinem eigenen sportlichen Fortkommen beschäftigt. Der Baron erinnerte mich an Alfons. Alfons hatte mir ein Pferd geschenkt. Alfons ... Ich seufzte. Alfons war so ganz anders gewesen als Felix ... Aber ich wollte nicht undankbar sein. Seit Jahren schon suchten der Baron und seine Frau nach einem schwarzen Lipizzaner. Und waren nun, ausgerechnet bei mir, fündig geworden. Die Freundlichkeit dieser beiden Menschen machte es mir nicht leichter. Als sie vor Capriola standen, war ihnen die Bewunderung und die Ehrfurcht deutlich anzusehen. Sie waren von MEINEM Capriola hin und weg. Ich ritt Capriola vor. Ich zeigte den Leuten die Sprünge über der Erde. Sie waren mächtig beeindruckt. Und ich? Ich war mächtig stolz.

Wir gingen zum Italiener. Bis zum Rückflug waren es noch über zwei Stunden.

»Ich will gar nicht lange reden«, setzte der Baron an. »Dieses Pferd ist exakt DAS, was wir gesucht haben. Wir sind, ehrlich gesagt, tief beeindruckt, was dieses Pferd alles kann. Es ist unglaublich, wie Sie mit Capriola arbeiten. Er liebt sie. Und er liebt die Arbeit. Aber er würde es sehr sehr gut haben bei uns. Das würden wir Ihnen versprechen. Sie können uns jederzeit in der Schweiz besuchen kommen. Und über den Preis möchten wir gar nicht diskutieren. Sicher, es ist ein stolzer Preis, aber dieses Pferd ist es wert. Also? Wie siehtʼs aus?«

Anstatt freudig »Hurra« zu rufen, brach ich wieder einmal in Tränen aus. Obwohl es mich nervte, dass ich ständig und überall heulte, konnte ich es nicht einfach unterdrücken. Der Baron und seine Frau schauten mich nachdenklich an. Die Frau Baronin war es, die das Schweigen unterbrach. Sie fasste meinen Arm, schaute mir ins Gesicht und fragte: »Liebe Frau Birkhoff. WARUM wollen Sie überhaupt dieses wundervolle Pferd verkaufen?«

Ich erzählte von den Schwierigkeiten zwischen Felix und mir. Von den Turnieren. Vom Sport. Von meiner Einsamkeit. Von dem Geld, das ich nicht hatte, um mir ein gutes Sportpferd zu kaufen. Von meiner innerlichen Zerrissenheit. Von Hinrichs. Von der klassischen Reiterei. Von allem.

Es waren so nette Leute. Wir fuhren zum Flughafen, und die beiden verabschiedeten sich herzlichst von mir.

»Denken Sie nach, Frau Birkhoff. Und wenn Sie Capriola verkaufen möchten, dann rufen Sie uns bitte sofort an. Wir bezahlen unverzüglich und lassen das Pferd dann von einer Spedition abholen. Melden Sie sich, ja?«

Ich nickte stumm. Schon wieder diese Tränen.

Spät am Abend erzählte ich Felix von den Leuten.

»Boaaaaah«, sagte Felix. »Das ist ja ein Hammer! So viel Geld wollen die bezahlen? Wenn ich du wäre, würde ich den Gaul gar nicht mehr reiten! Stell dir vor, dem passiert noch irgendetwas? Oh Gott! An den darf nichts drankommen! Da steht jetzt ein Vermögen in der Box.«

Für Felix war der Fall bereits erledigt. Die Frage, OB ich Capriola überhaupt verkaufen wollte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Für mich stand nicht erst seit heute »ein Vermögen« in der Box. Für mich war dieses Tier schon immer wertvoll gewesen, und natürlich würde ich Capriola auch jetzt täglich weiter reiten.

Mein Schwiegervater blies am nächsten Tag ins gleiche Horn. »Mensch, Mädchen! Jetzt hör auf zu heulen! Denk mal an das viele Geld. Da kannst du dir ein neues Pferd kaufen und legst den Rest auf die hohe Kante. Da muss man doch nicht heulen.«

Machte drei Leute dafür und zwei dagegen. Da haben wir wohl verloren, Gerdchen, dachte ich innerlich.

Mein Umfeld machte mich so verrückt, dass ich schon selbst Angst bekam, Capriola könne sich noch im letzten Moment das Bein brechen. Ich schrieb dem Baron und seiner Frau einen Brief. Ich wollte nicht anrufen. Ich wollte die Zeit des Postweges für mich nutzen.

»Ja«, so war der Tenor, »ja«, ich würde ihnen das Pferd verkaufen, aber nur, weil ich wusste, dass er in beste Hände kam.

Ich hatte erwartet, dass sowohl Felix als auch mein Schwiegervater nun ein neues Pferd für mich suchen würden. Sie wussten, dass ich bald über ein hübsches Sümmchen Geld verfügte und dass es getrost ein Pferd der besseren Sorte sein konnte. Das Geld dafür hatte ich ja nun bald. Ich dachte, wenn ich als eine Birkhoff im Turniersport Fuß fassen wollte, würde die Unterstützung seitens der beiden Männer groß sein. Sie hatten Erfahrung in diesem Metier, die ich nicht hatte. Und ich hatte auch gedacht, dass es im Interesse meines Schwiegervaters als Turnierrichter und meines Mannes als etablierter Sportler war, dass ich bestens ausgerüstet den Start in die neue Materie wagte. Es sollte ein hübsches Pferd sein, ein vermögendes Pferd, ein besonderes Pferd. Ich hieß Birkhoff und nicht Lieschen Müller. Wenn der Name Birkhoff über die Lautsprecheranlage ertönen würde, dann würden so einige Leute interessiert und gespannt darauf warten, was das neue Mitglied der Birkhoff-Familie auf dem Dressurviereck präsentierte. Ich wollte im nachtblauen Jackett mit Goldbiese starten. Das fand ich hochelegant.

Ich wartete und wartete. Ein Mädchen aus dem Stall suchte derzeit auch ein Pferd. Meine Schwiegereltern fuhren mit den Eltern des Mädchens und der Siebzehnjährigen ständig durch die Weltgeschichte, um sich Pferde anzuschauen. Mein Schwiegervater wurde es nicht leid, in den Fachzeitschriften nach den passenden Annoncen zu suchen. Überall in den Zeitschriften waren Kreuzchen. Nicht ein einziges Kreuzchen war für mich. Für mich fuhr man nicht »über Land«. Für mich suchte niemand.

Am Tag, als Capriola abgeholt wurde, brach eine Welt für mich zusammen. Capriola machte ein Riesenspektakel und wollte partout nicht in den Pferdeanhänger einsteigen. Er stieg und benahm sich völlig daneben. Ständig wieherte er und riss am Strick. Ich wusste, dass mein Kumpel genau spürte, was wir mit ihm vorhatten. Meine Gedanken wurden von Felix und seinem Vater als völliger Blödsinn abgetan. Ich wusste es besser. Die leere Box war ein unerträglicher Anblick für mich. Wieder entbrannte zwischen Felix und mir ein heftiger Streit. Ich machte ihm wieder Vorwürfe. In meinen Augen hatte er mich wieder einmal im Stich gelassen. Ich empfand ihn als Egozentriker und schrie ihn an, dass der Preis, den ich für Gemeinsamkeit zu zahlen bereit gewesen war, ein viel zu hoher Preis war. Ich schrie ihn mit meiner ganzen Verzweiflung und Ohnmacht an.

