_______________KAPITEL 10________________

 

Althoff

 

I
ch lebte allein und hatte einen kleinen, überschaubaren Freundeskreis. Mein Alltag bestand in der Regel aus Arbeit und meiner reiterlichen Ausbildung bei Richard Hinrichs.

Eine meiner besten Freundinnen wurde Jule. Sie war einige Jahre älter als ich, hatte Mann und Kind, Pferde und Hunde und war ein unglaublich liebenswerter und gastfreundlicher Mensch.

Ich schaffte mir einen jungen Schäferhund an, der nichts Besseres zu tun hatte, als mein Sofa zu demolieren und sich über die Felder hinweg vom Acker zu machen. Morgens um fünf Uhr dreißig begann mein Tag, und er endete selten vor Mitternacht. Bei Richard Hinrichs wurde es immer spät. Aber nirgendwo sonst hätte ich vermutlich die Chance gehabt, auch noch um dreiundzwanzig Uhr Unterricht erteilt zu bekommen. Ich lernte enorm viel, und mein Wunsch war es, ein junges Pferd selbst auszubilden. Durch eine Bekannte traf ich auf Siglavy Capriola, einen schwarzen Lipizzanerhengst: Das Tier war kaum zu bändigen und kämpfte gegen jede Form von Zwang.

Ich kaufte ihn auf der Stelle.

Jetzt war ich vollkommen pleite und hatte zu allem Überfluss zwei Pferde. Ich beschloss, Kasper zu verkaufen. Es würde mit zwei Pferden keine zwei Monate gut gehen, dann hätte mich die Bank am Haken.

Capriola war ein zutiefst verunsichertes Pferd, das mich ständig misstrauisch beäugte und jede meiner Bewegungen zu analysieren versuchte. Gelang ihm das nicht, reagierte er mit Aggressivität. Er war mein eigenes Spiegelbild. Emotional tat es mir unglaublich gut, im Laufe der Monate mitzuerleben, wie dieser schöne Hengst mir nach und nach vertraute. Nie wieder habe ich ein Pferd besessen, das mich im täglichen Umgang derart herausforderte. Capriola ließ sich nicht anbinden, schmiss sich auf den Boden und zitterte vor Angst bei jeder Berührung. Ich habe später erfahren, dass man den Lipizzanern in Rumänien im Alter von sechs Monaten zwei Brandzeichen in den Rücken drückt. Um diese Prozedur durchzuführen, packen die Männer das Pferdekind an den Ohren, ein anderer schnappt sich ein Vorderbein, und dann werden zwei glühende Brandeisen in den Rücken gestemmt. Capriola hatte diese Erinnerung gespeichert. Kam der Schmied mit seinen Gehilfen, dann tanzte der Hengst mit zwei kräftigen Kerlen an seinen Vorderbeinen rückwärts auf den Hinterbeinen durch die Stallgasse.

Ich konnte meinem neuen Hengst tief in die Seele schauen. Mit dem Hafereimer stand ich fortan vor ihm, und erst wenn ich beruhigend mit ihm sprach, dann konnte der Schmied seine Arbeit beginnen. Beim Training war Capriola wie ausgewechselt. Es war ein Terrain, das er nicht kannte, und in diesem unbekannten Metier zeigte er seinen wahren Charakter. Capriola war ein äußerst intelligentes Pferd, das sehr schnell lernte und Freude an der eigenen Bewegung hatte. Wenn er etwas verstanden hatte, dann bot er das Gelernte immer wieder an, nur um die positive Bestätigung in Form eines Leckerchens zu erhalten. Selbst die schwierigsten Lektionen fielen ihm leicht, und seine Konstanz und Zuverlässigkeit schenkten mir täglich wahren Reitgenuss.

Kasper war da vollkommen anders gestrickt: Der liebe Gott hatte diesem Friesenhengst einen perfekten Körper, eine umwerfende Ausstrahlung und sehr viel Talent mit auf den Weg gegeben. Kasper war liebevoll und behütet aufgewachsen und strotzte vor Selbstbewusstsein. Er war ein richtiger Showtyp, aber eine positive Arbeitseinstellung besaß dieses Pferd ganz und gar nicht. Er hatte wie Capriola eine rasche Auffassungsgabe, und wenn es dann anstrengend für ihn wurde, quittierte er die Arbeit. Er fand es viel lustiger, andere Hengste in der Bahn anzugreifen oder seine Kräfte mit dem Reiter zu messen.

Bei den Pferden ist es oft so wie bei den Menschen: Die, die alles hatten, sind später am wenigsten zur Leistung bereit. Ich kenne eigentlich nur Kämpfernaturen, die eine Vergangenheit voller Entbehrungen haben. Das scheint zu prägen.

Eines Tages rief mich meine Bekannte an und berichtete aufgeregt: »Der Zirkusdirektor Althoff sucht gerade einen Friesenhengst für die Show. Der hat viele Friesen. Ich habe dir seine Handynummer organisiert. Ruf ihn an, dann kannst du Kasper vielleicht verkaufen!«

Ich notierte mir die Nummer und besprach mich mit Richard Hinrichs. Da er jahrelang für Christel Sembach-Krone Pferde ausgebildet hatte, kannte er sich in der Zirkusszene bestens aus.

»Althoff ist ein Meister der Freiheitsdressur und hat des Öfteren beim Zirkusfestival in Monaco den ersten Preis gewonnen. Ich kenne ihn persönlich noch nicht, weiß aber, dass man in der Zirkuswelt nur mit viel Ehrfurcht von ihm spricht. Rufen Sie ihn ruhig mal an.«

Drei Tage lang rief ich täglich bei Franz Althoff an, und drei Tage lang wimmelte er mich ab. Am vierten Tag dann meinte er am Telefon: »Ich habe das ungute Gefühl, dass ich Sie nie loswerde, also muss ich mir wohl oder übel das Pferd mal anschauen.« Etwas widerwillig notierte er sich meinen Namen und die Wegbeschreibung.