»Würdest DU dein Pferd verkaufen, nur um mit mir gemeinsam das Hobby zu teilen? Würdest du das?«

Ich schimpfte und fluchte und ärgerte mich mehr über mich selbst denn über meinen Mann. An meinem Schwiegervater ließ ich kein gutes Haar.

»Das ist doch unmööööglich! Ständig fährt er mit den anderen Leuten durch die Gegend, anstatt sich um mich zu kümmern. Euch ist es doch egal, ob ich reite! Euch beiden ist es doch scheißegal, oder?«

In meiner Wut wurde mir plötzlich etwas klar. Weder Felix noch sein Vater äußerten je den Wunsch, dass ich in »ihr Genre« wechseln sollte. Meinem Mann war es genug der Gemeinsamkeiten, wenn ich ihn begleitete, und tatsächlich war es nicht SEIN Wunsch gewesen, dass ich Capriola verkaufte, nur um selbst auch Turniere zu reiten. Jetzt erkannte ich diese Fußangel in meiner Argumentation. Es war MEIN Wunsch gewesen. Es war MEIN Wille. Aber ICH fühlte mich nicht gut als ewiger Turniertrottel, und ICH war täglich allein mit Capriola zugange. ICH wollte eine Birkhoff sein. Mein Mann war so geboren.

Den größten Fehler aber beging Felix, als er mir in dieser Situation auch noch mein Selbstvertrauen und so meine Träume raubte.

»Verdammt noch mal! Ich möchte ein richtig gutes Pferd haben! Ich möchte, dass du stolz auf mich bist, wenn ich ins Viereck reite. Ich möchte zeigen, was ich kann. Ich will nicht in der Anfängerklasse herumhampeln!« Ich tobte.

Felix schwieg. Wie immer, wenn ich in Fahrt war.

»Jetzt mach doch mal den Mund auf, und sag endlich was dazu!«, herrschte ich ihn an.

Das waren die Momente, die Felix hasste wie die Pest. Die Momente, in denen ich ihn verbal in die Ecke trieb und er mit dem Rücken an der Wand stand.

»Ich meine einfach ...« Felix räusperte sich.

Das tut er immer, wenn er etwas sagen möchte, von dem er weiß, dass es mir nicht schmeckt.

»Ich meine, dass du vielleicht nach einem Pferd wie zum Beispiel Einstein suchen solltest. Dann kannst du ... «

Felix konnte seinen Satz nicht mehr zu Ende sprechen. »Einstein?« Ich war fassungslos. »Du meinst wirklich Einstein von Leonie?«

Felix nickte.

Noch so ein fataler Fehler.

Ich lachte laut auf. »Ich fasse es nicht! Eiiiinsteiiiin! Eine solche Gurke? Ich glaubʼs einfach nicht!«

Der Streit war für mich beendet. Ich war fertig mit diesem Mann. Absolut fertig!

Der Vorschlag meines Mannes, mir ein Pferd wie Einstein zu kaufen, war ungefähr so, als würden Sie einem begeisterten Porsche-Fahrer den Vorschlag unterbreiten, es doch mal mit einem Lada zu versuchen! Einstein war ein braves, sehr geduldiges Kinderreitpferd. Ein Pferd, auf das man sich verlassen konnte zwar, aber ungefähr so aufregend zu reiten wie ein uraltes Pony.

Am Wochenende fuhr ich allein zu einer Bekannten nach Norddeutschland. Ellen Graepel ist DIE Fachfrau schlechthin für spanische Pferde. Ihr Stall war voll mit Verkaufs- und Ausbildungspferden, und als ich am Ende des Tages nach Hause fuhr, hatte ich »Orgulloso«, zu deutsch »Angeber« gekauft.

Ein spanisches Pferd ist nur selten für den Sport geeignet: Orgulloso war überhaupt kein Sportpferd. Er war ein Barockpferd, so wie Capriola es war. Ich hatte dem Turniersport den Rücken gekehrt. Dort hatte ich nichts zu suchen. Die Enttäuschung saß tief. Irgendwann kapituliert man und nimmt zwangsläufig die Position ein, die man zugewiesen bekommt. In einer anderen Position wurde ich ja ganz offensichtlich nicht geduldet.

Orgulloso war ein hübscher, sehr kleiner, aber temperamentvoller Hengst. Ein stolzes Pferd. Und ein mutiges Pferd, wie ich später noch feststellte. Er hatte Glanz und Ausstrahlung und ein Leuchten in den Augen. Meine Familie nahm diesen Kauf befremdet, aber kommentarlos zur Kenntnis. Wie immer also.

 

Als Britta, Karin und ich eines Morgens vom Laufen zurückkehrten, wechselten wir uns unter der Dusche ab. Ich kam als Letzte aus dem Bad, trocknete mich im Zimmer ab und cremte mich ein. Karin und Britta starrten mich wie das siebte Weltwunder an.

»Was glotzt ihr mich denn so blöde an?«, witzelte ich.

»Sag mal, Christine. Wir teilen nun seit zweieinhalb Jahren das Zimmer ... ist dir noch nicht aufgefallen, dass du in letzter Zeit unglaublich große Brüste bekommen hast?«, fragte Karin.

Beide Frauen starrten auf meine Oberweite.

»Ich fahre zur Apotheke!«, trällerte Britta. »Du bist bestimmt schwanger.«

Und fort war sie.

Entgeistert starrte ich Karin an.

»Wann hattest du denn das letzte Mal deine Tage?«, fragte sie jetzt.

Wir rechneten nach. Seit unserer Hochzeit war nichts mehr passiert. Ich staunte nicht schlecht. Durch die Prüfungen hatte ich einfach nicht mehr darauf geachtet. Ich dachte an die Antibiotika. Dachte daran, dass wir ganz gut gebechert hatten in den letzten Wochen und dass ich mächtig viel geraucht hatte.

Britta und Karin rissen mir das Teststäbchen noch im Bad aus der Hand und rannten aufgeregt durch das Zimmer.

Halb angezogen saß ich auf der Bettkante und wartete ab. »Was denn nun?«

»Ist noch nicht so weit.« Die beiden grinsten. »Könnte ja sein, dass sich die Farbe noch ändert. Man soll zehn Minuten warten, steht hier auf der Packung.« Beide kicherten.

Mir langte es. »Jetzt macht doch nicht so ein Theater!«, herrschte ich die beiden an.

»Okay ... Alles klar bei dir?« Britta genoss es sichtlich, mich hinzuhalten.

»Mach schon«, knurrte ich ungehalten.

»Du bist schwanger.« Britta und Karin lachten und strahlten mich an. Beide umarmten mich. Sie tanzten vor Freude durch den Raum und waren nicht mehr zu bremsen. Ich saß auf dem Bett und starrte auf das Teststäbchen. Ich? Schwanger? Das war der Hammer! Das war wunderbar und genau zum richtigen Zeitpunkt.

»Felix wird sich nicht freuen, da bin ich mir sicher.« Ich ließ plötzlich die Schultern hängen.

»So ein Blödsinn!« Karin wetterte dagegen. »Natürlich wird er sich freuen! Was will er denn? Ihr seid verheiratet, du bist mit der Ausbildung fertig, wo also gibtʼs da ein Problem? Mach dir keine Sorgen! Er wird sich ganz bestimmt freuen.«

»Ja, klar freue ich mich.« Felix sagte es zwar am Telefon, aber so richtig hören konnte ich es nicht. »Ich bin bloß überrascht.« Ja, das war ich auch. Meine Gedanken schweiften ab ins Praktische. In unserer Wohnung war für ein Kind kein Platz. Wir hatten Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad. Kinderzimmer? Fehlanzeige. Nun gut. Das ließe sich ändern. Solche Erkenntnisse stellten für mich wahrlich kein Problem dar.

 

Ein turbulentes Jahr nahm seinen Lauf, und die Monate verflogen. Ich war zwar schwanger, aber da dieser Umstand nicht groß gefeiert wurde, machte ich weiter wie bisher.

Felix und ich hatten beschlossen, die kirchliche Trauung Ende Mai nachzuholen. Diesbezüglich herrschte endlich einmal Einigkeit bei uns. Selbst die Diskussion hinsichtlich unserer Hochzeitsreise verlief relativ harmonisch. Ich hatte Dubai vorgeschlagen, weil die Emirate medizinisch bestens ausgerüstet waren und wir dort eine Schönwettergarantie hatten. Außerdem kannte ich die Emirate aus meiner Lufthansa-Zeit und wollte unbedingt wieder im Jebel-Ali, einem Hotel zwischen Abu Dhabi und Dubai, unterkommen. Wir buchten die Reise, und direkt nach der Hochzeit sollte es losgehen. Meine Schwiegereltern organisierten den größten Teil der Feierlichkeit. Ich suchte das Menü mit aus, kümmerte mich um die Einladungskarten und ging mit Silke mein Brautkleid kaufen. Es war ein wundervolles champagnerfarbenes Kleid aus Satin, in der Taille schmal geschnitten und am Dekolleté zur Korsage gearbeitet. Schulterfrei und mit meinen großen Brüsten prall gefüllt sah das Kleid wirklich hinreißend aus.

Als modisches i-Tüpfelchen hatte ich mir einen riesigen Hut ausgesucht und lange champagnerfarbene Seidenhandschuhe. Ich war mir nicht sicher, ob Felix dieser Stil zusagen würde, glaubte aber fest daran. Außerdem gefiel ich mir mit Hut richtig gut.

Eines Tages, ich war im dritten Monat schwanger, schleppte ich vier volle Einkaufstüten, zwei an jeder Hand, zum Auto. Plötzlich knickten mir die Beine weg. Es war ein beängstigendes Gefühl. Ein Gefühl, als hätte mir jemand von jetzt auf gleich die Beine weggetreten. Äpfel und Joghurtbecher kullerten auf die Straße, und ich war unfähig, aufzustehen. Passanten halfen mir wieder auf die Beine, trugen meine Einkaufstüten zum Auto und stützten mich bei meinen unglücklich aussehenden Gehversuchen. Es war wie verhext. Meine Beine gehorchten einfach nicht mehr.

Ich schaffte es später aber irgendwie, allein nach Hause zu fahren. Die Tüten blieben im Auto, und ich kroch auf allen vieren in die Wohnung.

Ich rief Felix an.

»Und nun?«, fragte er unbeholfen.

»Das frag ich dich! Du bist ja lustig!«

Ich beendete das Gespräch und analysierte meine Situation. Die war ungünstig, keine Frage. Weder schaffte ich den Weg allein zur Toilette, noch hätte ich mir ein Brot schmieren können. Wer weiß, wie lange dieser Zustand andauern würde? Was war überhaupt los mit mir? Es musste aus dem Lendenwirbelbereich kommen, das spürte ich deutlich. Felix würde sich weder für mich krankmelden noch Urlaub nehmen. Das Spielchen kannte ich zur Genüge. Ein rühriger Pfleger war er noch nie gewesen. Höchstens ein rühriger Besucher. Und jetzt DAS hier. Mir fiel eine bekannte Klinik im Ruhrstädter Umfeld ein. Ich schilderte am Telefon meinen Zustand und meine häusliche Situation.

Dem Arzt am anderen Ende der Leitung war klar, dass ich keinesfalls allein zu Hause bleiben konnte.

»Ich sage auf der Station Bescheid. Sobald Sie können, lassen Sie sich bitte zu uns bringen. Wir sehen uns dann später.«

Erleichtert legte ich auf. Ich rief meine Schwiegermutter an. Seit der Hochzeit nannte ich sie »Mutti«. Sie hörte das gern, und mir kam dieses Wort leicht über die Lippen. Meine Mutter hatte ich meist »Mama« genannt. Im Leben nicht hätte ich Felixʼ Mutter so angesprochen! Und beim Vornamen nennen? Fanden wir beide blöd. Es gibt so viele Leute, die einen beim Vornamen rufen, das stellte nichts Besonderes dar. »Mutti« war und ist bis heute ausschließlich meine Schwiegermutter. Bei meinem Schwiegervater war das anders. Er beharrte auf »Papa«, und das fiel mir nicht leicht. Ich verleihe dem Wort Papa seither eine besondere Betonung. Ich sage »Pabbaaa«. Mit dieser Betonung bin ich weit weg von meinem leiblichen Vater und meinen Schwiegerpabbaaa scheintʼs nicht zu stören.

»Mutti!«, jammerte ich in den Hörer. »Stell dir vor, was mir passiert ist ... «

Wenig später war sie schon bei mir. Die gute Seele unserer Haushalte. Sie packte gekonnt und flink meine Tasche, so als ob sie ihre eigenen Klamotten einräumen würde. Ich liebe diesen Charakterzug sehr an ihr. Da sind wir wie eineiige Zwillinge. Sie fackelt nicht lange herum, begreift schnell und packt beherzt zu. Genial. Mutti schleppte mich zum Auto. Mutti verschloss sorgsam die Türen. Mutti fuhr mich in die Klinik, redete mit dem Arzt und gab mir zum Abschied ein Küsschen.

»Der Papa kümmert sich um dein Pferd. Mach dir um Orgulloso keine Sorgen. Sieh du zu, dass du schnell wieder auf die Füße kommst.«

Die Ärzte erläuterten mir, dass ich schon seit Jahren Bandscheibenvorfälle haben musste. Durch die ausgeprägte Muskulatur war dies aber nie zum Vorschein gekommen. Ich befand mich in einer Phase der Schwangerschaft, in der der Körper ein bestimmtes Hormon ausschüttet, das dafür Sorge trägt, dass die Muskulatur weich wird. Das Becken würde sich dehnen müssen, und eine straffe Muskulatur war alles andere als praktisch für die spätere Entbindung. Durch die plötzlich erschlaffende Muskulatur hatten die Bandscheiben den Halt verloren und waren nach vorn gekippt. In zwei bis drei Wochen, so prognostizierte der Arzt, würde sich der Körper umgestellt haben, und dann könne ich sicherlich auch wieder laufen.

Als Therapie konnten nur sanfte Massagen und lauwarme Fangopackungen eingesetzt werden. Ich war schwanger, und somit waren Medikamente und Spritzen tabu. Es brauchte einfach seine Zeit, die ich in der Klinik abwarten musste. Felix besuchte mich regelmäßig. Ich schlief viel und übte auf wackeligen Beinen in den Krankenhausfluren das Laufen. In der dritten Woche erreichte ich mit Mühe den Klinikgarten. Da sah ich sie: Menschen, die durch einen Unfall beide Beine verloren hatten. Menschen, die durch ein tragisches Geschehen von heute auf morgen an den Rollstuhl gefesselt worden waren. Menschen, die durch Krankheiten oder schlimmste Behinderungen kein normales Leben mehr führen konnten. Ich war erschüttert. Mein Fall war nicht der Rede wert dagegen.