Ich war mächtig gespannt auf diesen Zirkusdirektor, und selbst Richard Hinrichs war seine Anspannung anzumerken. Ich verband mit dem Namen Franz Althoff Glanz und Charisma, Macht und Autorität.

Kasper stand geschniegelt und gestriegelt in seiner Box und hatte keine Ahnung, worum es ging. Sein Schweif war üppig und so dick wie vier Männerarme. Seine Mähne lockte sich genauso am Hals entlang wie meine eigenen Haare. Optisch waren dieser Hengst und ich uns sehr ähnlich. Als ich zum Tor ging, fuhr eine Limousine vor.

Ein Mann fragte: »Bin ich hier richtig bei einem Richard Hinrichs?«, und ich rief zurück: »Genau richtig! Hier vorne können Sie parken.«

Althoff stieg aus und betrachtete mich mit prüfendem Blick. »Hatten wir beide telefoniert?«, fragte er.

Ich bejahte und starrte ihn an.

Franz Althoff ist ein großgewachsener Mann, attraktiv und eine imposante Erscheinung. Wer sich einmal seinem durchdringenden Blick ausgesetzt sah, wird mir bestätigen, dass man das Gefühl hat, durchleuchtet zu werden.

Schnell waren wir in Gespräche über Pferde und den Zirkus vertieft. »Wo ist denn der Friese, den Sie verkaufen möchten?«, fragte Althoff dann.

Ich holte meinen lackschwarzen Hengst aus der Box. In der Stallgasse stand Kasper dann stolz wie ein Denkmal. Althoff sah sich das Tier genau an. Sein Blick blieb an dem dichten Schweif hängen. Mit schelmischem Lächeln schaute Althoff mich an und fragte: »Ist der Schweif genauso echt wie Ihre Haare, oder tragt ihr beiden ein Toupet?« Er lachte über seine eigene Frage.

Ich merkte, dass mir das Blut zu Kopfe stieg, und stammelte: »Ne, ne, das ist alles echt.«

In meinen Gedanken ging es weniger darum, mein Pferd zu verkaufen, als um den charismatischen Mann, der da vor mir in der Stallgasse stand. Mir war, als ob alle Männer, die mir jemals zuvor begegnet waren, neben dieser überwältigenden Persönlichkeit verblassten, und ich fühlte mich wie ein verunsichertes Schulmädchen.

»Lassen Sie uns alle essen gehen«, schlug Althoff vor. Gemeinsam fuhren wir zum Italiener. Nicht ein einziges Wort wurde über den Pferdekauf gesprochen. Ich war verunsichert. Andere Verkaufsgespräche liefen da völlig konträr ab. Beim Italiener sagte ich kaum ein Wort. Ich saß neben Althoff und hatte mehr Sorge, das Besteck fallen zu lassen, weil mich die Aura, die diesen Mann umgab, völlig erschlug.

Es war weit nach Mitternacht, als wir zurückkehrten. Ich stand wie Hein Blöd vor Franz Althoff.

»So«, sagte er, »und Sie erklären mir jetzt mal, warum Sie dieses Pferd verkaufen wollen. Steigen Sie ein. Hier draußen wird mir das zu kalt.«

Ich erzählte die üblichen Geschichten, die man so erzählt, wenn man ein Pferd verkaufen will und auf gar keinen Fall zugeben möchte, dass man in finanzieller Not ist.

»Wann hören Sie eigentlich auf, mir diesen Quatsch zu erzählen. Das ist doch purer Blödsinn!« Wieder ein schelmisches Althoff-Grinsen.

Richard Hinrichs hatte mir eingeschärft, unter gar keinen Umständen meine finanzielle Situation preiszugeben.

»Ich bin vollkommen pleite«, sprudelte es jetzt dennoch aus mir heraus, und ich erzählte, dass ich mich von Alfons getrennt hatte und so unvernünftig gewesen war, mir aus spontaner Zuneigung und Bewunderung heraus einen schwarzen Lipizzaner zu kaufen. Dass ich mit Kasper absolut nicht klarkam, weil der eben alles andere als kooperativ war. Ich seufzte und unterdrückte nur mühsam die Tränen. »Ich weiß einfach nicht mehr weiter«, resümierte ich. »Und den Lipizzaner, den gebe ich auf keinen Fall ab. Der ist ein Skorpion, so wie ich, und dankt mir jede Zuwendung. Auf Dauer kann ich mir nur ein Pferd leisten, und selbst dann muss ich noch jeden Pfennig umdrehen.«

»Ich mag Menschen, die einfach ehrlich sind«, antwortete Althoff, »ich komme nächste Woche wieder, und dann rechne ich Ihnen exakt vor, was Sie das Pferd in den letzten drei Jahren gekostet hat. Das ist der Preis, den ich Ihnen bezahlen werde, und nicht einen Pfennig mehr.«

Als ich endlich zu Hause war, fiel eine große Anspannung von mir ab. Ich war verwirrt und fragte mich, warum ich von diesem Mann derartig beeindruckt war. Mir ging das Gespräch noch einmal durch den Kopf. »Vor einem solchen Mann kann man gar nicht lügen«, dachte ich nur, »der Kerl ist alles andere als oberflächlich und wittert Unehrlichkeit wahrscheinlich auf Kilometer Entfernung hinweg.« Ich hatte das Gefühl, einem Menschen begegnet zu sein, bei dem es sich lohnen würde, Schwächen offenzulegen und sein Innerstes zu offenbaren. Ich verliebte mich Hals über Kopf, ohne dass der Mann auch nur die leiseste Ahnung hatte. Dachte ich zumindest.

Zwei Wochen später saßen wir wieder in dem gleichen italienischen Restaurant wie bei der ersten Begegnung. Althoff war überrascht, dass ich einen schriftlichen Kaufvertrag abschließen wollte, und gab mir einen Quittungsblock vom Kellner. Ich kritzelte was von dann und dann verkauft, Risiken übertragen und so weiter, und mit einem schmunzelnd-amüsierten Gesicht unterzeichnete Althoff das Papier.