Am gleichen Tag rief ich Felix an. »Es geht wieder so einigermaßen mit dem Laufen. Holt mich bitte, sobald ihr könnt, ab, ja?« Hier wollte ich nicht bleiben. Es gab Menschen, die mein Bett nötiger hatten.

Mutti holte mich am nächsten Morgen ab. Ich war heilfroh, wieder in meinen vier Wänden zu sein.

Der Mai verflog durch die Hochzeitsvorbereitungen.

Meine psychische Stabilität nahm mit zunehmender Schwangerschaft ab. Ich war ohnehin schon reichlich lädiert in die Schwangerschaft gegangen, und so war es kein Wunder, dass das Loch in meiner Seele immer größer wurde. Orgulloso wurde krank, und meine finanziellen Reserven waren bald verbraucht. Ich ritt Orgulloso nach seiner Genesung bis zum neunten Monat und flüchtete mit ihm in die Natur. Auf dem Hof hielt ich es nicht gut aus. Zwar geschah dies zum Entsetzen meiner Schwiegereltern, aber was das Reiten anbelangte, war ich immer noch sturer als sie. In den Wäldern hörte und sah ich nichts von ihnen, nichts vom Hof. Das Tier dankte es mir und trug mich sicher über jede Autobahnbrücke.

Meine Nerven waren während der Schwangerschaft alles andere als stark. Am Abend vor unserer Hochzeitsfeier hatte Felix mit seinen Freunden in unserer Wohnung ein Zechgelage. Ich war nicht zu Hause, denn meine alte Reitlehrerin aus Frankfurter Zeiten erlitt auf dem Hof meiner Schwiegereltern einen Schlaganfall, und so verbrachte ich die halbe Nacht im Krankenhaus. Erschöpft und traurig kam ich nach Hause zurück. Die Küche glich einem Saustall.

Felix lallte: »Unnnn? Was sshattssse nu die Aldeeee?« Die Männer prusteten vor Lachen.

Reste von Bratkartoffeln und Spiegelei lagen auf dem Boden, Fettspritzer zierten meinen Herd, die Anrichte und den Küchentisch. Ketchup war auf fettigen Tellern und zum Teil daneben gelandet, leere Bierflaschen bedeckten den Tisch, und niemand von der Herrengesellschaft zeigte auch nur die geringste Lust, den heimeligen Ort dieses Zechgelages zu verlassen.

Binnen drei Komma sieben Sekunden war ich auf hundertachtzig.

»Sofort raus hier!«, zischte ich. Mein bitterböses Gesicht sorgte dafür, dass die Männer schleunigst das Weite suchten. Ich tobte los.

Felix nuschelte etwas wie »Schgeh jetsss insss beddd« und wankte in Richtung Schlafzimmertür.

Wie eine Furie baute ich mich vor ihm auf. »Du hilfst mir gefälligst!«, schrie ich ihn an. Aber es war sowieso zwecklos. Der Kerl war viel zu voll, als dass er auch nur einen Handschlag hätte erledigen können. Also ließ ich meiner Wut freien Lauf und keifte vor mich hin. Ein mächtiger Tritt vor die Spülmaschine ruinierte die untere Tellerablage, aber der Tritt hatte richtig gut getan. Danach klingelte es an unserer Haustür. Der trinkfreudige Sohn des Vermieters schnauzte mich an, dass jetzt mal langsam Ruhe einkehren müsse, er würde sonst die Polizei rufen.

Ich motzte zurück: »Jawoll! Und wenn Sie das nächste Mal Ihre Frau verprügeln, dann rufen wir die Kollegen auch an, einverstanden?«

Kommentarlos ergriff der Kerl die Flucht.

Nie wieder würde er bei mir anklingeln und um Ruhe bitten. Dessen konnte ich mir nun sicher sein.

In meiner Wut beschloss ich, am nächsten Tag nicht zu heiraten. Ich stellte mir belustigt vor, wie Felix mit seinem Freund am Altar stand, die Kirche übervoll, und keine Braut weit und breit. Verlegenes Gestammel. Ein Raunen in der Gästeschar. Felix voller Scham zu Boden blickend. Dieser Gedanke besänftigte mich, und ich fiel um halb fünf Uhr morgens, elf Stunden vor meiner kirchlichen Trauung müde ins Bett. Als ich gegen zehn Uhr aufwachte, war Felix bereits weg. Er musste seinen Eltern helfen: Dixie-Toiletten wurden angeliefert, die Halle wurde geschmückt und so weiter. Kurz nach Mittag stand Silke parat. Sie half mir beim Ankleiden, und die Nervosität machte sich allmählich breit. Vergessen war der nächtliche Streit. Die Vorfreude eroberte mein Herz.

Mein Schwiegervater ist der liebenswerteste Mensch, wenn er seine Gefühle nicht mehr verbergen kann. Als er in unserer Wohnung nervös auf und ab rannte, standen ihm Freude und Stolz deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Mach hinne!«, trieb er mich an. »Die warten alle schon. In der Kirche ist die Hölle los.«

Ich fühlte mich geliebt und wohlbehütet. In Ermangelung eines eigenen würdigen Vaters würde mich mein Schwiegerpapa zum Altar führen. In diesem Augenblick spürte ich es ganz deutlich: Ich gehörte zu DIESER Familie. Ich war eine Birkhoff, eine von ihnen.

Mein Schwiegervater sah umwerfend aus. Ein schöner Mann. Ein großer Mann. So wie mein Felix. Mutti hatte ein gekonntes Händchen für seine Garderobe. Meine Schwiegereltern gaben sich die allergrößte Mühe mit unserer Hochzeit. Und ich dankte es ihnen.

Die Kirche platzte aus allen Nähten. Mein Herz schlug hoch. Felixʼ Vater hatte seinen Arm fest um meinen gelegt. Das strahlte Sicherheit aus. Das tat gut. In der Masse der Menschen entdeckte ich die Gesichter meiner Freunde. Sie waren alle gekommen. Aus Frankfurt, aus Hannover, aus dem Harz, aus Aachen, aus Viersen, aus Essen, aus Düsseldorf, aus München, aus Papenburg ... Sie waren wirklich ALLE da, und alle strahlten mich an. Alle freuten sich mit mir. Alle waren mit mir aufgeregt. Alle feierten diesen Tag mit mir. Oma lag im Sarg. Mama, Papa und Jürgen gab es nicht mehr. Für mich waren sie gestorben. Da war er wieder. Der feste Griff meines Schwiegerpapas, dem zeitgleich mit mir die Tränen in die Augen schossen und der zeitgleich mit mir um Fassung rang. Ich war hier und heute. Wild entschlossen, diesen Tag zu genießen. Würdevoll schritten wir zum Hochzeitsmarsch in Richtung Altar. Hier und da winkten Freunde.

»Tolles Kleid!«, hörte ich. »Guck mal der Hut!« und »Hinreißend«.

Dann sah ich Felix. Meinen Felix. Diesen großen Jungen. Diesen stattlichen Mann. Dieser gütige Blick aus feuchten Augen! Oma hatte mich oft so angeschaut. Felix lachte mich an. Wir blickten uns tief in die Augen. Gerührt. Bewegt. Verliebt. Mit demselben Blick verziehen wir uns gegenseitig den Streit der Nacht. Wir schmunzelten mit den Augen. Verstanden uns wortlos.

»Supergut, dein Kleid«, tuschelte Felix mir ins Ohr.

Ich liebe es, wenn Felix mir etwas ins Ohr flüstert. Es hat so etwas Verschwörerisches, und es erinnert mich an jenen Abend, als er mir das erste Mal »seinen Traum« ins Ohr flüsterte. Es ist schön, wenn man sich gegenseitig Träume ins Ohr flüstert. Es verbindet. Es schweißt zusammen. Als Kind warf ich immer die Hände schützend vors Gesicht. »Und der Hut? Und die Handschuhe?«, flüsterte ich zurück.

»Steht dir richtig gut. Hat was!«

Mein Schwiegervater übergab mich seinem Sohn. Ein freundschaftliches, kurzes Schulterklopfen sagte viel aus. Felix nahm meinen Arm, und sein Griff war ebenfalls fest und bestimmt.

Es war eine schöne Zeremonie. Schön, lustig, bewegend, rührend. Von allem etwas.

Als wir nach der Trauung aus der Kirche kamen, traf mich fast der Schlag. Der Kirchplatz war schwarz von Menschen, und herausgeputzte Pferde mit schmuck zurechtgemachten Reitern standen in Reih und Glied. Es war ein überwältigend schöner Anblick. Eine geschlagene Stunde standen Felix und ich nebeneinander, schüttelten unzählige Hände und nahmen ebenso unzählige Glückwünsche entgegen. Zu Fuß gingen wir zum Hof. Felix und ich vorneweg und hinter uns die Pferde. Ein sehenswertes Brautpaar waren wir. Auffällig schön und auffällig glücklich! Als wir die Straße überquerten, mussten die Autos anhalten und lange warten. Der Hochzeitszug nahm kein Ende. Fremde Menschen hupten und winkten uns aus ihren Autos fröhlich zu. Niemand hatte es eilig. Alle genossen diesen Augenblick bei herrlichstem Sonnenschein.

Unsere kirchliche Hochzeit gehört bis heute zu den schönsten gemeinsamen Momenten in unserem Leben ... Zum Glück folgten noch weitere solch prägender Erinnerungen. Unsere Hochzeitsreise zum Beispiel. Felix ist im Urlaub immer agil, neugierig und umtriebig. Tagelang auf einer Hotelliege abzuhängen, liegt ihm nicht. Wir marschierten selbst bei brütender Hitze Hand in Hand durch die Straßen von Abu Dhabi. Wir lachten und alberten, und Felix hatte den Schalk im Nacken sitzen. Er hatte ständig spontan irgendwelche abenteuerlichen Ideen im Kopf, und seine jungenhaft witzige Art wurde mir zum ersten Mal in diesem Urlaub so richtig bewusst. Die Emiraties waren herzliche und sehr, sehr gastfreundliche Menschen. Anerkennung und Bewunderung äußerten sie genauso unverhohlen wie Freude und Hass. In dieser Region lagen zweifelsfrei meine genetischen Wurzeln. Felix liebte dieses Land. Kein Wunder. Er liebte ja auch mich.

In den zahlreichen Restaurants der Stadt futterten Felix und ich uns kreuz und quer durch die Speisekarten. Waren die Speisekarten ausschließlich in arabischer Schrift gehalten, dann tippten wir auf gut Glück auf irgendwelche Gerichte und ließen uns einfach überraschen. Kichererbsenmus, eingelegte Auberginen und Tomaten, Wassermelonen und Hühnchen, Fisch und Frittiertes, Felix ließ nichts unversucht! Es war eine Freude, ihn beim Essen zu beobachten. Wenn ich meinen Vater dabei beobachtete, wie er das Kebab zubereitete, dann ging es mir gut.

Dubai war ein Traumurlaub. Felix und ich kamen sichtlich erholt und äußerst harmonisch nach zehn Tagen zurück, und der Alltag hatte uns wieder.

Mein Bauch wurde in den nächsten Wochen zusehends größer. Wir suchten nach passenden Namen. Ich wollte unsere Tochter »Nelly« nennen, stieß aber auf heftigsten Protest meiner Schwiegermutter. Nelly, so hieß ihre eigene Schwiegermutter, und die hatte sie sehr lieb gehabt. Sie duldete keine »andere Nelly« in der Familie.

Felix meinte nur, dass man vielleicht eine Kuh Nelly nennen könnte, aber ganz sicher nicht unsere Tochter.

Ich suchte mir den Namen »Mia« aus und verteidigte diese Wahl bis zur Geburt. Auf dem Weg zum Standesamt, als Felix unsere Tochter ins Familienstammbuch eintragen ließ, fiel ihm dann ihr zweiter Name ein. »Luisa«. So heißt unsere Tochter heute Mia Luisa Birkhoff.

Kurz vor der Geburt tobte ein nächster großer Streit. Felix machte sich nicht die geringste Mühe, eine neue Wohnung zu suchen. Meine Vorschläge, diese oder jene Wohnung anzuschauen, wiegelte er gekonnt ab. Er wollte etwas Eigenes, die eigenen vier Wände. Dieser Wunsch war völlig in Ordnung, aber mit dem Schneckentempo, das Felix an den Tag legte, würden wir in zwei Jahren noch hier wohnen. Das feuchte Schlafzimmer stellte ein äußerst gesundheitsschädliches Wohnklima dar. Der Schimmel machte sich an den Wänden bemerkbar. In diesen Raum könnten wir auf gar keinen Fall das Kinderbettchen stellen. Blieb nur noch das Wohnzimmer. Doch ich empfand es als reinste Zumutung, Mias Bettchen ins Wohnzimmer zu stellen. Zwischen PC, Schreibtisch, Fernseher, Stereoanlage und Couch? Ich war völlig außer mir und führte die Diskussion lautstark und emotional aufgebracht. »Das ist eine Zumutung, was du hier von mir verlangst. Jeder noch so dämliche Kerl entwickelt einen Nestbau-Trieb, und du? Was machst du? Ist dir das denn alles egal? Warum tust du das? Warum tust du MIR das an?«

Ich rüttelte an der Tür. Sie war abgeschlossen. Meine Verzweiflung wuchs. Draußen war es stockfinster. Ich hasste den Weg. Der Hausflur war immer kalt. Immer dunkel. Immer muffig. Und die Toilette erst mal. Die Toilettenbrille war immer so schrecklich kalt, dass ich meine Händchen unter meine dünnen Schenkelchen legte, um die Kälte abzufangen. Jetzt hätte ich wer weiß was darum gegeben, die Toilette zu erreichen. Das Aa drückte entsetzlich. Es würde schiefgehen. Wo bloß sollte ich hinmachen? Mama und Papa würden schimpfen. Sie würden mich wieder schlagen. Alles war falsch. Alles, was ich machte, war falsch. Es ging nicht mehr. Das Aa quoll fast aus meinem Po. Ich stieg in die Dusche neben meinem Bett. Die Duschwanne war auch kalt. Das Aa stank wieder. Mein Aa stank immer. Das ganze Zimmer stank danach. Aber jetzt war das Aa draußen. Dunkles Aa auf glänzendem Weiß. Jetzt war es endlich vorbei. Kein Klopapier. Egal. Mein Bett war da. Mein Bett neben der Dusche. Neben dem Aa. Neben dem Gestank. Mein Bett im Badezimmer ...