»Bist du jetzt zufrieden?«, fragte er mich und grinste belustigt. Heute verstehe ich das nur zu gut. Auf einen mündlichen Vertrag mit Franz Althoff kann man Häuser bauen, und das Wort dieses Mannes hat mehr Gewicht als ein Stück Papier.

»Ich lasse Kasper dann abholen, wenn wir im Winterquartier in Aachen sind. Bis dahin übernehme ich natürlich die Kosten. Wir gastieren nächste Woche in Hannover. Kommt ruhig alle vorbei. Ihr seid herzlich eingeladen, euch die Show anzuschauen.«

Natürlich interessierte mich die Show. Gar keine Frage. Zwischenzeitlich aber hatte ich herausgehört, dass Althoff schon seit Jahren mit seiner Freundin zusammen war, was mich natürlich mächtig wurmte. Es interessierte mich brennend, wie diese Frau aussah.

Als wir mit unserer kleinen Truppe zum Zirkus Althoff fuhren, war ich gespannt. Althoff begrüßte uns im Vorzelt und lud uns auf einen Sekt ein. Eine mondän aussehende Blondine rief herzlich: »Ja, dann übernehme ich doch gleich mal den Service! Was darfʼs denn sein?«

Mit meinem Sektglas in der Hand starrte ich die Frau an. Das musste sie sein. Die Frau an Franz Althoffs Seite. Ich merkte, wie mein Selbstbewusstsein mal wieder auf Erbsengröße zusammenschrumpfte. Diese Frau spielte in einer völlig anderen Liga als ich. Sie war souverän, sie war bildhübsch, sie war super gekleidet und perfekt geschminkt. Und ich sah aus wie ein einzigartiger Haufen Gestrüpp. Oh Gott, dachte ich nur. So nett sie auch war und sosehr sie sich auch bemühte, mit mir ins Gespräch zu kommen, es war umsonst. Ich wollte sie einfach nicht sympathisch finden und sträubte mich mit aller Macht dagegen.

»Du bist also die Christine vom Kasper«, begann sie das Gespräch. »Hallo! Ich bin die Tina. Kannst ruhig Du zu mir sagen. Zum Franzi übrigens auch.«

Sie himmelte ihn an, das war unübersehbar.

»Was meinst du, was ich mich gefreut habe, dass der Franzi mir den Kasper geschenkt hat. Schon seit Jahren wünsche ich mir ein Pferd.« Tina strahlte.

Mir fiel die Kinnlade herunter. Franz Althoff hatte meinen Kasper seiner Freundin geschenkt?

Tina erzählte und schwärmte, und die Freude war ihr wirklich deutlich anzumerken.

»Mit Kasper wirst du keinen Spaß haben«, unterbrach ich sie wenig charmant. »Ich habe ihn selber kaum reiten können, und ich will dir nicht zu nahe treten, aber dieses Pferd wirst DU niemals reiten können!« Rumms! Ich hatte mein Kriegsbeil ausgegraben und übertünchte so zugleich meine unendliche Traurigkeit. Ich hätte heulen können. Ich war rettungslos in diesen Mann verliebt, und der hatte nichts Besseres zu tun, als mein Pferd seiner Freundin zu schenken. Wenn ich mir Tina so anschaute, dann fragte ich mich, warum ich nicht gleich wieder aufstand und einfach ging?

Als wir spät am Abend zurückfuhren, heulte ich wie ein Schlosshund. Diese Frau schien alles erreicht zu haben in ihrem Leben, was man nur erreichen konnte. Sie erschien mir so unglaublich stark, so unglaublich zufrieden und über den Dingen stehend, und ich dachte, dass man mit einem solchen charismatischen Mann auch nur so werden konnte. Ich hatte Liebeskummer, der schlimmer nicht hätte sein können.

Zu allem Unglück wurde ich auch noch arbeitslos. Ich kaufte eine alte Ente, baute mit meinem Vermieter die hintere Sitzbank raus und düste mit Don, meinem Schäferhund, durch die Gegend. Das Auto war wenigstens billig im Unterhalt und verbrauchte kaum Sprit. Althoff hatte mir angeboten, nach Aachen zu kommen, wenn Kasper sein neues Leben im Zirkus beginnen würde. Die Zeit hatte ich ja nun. Ich erlebte, wie professionell und einfühlsam Franz mit den Hengsten umging. Wenn Franz den Stall betrat, hoben alle Hengste den Kopf. Er war der Chef im Ring, er hatte das Sagen, er strahlte eine ungeheure Autorität aus. Mir ging es wie den Pferden. Ich liebte und bewunderte Franz, weil er allen Menschen und Tieren um sich herum ein unglaubliches Gefühl der Sicherheit vermittelte. Mit Franz Althoff war man nicht verloren. Ich fühlte mich vom Zirkus magisch angezogen und verstand mich selbst nicht mehr. Es war der Geruch der Pferde und des Popcorns, die Musik, die Geräusche der flatternden Zeltbahnen, die stetig wiederkehrende Ordnung der täglichen Abläufe, die Disziplin der Artisten, das geruhsame Kauen der Pferde nach der Vorstellung, einfach ALLES.

Jedes Mal wenn ich wieder in meiner Wohnung saß, zog es mich zurück zum Zirkus. Nach einigen Besuchen wusste ich bereits anhand der Uhrzeit, wer wo an seinem Platz stand und welche Nummer gerade dem Publikum dargeboten wurde. Gleichzeitig überkam mich das Gefühl der Heimatlosigkeit. Ich kann mich an einen Morgen am Kölner Rheinufer erinnern, da wachte ich im Wohnwagen auf und konnte nicht mehr schlafen. Als ich im tristen Grau an der Uferpromenade entlangging, schaute ich auf das Zirkuszelt und die Wohnwagen.