Felix fühlte sich schuldig. Irgendwie verstand er, dass die Wohnverhältnisse auf Dauer nicht tauglich waren. Und er verstand auch, dass ich für Mia ein Zimmer einrichten wollte. Ich saß mittlerweile tränenüberströmt und heftig schluchzend auf dem Sofa. Felix wollte mich umarmen, wollte trösten, wollte wiedergutmachen. Ich reagierte aggressiv. Schlug seine Hand weg. »Fass mich nicht an!«, schrie ich hysterisch. »Ich hasse dich. Ich hasse dich dafür. Warum kann ich nicht einfach Mias Zimmer einrichten? Warum kümmerst du dich nicht um mich? Warum lässt du mich hängen? Warum?« Meine Stimme überschlug sich. Der Schmerz kam wieder. Er rollte wieder unaufhaltsam nach oben. Dieser unglaubliche Seelenschmerz war nicht mehr zu ertragen. Ich schrie die Tränen aus meinen Augen heraus. Ich heulte und heulte und heulte. Felix war perplex. Felix war erschüttert. Er wusste nicht mehr, was er sagen und was er tun sollte. Ich ließ ihn nicht mehr an mich heran.

»Christine. Bitte. So hör doch auf zu weinen. Bitte. Du sollst dein Kinderzimmer haben!«

»MEIN Kinderzimmer? MEIN Kinderzimmer?« Mein Blick wurde irre. Ich tobte wie eine Besessene. Hatte mich selbst nicht mehr im Griff. »Es ist das Zimmer unserer Tochter. IHR Zimmer, verstehst du das nicht? Was bist du für ein Vater?«

Irgendwann war auch dieser Streit zu Ende. Ich war erschöpft und verschwitzt auf dem Sofa eingeschlafen. Die Leere in meiner Seele nahm weiter zu. Ich versank in Depressionen. Ich hörte auf zu lachen. Ich hörte auf zu fühlen.

Das änderte sich schlagartig mit Mias Geburt.

Die Geburt musste eingeleitet werden. Mia wuchs nicht mehr so richtig, und die Ärzte hatten Sorge, dass die Plazenta durch meine Raucherei Schaden genommen hatte. Ich selbst machte mir schlimmste Vorwürfe. Felix machte mir nie Vorwürfe. Das bemerkte ich aber gar nicht. Die positiven Eigenschaften meines Mannes verschwanden in meinem Erleben unmerklich. Ich war froh, dass Mia jetzt zur Welt kommen sollte. Die Wehen waren unerträglich. Ich akzeptierte diese Schmerzen nicht und hielt die leichtesten Wehen nicht aus. Als die PDA gesetzt war, fühlte ich mich schlagartig besser. »Eine Pizza wäre nicht schlecht«, ulkte ich.

Felix lachte wieder. Die Frau, die da jetzt entspannt im Bett lag, gefiel ihm offensichtlich besser. Ließ ihn aufatmen. Ließ ihn Luft holen. Felix hat mich immer dankbar angenommen, wenn ich wieder »die andere Frau« war. Das sah ich damals nicht. Seine Güte kannte keine Grenzen. Auch das sah ich nicht. Seine Bereitschaft, Tobsuchtsanfälle, Unsachlichkeiten und psychische Verschrobenheiten zu verzeihen, kannte auch keine Grenzen. Und auch das sah ich nicht. Ich war in mir gefangen. Ich war eine Gefangene im eigenen Körper. Eine Gefangene der ständigen Erinnerungen. Eine Gefangene im eigenen Verlies.

Das Mädchen kauerte seit dem dreißigsten Geburtstag von Christine Al-Farziz in einer Ecke des Verlieses. Die Wärter waren tot. Der Drache war tot. Aufgeschlossen hatte niemand. Das Mädchen lebte weiter. Sie verhungerte nicht. Sie verdurstete nicht. Sie wartete. Sie wartete. Sie wartete.

Die Geburt verlief nicht wie erwartet. So entspannt ich auch war, der Muttermund öffnete sich nicht. Bei drei Zentimetern war Schluss, und nichts tat sich. Wenn ich gewusst hätte, was aus dir geworden ist, hätte ich dich gleich nach der Geburt wieder reingeschoben. Die Hebamme war ratlos. Ich war ratlos. Felix war ratlos. Mia kämpfte und kämpfte. Die Wehen schoben sie unaufhaltsam weiter, aber gegen einen verschlossenen Muttermund konnte sie beim besten Willen nichts ausrichten. Irgendwann war Mia am Ende ihrer Kräfte. Ihr kleines Herz machte nicht mehr mit. Schaffte es nicht. Schlug zu schnell. Schlug zu langsam. Schlug zu schnell. Ich fühlte mich elendig. Noch nicht einmal eine Geburt brachte ich zustande. Es wurde höchste Zeit, dass etwas getan wurde. Felix und ich spürten es und machten uns große Sorgen.

In Jeans und Hauspantoffeln fegte plötzlich der Chefarzt der Station ins Zimmer. »Hallo, Frau Birkhoff.« Er streichelte mir über die Wange.

Oh Gott, tat das gut. Ein prüfender Blick auf Tabellen und Diagramme. Kurz horchte er meinen dicken Bauch ab. »Ihrer Kleinen gehtʼs nicht gut. Wir müssen einen Kaiserschnitt machen. Die PDA liegt super bei Ihnen. Sie werden nichts spüren.«

Ich starrte den Arzt an. Ich starrte Felix an. »Ich soll wach bleiben? Sie wollen mir den Bauch aufschneiden, und ich soll wach bleiben? Da spiele ich nicht mit!« Ich verschränkte resolut die Arme vor meiner Brust.

»Wenn ich Ihnen eine Vollnarkose verpasse, Frau Birkhoff, dann geht diese Narkose voll aufs Kind. Dann schneide ich. Und zwar so schnell wie möglich. Und dann ist es mir völlig egal, ob da Bauchmuskeln im Weg sind oder nicht. Wollen Sie das?«

Ich antwortete nicht. Sah in Felixʼ besorgtes Gesicht. Blass war er. Fürchterlich blass.

»Lassen Sie mich raten, Frau Birkhoff: Sie hatten vor der Schwangerschaft einen straffen Bauch, richtig?«

Ich nickte: »Einen Waschbrettbauch, Herr Doktor.« Kam mir nun meine Eitelkeit zugute?

»Prima. Dann verabschieden Sie sich jetzt mal von Ihrem Waschbrettbauch. Die Bauchmuskeln muss ich durchschneiden. Die Zeit, das alles sorgsam beiseitezulegen, die haben wir nicht bei einer Vollnarkose. Bei der PDA wäre das etwas anderes. Aber bitte, Ihr Wunsch ist mir Befehl.«

»PeeeeDeeeeAaaaa«, zickte ich den Arzt an. »Wenn die so gut liegt, dann bitte schön. Dann eben mit PDA.« Ich schaute ihn an wie ein trotziges Kind.

»Braves Mädchen. Gute Entscheidung.« Wieder tätschelte er mir die Wange. Er war nett. Er sprach meine Sprache. Dieser Doktor war wirklich klasse.