Ohne Licht, ohne die Show, ohne das Spektakel und zudem noch bei diesigem Wetter verliert auch der schönste Zirkus seinen Glanz. In diesem Moment sieht man das wahre Wesen eines Zirkusunternehmens: Arbeit! Nichts als pure Arbeit, die allen Arbeitern, Artisten und Tieren eine unglaubliche Disziplin abverlangt. Ich stand im Nieselregen und begriff, dass ich einfach nicht zu dieser Welt gehörte. Und ich stand da und fragte mich, wo ich überhaupt hingehörte? Ein Zirkus hat sicherlich Ähnlichkeit mit einer riesigen Großfamilie. Vielleicht war es das, was mich anzog? Aber war das tatsächlich mein Leben? War hier ein Platz für mich?

Ich trudelte durch die Wochen. Die immer wiederkehrende Gastfreundschaft von Franz und Tina verwunderte mich. Insbesondere bei Tina. Sie wusste haargenau, wie der Hase lief, und sie setzte mich immer wieder schachmatt, weil sie immer wieder freundlich und herzlich zu mir war. Dadurch wirkte sie noch souveräner, und ich schämte mich abgrundtief, dass ich den Mann an ihrer Seite begehrte.

 

Als Weihnachten vor der Tür stand, hielt ich es nicht mehr in Hannover aus. Ich rief Franz an und heulte ihm die Jacke voll. Ich merkte, dass er es langsam leid war, dass ich wie eine Schmeißfliege an seiner Backe klebte. »Wir sind in Rotterdam. Wenn du angekommen bist, dann ruf mich wieder an.« Ich setzte mich Heiligabend in den Zug und fuhr nach Rotterdam. Im Zirkus war die Hölle los. Die Holländer waren richtig zirkusverrückt und strömten in Scharen in die Vorstellungen. Der Trubel war Rettung in letzter Sekunde für mich. Hier war Leben, hier herrschte Umtriebigkeit und emsiges Arbeiten, hier war ich nicht alleine. Am nächsten Tag besuchten wir mit einigen Leuten den Schweizer Nationalzirkus Knie, der in Amsterdam gastierte, und Franz stellte mir Fredy Knie Junior vor. Von ihm erhielt ich eine Visitenkarte, die ich bis heute ehrfurchtsvoll aufbewahre.

Und natürlich tauchte ich auch wieder im Winterquartier in Aachen auf. Eines Morgens nahm Althoff mich mit in ein Frühstückscafè. Wir sprachen über mich, mein Leben und meine Perspektiven.

Althoff lehnte sich auf einmal zurück. »Ich will dir mal etwas sagen, und sei froh, dass ich es dir sage, denn ich meine es wirklich nur gut mit dir: Du bist nicht du selbst. Du bist einfach nicht du selbst. Ein Beispiel: deine aufgesetzte Mimik! Ständig hast du eine aufgesetzte Mimik! Du brauchst nicht ständig zu lächeln oder affektiert herumzugestikulieren. Das hast du alles gar nicht nötig. Sei einfach DU SELBST.«

Meine Tränenschleusen öffneten sich mal wieder unaufhaltsam. Ich hatte das Bild meiner Mutter vor Augen, deren aufgesetzte und exaltierte Mimik auf unzähligen Fotos zu erkennen ist. Ich erkannte, dass Althoff Recht hatte mit seiner schonungslosen Kritik, und ich war unfähig, ihm das Wieso und Warum zu erklären. Ich war nicht ich selbst. Ich war es selten gewesen. Und ein Mann wie Franz Althoff war viel zu erfahren, um auf eine aufgesetzte Mimik hereinzufallen.

Seine Worte taten ihm bestimmt nicht leid, aber meine Reaktion, meine tiefe Verletztheit rührten ihn. »Ich geb dir jetzt mal etwas mit auf den Weg. Hör zu! Egal, was war, und egal, was ist: ES GEHT IMMER WEITER IM LEBEN. Merke dir das gut.« Er nahm mich freundschaftlich in den Arm und drückte mich.

Ich wusste, dass ich zu gehen hatte. Ich wusste, dass ich mein Leben leben musste, und ich hatte eine wichtige Lektion begriffen: Es geht immer weiter im Leben.

Nur wenige Tage nach meiner Rückkehr nach Hannover bekam ich einen neuen Job angeboten, und aus der Zeit des Trudelns wurde eine relativ geordnete Zeit. Ich fühlte wieder Halt unter meinen Füßen und begann auf einmal, die Landschaft der Lüneburger Heide in vollen Zügen zu genießen. Hier und da lernte ich gelegentlich einen Mann kennen, aber so richtig reizte mich nach meiner platonischen Liebe zu Franz Althoff eigentlich keiner.

Gerd Kapitzke machte sich als väterlicher Freund Sorgen um mich und mein Dasein als Frau. In unzähligen Gesprächen diskutierten wir auf seinem kleinen Balkon über Gott und die Welt. Ich mochte es, Gerd zuzuhören. Er erzählte viel von seinem Leben und machte auch um das Thema Sexualität keinen Bogen. Begeistert sprach er über diese Thematik, was auf mich als Frau aber keineswegs plump oder anmachend wirkte. Ganz im Gegenteil. Ich redete gern mit Gerd über dieses Thema und verkaufte mich dabei so souverän es ging. Aber auch Gerd zählt nicht zu den Männern, die sich lange über die Wahrheit hinwegtäuschen lassen.

Als Gerd mich eines Abends fragte, ob ich in meinem Leben überhaupt schon mal einen Orgasmus hatte, kippte ich vor Schreck fast vom Stuhl.

»Entschuldige bitte, Christine. Das ist eine sehr intime Frage. Aber ich komme nicht umhin, dir sagen zu müssen, dass mir da einige Ungereimtheiten aufgefallen sind. Du musst auf die Frage nicht antworten.«

Gerd sah mich nachdenklich an und setzte sein Glas Wein ab. In mir kreisten die Gedanken. Schon seit Wochen beschäftigte mich diese Frage. Es existierte zwar kein Mann an meiner Seite, aber vielleicht beschäftigte mich die Frage nach meiner eigenen, bislang verborgen gebliebenen sexuellen Existenz gerade deswegen. Ich war an einem Punkt angekommen, an dem ich ein Resümee zog: Beruflich stand ich wieder auf sicheren Beinen und organisierte die Turniere in einem großen Golfclub. Die Bezahlung stimmte, und die Tatsache, dass ich während der Saison kein einziges Wochenende frei hatte, störte mich nicht im Geringsten. Alle diese Überstunden konnte ich in den Wintermonaten abfeiern, und ich brauchte mich nur um den alltäglichen Bürokram und die Buchhaltung zu kümmern. Mit Hund und Pferd war ich vollkommen ausgelastet, und zwischenzeitlich kehrte eine innere Ruhe bei mir ein. Das Einzige, das ganz und gar nicht stimmte, war mein nicht vorhandenes Verhältnis zu einer eigenen Sexualität. Gerd hatte das völlig richtig erkannt.

»Gerd«, begann ich zögerlich, »du bist mir ein guter Freund. Du bist auch der einzige Mann, mit dem ich reden kann, ohne Angst haben zu müssen, dass sich unsere Freundschaft ändert, wenn ich jetzt einfach mal ehrlich bin.« Ich kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Tränen der Erleichterung. »Du hast vollkommen Recht. Ich habe keine Ahnung, was ein Höhepunkt ist. Ich wüsste gar nicht, was ich tun müsste, um mir selbst ein solches Gefühl zu verschaffen. Weder weiß ich, wie sich das Ziel anfühlt, noch kenne ich den Weg dorthin. Vielleicht bin ich ja frigide?«

»Im Leben nicht, Christine. Ganz sicher bist du genau DAS nicht. Aber erzähl doch mal! Wie kommt denn das?«

Es wurde eine lange Nacht. Ich erzählte und erzählte, ich weinte und krempelte mein Innerstes nach außen.

Als ich Gerd praktisch alles vor die Füße geworfen hatte, seufzte er tief. »Es ist schrecklich, was dir passiert ist. Aber es ist geschehen, und niemand kann es ungeschehen machen. Du hast vorhin etwas sehr Wichtiges gesagt: Ich habe nur dieses eine Leben. Dann fang an, Christine, und hole nach, was andere dir geraubt haben. Beschäftige dich mit deinem Körper. Lies Bücher. Nimm dir einen Taschenspiegel zu Hilfe, und erforsche dich selbst. Du musst ganz von vorne anfangen und dir diese Zeit nehmen, täglich.«

Als ich nach Hause fuhr, fühlte ich mich unglaublich befreit. Gerd hatte nicht gelacht. Gerd hatte mich ernst genommen, und offensichtlich schien ich in seiner Achtung nicht gesunken zu sein. Gerd erinnerte mich an meine verstorbene Großmutter. Er hatte dieselbe gütige Art wie sie, und er mochte mich, so wie ich war. Es hatte gutgetan, die Maskerade abzuwerfen und alle Ängste aussprechen zu dürfen.

Ich kaufte mir ein Buch. Es hieß Joy of Sex, und darin beschrieb die Autorin, dass es immens wichtig sei, Selbstbefriedigung zu lernen. Ja wirklich. Sie schrieb »lernen«. Gleichzeitig wurde in dem Buch immer wieder betont, dass die allerwenigsten Frauen tatsächlich frigide seien. Ich beschloss, nicht zu diesen null Komma zwei Prozent zu gehören.

Das Buch war wie eine Gebrauchsanleitung, und jeden Tag lag ich mit dem Buch neben mir im Bett und betrachtete mich mit dem kleinen Taschenspiegel. Es gab unzählige Momente, in denen ich nur dachte: Oh mein Gott! Wie bescheuert muss man sein? Ich liege hier und fummel an mir selbst herum, und es bringt noch nicht einmal etwas.

Im Buch stand jedoch auch, dass man bloß nicht aufgeben solle, und wenn man so und so manipulieren würde, dann führe das irgendwann tatsächlich zum Erfolg. Ergo machte ich stur weiter. Jetzt ging es mir ums Prinzip, und ich wollte verdammt noch mal wissen, ob ich es schaffen würde, meinen Körper zum Höhepunkt zu bringen. Meine Fantasie war mir wenig hilfreich dabei. Ich besaß keine sexuelle Fantasie und wusste auch nicht, dass diese helfen kann, abzuschalten. In meinem Kopf hatten Jürgen und meine Mutter Platz genommen, und manchmal war mir, als würden beide voller Ekel und Abscheu auf mich niederblicken. Ein Gefühl, das ich nur schwerlich verlieren sollte. Das Einzige, was ich tun konnte, war, dieses Gefühl und diese hemmenden Gedanken immer schneller beiseitezuschieben. Nach über zwei Wochen täglichen »Trainings«, ich wollte schon fast aufgeben, überwältigte mich das einzigartige Erleben eines Orgasmus. Ich war mir sicher, dass es nur DAS gewesen sein konnte. Ich rief Gerd an.

»Gerd!«, rief ich in den Hörer, »Gerd! Ich habʼs geschafft!«

»Das ist prima«, freute sich Gerd am anderen Ende der Leitung. »Jetzt musst du weiterüben und zusehen, dass du immer schneller und mit immer weniger Aufwand zu diesem Punkt kommst. Du musst dir eine gewisse Virtuosität aneignen und quasi ein Meister dieses Fachs werden. Verstehst du, wie ich das meine?«

Ich hatte nur zu gut verstanden. Gerd sprach mir aus der Seele. Wenn ich es schaffte, meinen Körper zu manipulieren, dann würde ich eines Tages vielleicht auch dazu in der Lage sein, einem Mann zu erklären, wie ich funktionierte? Und vielleicht würde ich eines Tages auch einen Mann kennen lernen, mit dem ich gemeinsam Lust verspüren konnte?

Ich übte täglich weiter, und es war bald wie eine Sucht. Es gab Tage, an denen freute ich mich darauf, Zeit für mich selbst erübrigen zu können, und ich begann, meinen Kopf mit Fantasien zu füllen. Innerlich sperrte ich Jürgen und meine Mutter in einen Raum ohne Fenster, fesselte und knebelte sie und holte mir statt ihrer tolle Schauspieler oder andere gutaussehende Männer ins Bett der Fantasien.