Ich hatte Angst. Wirklich und wahrhaftig Angst. »Felix«, jammerte ich los, »mir wird so kalt und so komisch ... gib mir die Nierenscha... «

Die Hebamme war schneller und schob mir die Nierenschale gerade noch rechtzeitig unter den Kiefer.

»Sie kollabiert. Herr Doktor! Schnell! Sie kollabiert!«

Kurz und präzise erteilte der Arzt seine Anweisungen. Ich verstand nur noch Wortfetzen, bekam aber mit, dass eine Kanüle nach der anderen in das dünne Schlauchende, das auf meiner Schulter festgeklebt war, reingejagt wurde.

Felix war noch blasser als vorher. Er stand am Fußende des Bettes und hielt sich am Bettgestänge fest. Ich hatte den Eindruck, dass man sich um ihn auch kümmern müsste, und wollte gerade etwas sagen, als das Bett in Fahrt geriet. Die Türen im Flur sausten an mir vorbei.

»Soooooo, jetzt verabschieden Sie sich bitte von Ihrer Frau, es geht jetzt los!«

Mein kreidebleicher Felix beugte sich zu mir herunter und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. »Sei tapfer.« Mühsam hielt er die Tränen zurück. Felix war völlig am Ende. So hatte ich ihn noch nie gesehen.

Ich spürte gar nichts. Absolut gar nichts. Tausend Leute schienen in diesem OP-Raum zu sein. Eine heitere und geschäftige Stimmung herrschte. Ständig kam ein neuer grünbemützter Mensch zu mir und nuschelte: »Tach auch. Ich bin der Doktor Soundso!« Durch den Mundschutz konnte ich die Leute nicht auseinanderhalten. Es schienen so viele zu sein, die »Tach auch« sagten. Wie in einem Kasperletheater, wo wieder und wieder der Vorhang aufgeht und stets ein neues Püppchen die Bühne betritt.

Plötzlich ein Rumoren und viel Bewegung in meinem Bauch ... »Och Gott, ist die süß!«, entzückte sich eine männliche Stimme aus dem OP-Team. Ich hörte die Stimme meines Chefarztes: »Die ist ja gar nicht so klein. Klasse. Das haben wir super hinbekommen.«

Dann hörte ich Mia schreien. Ich heulte sofort los. Wollte SOFORT meine Mausi sehen. Ich zappelte voller Ungeduld. Dann endlich. Eine grüne, offensichtlich weibliche OP-Mumie hielt mir Mia direkt vor mein Gesicht. Ich bekam den Ober-Giga-Hammer-Gefühls-Flash. Dieses Gefühl war sensationell. Heiße Liebe rollte wie ein unglaublich großer und niemals enden wollender Lavastrom durch meinen Körper. Mia schaute mir mit ihren Äuglein direkt in meine Augen. Sie traf – KAWUMM – mitten in mein Herz. Ihr Gesichtchen war eine Miniaturausgabe meiner selbst. Mia hatte ein kleines, ganz rundes Köpfchen. Es erinnerte mich an eine Billiardkugel. Kaiserschnittkinder sind irgendwie niedlicher als Spontangeburten. Sie sind so schön rund und so gar nicht zerknautscht.

»Mia will jetzt zu ihrem Papa. Ihr Mann ist schon ganz aufgeregt. Ich bringe die Kleine jetzt zu ihm. Wir sehen uns gleich, Frau Birkhoff!«

Mein Mann. Mein Felix. Die Lavaflut galt auch ihm. Ich heulte und heulte.

»Was ich gedacht habe bei deiner Geburt? Scheiße, habe ich gedacht, schöne Scheiße. Für dieses Balg trägst du jetzt die nächsten zwanzig Jahre die Verantwortung. Genau das habe ich gedacht. Hast du sonst noch ein paar blöde Fragen auf Lager?«

Ich weinte und hörte gar nicht mehr auf. Mein Leben würde ich für dieses Kind opfern. Mein Leben! Ich würde mich wie eine Löwin schützend vor dieses Kind stellen. Diese Gefühle und Gedanken hauten mich um. Das also war Mutterliebe? DAS? So sah Mutterliebe aus? So fühlte sie sich an, diese Mutterliebe? »Ich wünschte, du wärest tot. Dann hätte ich endlich meine Ruhe vor dir!«

Mutterliebe war ein berauschendes Gefühl, und ich war so in meine Gedanken vertieft und so aufgewühlt von dieser nie gekannten und nie erahnten Liebe, dass ich völlig überrascht war, als der Arzt sagte: »So. Endlich. Das hätten wir geschafft. Die OP ist spitze verlaufen. Ihrer Tochter geht es gut.« Er riss sich die grüne Mütze vom Kopf und nahm den Mundschutz ab, und im nächsten Moment rollte mein Bett wieder irgendeinen Flur entlang. Den Rest der Fahrt legte der Chefarzt seine Hand auf meine Schulter und ging neben dem Bett her. »Wir bringen Sie jetzt auf die Wöchnerinnenstation. Ihr Mann und Ihre Tochter warten schon auf Sie.« Die Hand auf meiner Schulter tat mir gut. Es signalisierte mir, dass ich meine Sache in letzter Sekunde doch noch gut gemacht hatte.

Das Bett wurde gedreht und hin und her gerückt, bis ich endlich Felix auf meiner rechten Seite sitzen sah. Er hatte ein klitzekleines weißes Bündel in seinen großen starken Armen. Eine Schwester nahm ihm das kleine Bündel ab und legte es mir in den Arm. Mia schlief. Mia war so klein und zart. Ein hübsches Kind.

»Glückwunsch, Frau Birkhoff. Glückwunsch auch an den Vater. Eine süße Tochter haben Sie da. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Frau Birkhoff, wir sehen uns dann morgen bei der Visite. Schlafen Sie gut.«

Dann wurden wir allein gelassen. Die nächste Generation der Birkhoff-Familie war komplett. Felix konnte nicht mehr. Ein heftiges Schluchzen bahnte sich den langersehnten Weg in die Freiheit. Es war offensichtlich, dass Felix schon seit einiger Zeit mit den Tränen kämpfte. Jetzt, wo wir allein waren, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Ich liebte ihn abgöttisch dafür. Felix weinte und weinte.

»Was ein Gefühl«, stammelte er tief bewegt. »Das ist Wahnsinn. Unglaublich.« Er schüttelte den Kopf und schnäuzte sich die Nase. Ihm fehlten die Worte. Dafür stieg der nächste Tränenfluss in ihm hoch. In so einer Situation braucht man keine Worte. Da sind die Emotionen Zeichen genug. Felix lag über meinem Bauch und heulte sich die Seele aus dem Leib. Ich heulte mit. Darin waren wir beide geübt und ein prima Team.

Als wir uns so einigermaßen beruhigt hatten, lag Felix mit seinem Kopf immer noch auf meinem Bauch. Durch die PDA spürte ich ja keine Schmerzen und genoss es, meinen Mann so bei mir liegen zu haben. Während der Schwangerschaft hatte ich diese Geste schmerzlich vermisst. Umso mehr genoss ich es jetzt. Felixʼ Finger sah unglaublich groß aus, als er vorsichtig über Mias Näschen streichelte. »Sie ist so klein. So hübsch. Guck mal, diese winzig kleine Nase. Süß, ne?«

Ich nickte selig.