Als ich meinen neunundzwanzigsten Geburtstag feierte, dankte ich Gerd für seine Unterstützung.

»Weißt du eigentlich, Gerd, dass ich panische Angst davor hatte, im nächsten Jahr dreißig Jahre alt zu werden und noch immer keine Ahnung von meiner Sexualität zu haben? Unsere Gespräche und deine Ratschläge waren das schönste Geburtstagsgeschenk!«

Gerd grinste breit und ein wenig verlegen. Er freute sich aufrichtig und war ein Gönner aus vollem Herzen.

 

Ich war zu einem Klassentreffen in der mir verhassten Stadt gefahren. Sieben Jahre waren vergangen, seit ich das letzte Mal mit meiner Mutter gesprochen hatte. Die Sehnsucht nach Akzeptanz und Anerkennung machte sich wieder breit in mir. Mit Gitta, Dana und Carla war ich am Morgen nach dem fröhlichen Treffen bei Ankas Mutter zu Gast. In den letzten Jahren war ich vollkommen familienlos durch das Leben gewandert und hatte zur größten Skepsis meiner Freundinnen beschlossen, noch einmal einen Versuch zu unternehmen, das zu ändern.

»Es wäre zu schön«, sagte ich, als ich die Nummer meiner Mutter wählte, »wenn ich endlich mal wieder eine Mama hätte. Vielleicht ist sie ja auch ein bisschen stolz auf mich?«

»Al-Farziz!«, meldete sich meine Mutter mit ihrer mir bestens bekannten Eiskellerstimme.

»Hallo. Ich binʼs. Christine«, meldete ich mich.

»Ja und?«, schrie meine Mutter durch den Hörer. »Soll ich mich jetzt darüber freuen, du Arschloch? Du lässt mich hier in dieser Stadt versauern und vögelst dich durch dein Leben ...«

»Klick!« Gitta hatte auf die Gabel gedrückt und das Gespräch gekappt. »Nicht ein einziges Wort mehr wirst du dir anhören. Es hat einfach keinen Zweck mit dieser Frau. Es war ein Fehler, sie anzurufen! Wir haben sie genau richtig eingeschätzt.« Gitta nahm mich in den Arm, und die anderen streichelten mir betreten über den Rücken.

Es war schiefgegangen. Es war so richtig schiefgegangen. Betretenheit machte die Runde. Immer wieder schüttelte eine von uns den Kopf.

»Da hätte ich im Leben nicht mit gerechnet«, sinnierte Dana vor sich hin.

»Drei von uns haben Kinder«, sagte Anka, »und gerade deshalb können wir deine Mutter überhaupt nicht verstehen.«

Ich heulte. »Jetzt stürz bloß nicht ab, Christine«, merkte Gitta besorgt an. »Du hast dein Leben bislang alleine gemanagt, und jetzt lass dich durch dieses bescheuerte Telefonat nicht runterziehen. Deine Mutter hat dich einfach nicht verdient, und DU hast eine solche Bestie nicht verdient. Klar?«

»Sie ist krank! Ich habʼs schon immer gewusst. Du kannst nichts dafür!« Dana drückte mich noch einmal, und meine Freundinnen verabschiedeten sich von mir.

Das Klassentreffen war lustig gewesen, und wir hatten eine feuchtfröhliche Nacht hinter uns. Ich fuhr zurück in die Lüneburger Heide und bemühte mich redlich, nur an meine herzensguten Vermieter zu denken und mir vorzustellen, dass Martha vermutlich wieder meine Fenster geputzt hatte und ein Schälchen selbstgemachte rote Grütze auf dem Treppenabsatz stehen würde.

Otto würde mich mit strahlendem Lächeln empfangen und fragen: »Na, Christine! Warʼs denn eine schöne Feier für Sie?«

Don würde wie wild um mich herumtoben, und ich müsste wieder aufpassen, dass der ungestüme Schäferhund mich nicht umwarf. Capriola würde sein leises Brummeln von sich geben und mit dem Huf vor die Boxentür klopfen, damit ich mich beeilte, ihn aus seiner Box zu holen. Jule hätte bestimmt wieder Butterstreuselkuchen für mich und würde gespannt meinen Erzählungen lauschen. Sosehr ich mich auch bemühte, mir die behagliche Umgebung, in der ich lebte und arbeitete, vor Augen zu führen: Der Schmerz saß tief und bohrte sich unmerklich weiter in mein Herz hinein.

Ein Darmverschluss mit Notoperation unterbrach meinen Alltag. Meine Vermieter und Jule kümmerten sich rührend um mich und um meine Tiere. Innerhalb der nächsten acht Wochen folgten zwei weitere Darmverschlüsse. Die Mediziner standen vor einem Rätsel. Der Chefarzt riet mir im Abschlussgespräch eindringlich, mir über Stress und Stresssymptome Informationen zu beschaffen. Er war sich nach allen Untersuchungen sicher, dass körperliche Ursachen für meine Darmverschlüsse nicht in Frage kamen. Ich wusste, dass er richtig lag. Ich spürte, dass ich gesundheitlich irgendwann ernsthaften Schaden nehmen würde, und ich spürte, dass die Gründe in meiner Vergangenheit zu finden waren.

Ich bekam Heimweh und wollte zurück ins Ruhrgebiet. In der Heide war es schwierig, einen netten Mann kennen zu lernen, und Gerd riet mir, meinem Herzen zu folgen. Die jahrelangen existentiellen Ängste, mich und meine Tiere über die Runden zu bringen, hatten Spuren hinterlassen. Ich ging auf die dreißig zu und überlegte, wie es weitergehen sollte. Ein Beamtenjob wäre in jedem Fall etwas, das hinsichtlich meiner Existenzängste Sicherheit in mein Leben bringen würde. In einem Gespräch mit Gitta erläuterte ich ihr meine Gedanken.

»Wieso bewirbst du dich eigentlich nicht bei der Polizei?«, fragte sie mich. »Ich mache den Job nun seit sechs Jahren, und langweilig wird dir dabei bestimmt nicht!«

Gitta hatte Recht. Ich kämpfte ständig mit dem Problem, dass mich die Arbeit schon nach wenigen Monaten langweilte. Verglich ich die Jahre im Büro mit den Jahren bei der Lufthansa, so war das berufliche Leben als Stewardess wesentlich spannender gewesen als die sitzende Tätigkeit im Büro. Es nervte mich maßlos, dass mein Leben mehr und mehr einem Eremitendasein glich. Bei der Lufthansa hatte ich es immer genossen, im Pulk vieler Kollegen zu sein, andererseits aber autark und eigenverantwortlich in meinem Arbeitsbereich agieren zu können. Die Arbeit im Büro war geistig wesentlich anspruchsvoller als die Arbeit im Flieger. »Saftschubsen« hatten wir uns selbst lachend genannt, wenn wir nicht im Dienst waren. Und trotzdem war ich glücklicher dabei gewesen.

Ich bewarb mich bei der Polizei und war gespannt, ob ich zu einem Vorstellungsgespräch und Eignungstest eingeladen werden würde.

Wenige Wochen später erhielt ich ein Schreiben von der Polizei in Nordrhein-Westfalen. Man teilte mir den Termin für den Eignungstest mit und forderte mich gleichzeitig auf, beglaubigte Fotokopien des Familienstammbuches und andere wichtige Dokumente nachzureichen.

Diese ganzen Unterlagen konnte ich nur von einem einzigen Menschen erhalten: meiner Mutter. Ich rief an und hoffte, dass dieses Gespräch nicht schieflaufen würde. Kaum hatte ich jedoch meinen Namen ausgesprochen, knallte am anderen Ende schon der Hörer zurück auf die Gabel.

»Diese blöde Kuh!«, schimpfte ich laut in meiner Wohnung. Ich benötigte diese Papiere dringend und wollte auf keinen Fall die berufliche Chance, Polizeibeamtin zu werden, verstreichen lassen.

Ich musste Jürgen anrufen. Mir blieb keine Wahl.

»Kein Problem. Natürlich schicken wir dir diese Unterlagen sofort zu. Wo wohnst du denn jetzt?« Jürgen war zuckersüß am Telefon. Ich nannte ihm meine Wohnanschrift, und er versicherte mir, sich umgehend bei mir zu melden, wenn die Sache geklärt sei.

Am nächsten Tag rief er an. »Ich habe mit der Mami geschimpft, dass sie dir den Hörer aufgelegt hat. So etwas tut man nicht. Die Dokumente sind unterwegs zu dir, dann kannst du sie gleich zur Polizei schicken.«

»Danke«, entgegnete ich erleichtert. Zugleich ärgerte ich mich darüber, dass ich es als wohltuend empfand, dass Jürgen mir half und sich um diese Sache gekümmert hatte. Es ärgerte mich, weil ich dieses vom Prinzip her schöne Gefühl eigentlich nicht mehr an mich heranlassen wollte. Und es ärgerte mich, weil ich feststellte, wie sehr ich mich danach verzehrte.

»Ich finde das toll, dass du bei Polizei anfangen willst. Dann kommt endlich mal Sicherheit in dein Leben, oder?«

Ich protestierte: »Wenn du meinst, Jürgen, dass ich hier im Dreck hause, dann hast du dich gewaltig getäuscht. Ich wohne hier wunderschön, habe einen großen Schäferhund, ein tolles Pferd und einen sehr netten Freundeskreis. Und beruflich habe ich auch nichts zu verbergen und werde sehr gut bezahlt. Also komm mir nicht damit, dass ich erst jetzt, mit meiner Bewerbung bei der Polizei, Ordnung in mein Leben bringe. Das möchte ich mal gleich klarstellen.«

Ich triumphierte innerlich. SO ungefähr musste sich eine erwachsene Frau anhören. Sollte er gleich mal merken, dass er sich mit seinen üblen Prophezeiungen von mir und einem Leben in der Gosse gewaltig getäuscht hatte.

»Das hört sich wirklich gut an, Christine. Da kann man wohl stolz sein auf dich, ne?«

»Wenn du meinst«, antwortete ich betont leger und versuchte gleichzeitig, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Warum zum Teufel noch mal sollte ich ausgerechnet JETZT heulen? Mir ging die ewige Heulerei wirklich auf die Nerven. Jetzt stell dich bloß nicht an, Christine, räsonierte ich.

»Es soll wunderschön sein in der Lüneburger Heide, aber bislang hatte ich noch keine Gelegenheit, mich selber davon zu überzeugen. Bei dieser Jahreszeit ist es bestimmt trostlos da oben, oder?«

Wieder protestierte ich heftig. Wir gingen auf den März zu, und die Luft war schon früh in diesem Jahr mild geworden. Die Schneeglöckchen und Krokusse sprossen bei meinen Vermietern im Garten, und es war alles andere als trostlos. Dieser Mann hatte nun wirklich gar keine Ahnung.

 

Am nächsten Wochenende, ich war gerade dabei, mein Auto zu polieren, die Sonne schien und Otto und Martha säuberten bereits die Gartenmöbel, klingelte mein Telefon. Ich lief ins Haus und nahm den Hörer ab.

»Das ist ja toll, dass ich dich erreiche!«, rief Jürgen fröhlich durchs Telefon. »Deine Mutter ist auf Klassenfahrt, und ich probiere gerade meinen neuen Porsche aus. Ich bin ganz in der Nähe von Celle. Kann das sein, dass ich gar nicht weit weg bin von dir?«

Es ist kaum zu verstehen, aber ich freute mich wahrhaftig. Die Gedanken überschlugen sich. »Keine zehn Minuten sind es von Celle bis zu mir.«

»Christine, es ist so herrliches Wetter. Bestimmt gibt es ein schönes Café in deiner Nähe. Lass uns Kaffee trinken. Nach so vielen Jahren würde ich mich sehr freuen, dich wiederzusehen. Ich meine das ganz ehrlich.«

Ich dachte an Martha und ihren herrlichen schlesischen Apfelkuchen. Otto deckte gerade den Tisch für uns drei. »Ja gut«, antwortete ich und erzählte meinen Vermietern, dass sich nach Jahren der Abstinenz nun zumindest der Lebensgefährte meiner Mutter gemeldet hätte.