»Und diese putzigen Öhrchen. Und schau mal. So kleine Händchen. Das gibtʼs doch gar nicht.«

Felix studierte Mia aufmerksam und hingebungsvoll. Seine Augen waren voller Liebe, voller Dankbarkeit und voller Güte. Ich zerfloss vor Liebesgefühl. Hielt Mia im linken Arm und streichelte versonnen Felixʼ Haare mit der rechten Hand. Ich hatte das Gefühl, dass sich in unserer Ehe etwas Gravierendes zum Positiven verändert hatte. Dieser Mann würde ein guter Vater werden. Ein zuverlässiger Vater. Ein Vater, dem man vertrauen konnte. Ein starker Vater.

Eine riesige Hand schlug mir ins Gesicht. Immer wieder. Immer wieder. Klatsch! Klatsch! Klatsch! Es hörte nicht auf. Es hörte einfach nicht auf! Ich heulte Rotz und Wasser. Ich hatte Angst. Schreckliche Angst. Wehrte mich nicht. Versuchte, meine Hände vors Gesicht zu halten. Schläge abzuwehren. Meine Hände wurden runtergerissen. Das tat weh. Furchtbar weh. Eine unbarmherzige Faust sauste auf mich zu. Sauste direkt auf mein Gesicht zu, während meine Händchen festgehalten wurden. Es krachte. Irgendetwas in meinem Gesicht hatte geknackt. Der Boden unter meinen Füßen verschwand. Ich schlug auf. Schlug auf irgendetwas Hartes. Kantiges. Schmeckte Blut. Roch Blut. Badete im Blut. Sah nur noch Blut. Starb. Dieselben Hände zerrten mich hoch. Konnte nicht stehen. Dieselben Hände hielten mich fest. Schleiften mich irgendwohin. Irgendwohin. Dieselben Hände. Autotür. Motorgeräusch. Wieder die Hände. Dieselben Hände. Dann schmale Hände. Hände, die mich am Arm vorwärtszerrten. Kalte, schmale, harte Hände. Mutterhände. Grelles Licht. Weiße Kittel. Stechender Schmerz. Nadel. Faden. Schere. Beißender Geruch. Müde. Entsetzlich müde.

Felix war müde. Wir waren beide müde. Die Hebamme kam und nahm Mia mit den Worten »Sie brauchen jetzt erst mal Schlaf. Ich kümmere mich um Mia. Keine Sorge« mit ins Säuglingszimmer.

Felix und ich verabschiedeten uns. Zärtlich. Innig. Und äußerst ungern. »Ich rufe jetzt meine Eltern an, und dann fahre ich nach Hause. Ich bin hundemüde. Ich liebe dich. Bis morgen.«

Ich brauchte lange, um einzuschlafen. Mein Leben hatte sich verändert. Meine Liebe zu Felix hatte sich verändert. Meine Welt hatte sich verändert. Ich war jetzt Mutter. Ich war stolz. Ich war glücklich. Ich dachte an meine eigene Mutter. Mein Gott, musste diese Frau krank sein. Ich fühlte nur noch völlige Verständnislosigkeit. Gut, dass ich nicht so war wie sie.

Am nächsten Morgen kamen meine Schwiegereltern. Mutti und Papa waren aufgeregt und total gerührt. Mein Schwiegervater foppte meine Schwiegermutter mit dem Ausruf »Oma«.

»Ja, ist doch schön!«, sagte sie entwaffnend ehrlich und lachte. Omi war gern Oma. Sie liebte mich. Sie war meine wahre Mama. Mein Schwiegervater war der Erste von beiden, der Mia zärtlich auf den Arm nahm und es sich mit seiner Mini-Enkelin auf dem Sessel gemütlich machte. »Klappt doch!«, strahlte er stolz und siegessicher. Mit dieser Geste hatte er selbst nach über vierzig Ehejahren seine eigene Ehefrau überrascht. Mutti hatte sich nicht getraut, Mia hochzunehmen. Sie war unsicher und wollte nichts falsch machen. Meinem Schwiegervater kam in dieser Hinsicht seine pragmatische und ruhige Art entgegen. Mia und ihr Opa gaben ein herrlich selbstverständliches Bild ab. »Fühlt sich gut an.« Papa grinste breit. Das war seine Art auszudrücken, dass ihm die neue Rolle als Großvater richtig gut gefiel.

Nach meinen Schwiegereltern kam Silke zu Besuch. Sie arbeitete in dieser Klinik und ärgerte sich schwarz, dass sie den Abend auf unseren Anruf gewartet hatte, der aufgrund der Dramatik nicht kam. Tomas, der neue Mann an ihrer Seite, hatte sie gedrängt, doch einfach loszufahren. Silke und Tomas wurden die Pateneltern von Mia.

»Hätte ich doch man nur auf Tomas gehört«, schimpfte Silke mit sich selbst. Mit gekonntem Griff schnappte sie sich Mia und wiegte sie vorsichtig im Arm. »Diiiieee ist ja süß. Und wie die einen schon mit den Augen fixiert. Ist ja Wahnsinn.«

Mir war das auch schon aufgefallen, aber der Vergleich fehlte mir. Mia schaute einem direkt in die Augen, und offensichtlich war das nicht bei allen Säuglingen so. Silke war ja diesbezüglich die Fachfrau von uns beiden. Ich war heilfroh, dass sie meine Nachbarin war, und so gesehen nicht mehr böse, dass wir immer noch nicht umgezogen waren. Mit Silke als Freundin und direkt Tür an Tür konnte mir so schnell nichts passieren. Ich machte mir schon jetzt Sorgen, dass ich meine neue Rolle als Mutter nicht hinbekam. Ich war die personifizierte Unsicherheit und völlig unbeholfen. Ich hatte als Kind nie mit Puppen gespielt und bereute das jetzt. »Christine! Was machst du denn da mit deinem Püppchen? Oh Gott!« Omi schien entsetzt zu sein. Offensichtlich war das nicht in Ordnung, wie ich Püppchen behandelt hatte. Ich war mir keiner Schuld bewusst. Am Blick von Omi sah ich, dass ich böse gewesen war. Irgendwie böse. Omi sagte gar nichts mehr. Sie starrte auf Püppchen. Püppchen. Gegen die Wand geschleudert. Angeschrien. Geschlagen. Püppchen mit verdrehten Armen. Püppchen ohne Arm. Püppchen ohne Bein. Püppchen ohne Kopf. Augen rausgepult. Blödes Püppchen. Püppchen war mir egal. Warum sollte mir Püppchen leidtun? Ich verstand Omi nicht. Ich verstand nicht, dass sie traurig war. Omi weinte. Wegen mir. Das war blöd! Das war viel blöder als Püppchen, die kaputt in der Ecke lag. Ich weinte auch. Weinte, weil Omi wegen mir weinte. »Ich bin so froh, dass du in meiner Nähe bist, Silke!« Ich heulte schon wieder.

»Hey! Beruhige dich! Da musst du nicht gleich weinen. Ich helfe dir. Ist doch klar. Das kriegst du schon hin!« Silke streichelte meinen Arm. Das tat gut. Ich wusste auch nicht, warum ich so verdammt unsicher war. Das war doch sonst nicht meine Art! Ich beruhigte mich selbst. Ich würde es schaffen. Ich würde auch DAS schaffen!