Martha und Otto freuten sich mit mir. »Ist auch besser so. In ein paar Monaten sind Sie wieder in Ihrer Heimat, da muss man auch wieder zusammenhalten. Blut ist dicker als Wasser.«

Irgendwie hatten die beiden Recht. Nun, mit fast dreißig, sollte ich eigentlich souveräner sein und einen Strich unter die Vergangenheit ziehen, oder? Immerhin war ich auf dem besten Wege, Polizeibeamtin zu werden. Das war doch vorzeigbar, und wer weiß, vielleicht würde meine Mutter doch noch auf ihre alten Tage stolz sein auf ihre Tochter?

Jürgens Porsche war schon drei Straßen vorher zu hören. »Meine Güte«, sagte Otto, »was kommt denn da für ein Gefährt in unsere Straße? Na, der Mann ist aber alles andere als arm!«

Gestylt mit Porsche-Brille saß Jürgen lachend in seinem Auto. Er hatte sich kein bisschen verändert in den letzten Jahren.

»Gut schaust du aus!«, strahlte er mich an und begrüßte mich vorsichtig mit einem Händedruck. Dann legte er seine andere Hand auf meinen Handrücken. »Ob du es glaubst oder nicht, aber ich freue mich unglaublich, hier zu sein.

Sind das deine Vermieter?«

Ich nickte. »Darf ich vorstellen? Eheleute Plewka, Herr Karnasch, der Lebensgefährte meiner Mutter.«

»Der Stiefvater also?«, fragte Otto zurück und begrüßte Jürgen freundlich. »Tolles Auto haben Sie da.«

»Hepp!« Jürgens Autoschlüssel flogen zielsicher auf mich zu.

»Na los! Du kannst es doch kaum abwarten, ʼne Runde zu drehen! Herr Plewka! Das sieht man doch meilenweit, dass die Christine fahren möchte, oder?« Jürgen zwinkerte Otto zu.

»Na, das würde ich mir nicht zweimal sagen lassen!« Otto lachte.

Martha nickte zustimmend. »Und wenn Sie dann gleich wiederkommen, dann möchten Sie doch auch sicherlich ein schönes Stückchen schlesischen Apfelkuchen, oder?«, fragte sie.

Jürgen strahlte. »Das ist ja ein Service hier! Schlesischen Apfelkuchen hat meine Mutter auch immer gemacht. Sind Sie aus Schlesien?«

Otto und Martha waren völlig verzückt.

Keine fünf Minuten nachdem ich Jürgen das erste Mal nach sieben Jahren wiedersah, saß ich in seinem Porsche und kurvte über die traumhaft schönen Landstraßen der Lüneburger Heide. Ich atmete tief durch. Jürgen hatte das Verdeck unten und ermunterte mich, Gas zu geben. Auf einer langgezogenen Geraden trat ich das Gaspedal durch. Der Karren ging ab wie die Feuerwehr. Es machte ungeheuerlich viel Spaß, dieses Auto zu fahren.

Beim Kaffeetrinken mit Plewkas plauderten die drei über ihre alte Heimat Schlesien. Meine Vermieter mochten Jürgen und sahen mich immer mal wieder verschwörerisch an, so als ob sie sagen wollten: »Na sehen Sie, Christine! Wird doch alles wieder gut!«

Es war Abend, als Jürgen sich verabschiedete.

»Deine Mutter ruft gleich bestimmt an. Das war ein schöner Tag hier. Deine Vermieter sind sehr, sehr nette Leute, und die Landschaft ist einfach traumhaft. Lass uns den Kontakt halten, ja? Ich bekomme das mit der Mami schon geregelt. Du weißt ja, wie sie ist.«

Und ob ich das wusste. Wenn einer den Weg zu ihr ebnen konnte, dann nur Jürgen. Er würde es schaffen, da war ich mir ganz sicher. Eine fast vergessene Sehnsucht kehrte zurück in mein Herz. Es war die Sehnsucht nach Familie, nach Geborgenheit, nach Harmonie, nach Wurzeln.

Und es musste einfach klappen mit der Polizei. Es musste!

Am Tag, als ich definitiv wusste, dass meiner Ausbildung bei der Polizei nichts mehr im Wege stehen würde, rief ich von einer Telefonzelle aus Jürgen im Büro an. Ich war so stolz darauf, mit dieser frohen Botschaft auftrumpfen zu können.

Jürgen freute sich mit mir. »Jetzt suchst du dir ganz in Ruhe eine schöne Wohnung, und dann telefonieren wir wieder. Mit der Mami, das läuft. Ich arbeite daran. Sie ist etwas stur, meint es aber nicht böse. Mach dir keine Sorgen.«

Einige Wochen später wurde mir über einen Makler eine Wohnung angeboten. Es würde äußerst knapp mit dem Geld, stellte ich fest, aber in derselben Straße, in der ich wohnen würde, war auch ein hübscher kleiner Reitstall, den ein Bauer bewirtschaftete. Zum ersten September sollte dort eine Box für Capriola frei werden, und die Wohnung konnte ich ebenfalls zum ersten September anmieten. Meine neue Ausbildung würde am ersten Oktober beginnen, und ich fand, dass die Dinge einfach perfekt liefen. Ein ganz neues Leben würde für mich anfangen, und vielleicht würde das Wunder doch noch wahr werden, und meine Mutter und ich würden feststellen, dass wir zwei erwachsene Frauen waren, die sich nicht zu verstecken brauchten. Sie war doch schließlich nur achtzehn Jahre älter als ich, und ich hoffte inständig, dass Jürgen es schon richten würde. Zum Glück hatte ich meine kompletten Ersparnisse unberührt gelassen und würde meine magere Ausbildungsvergütung hier und da aufstocken können. Wenn nicht, musste ich mir für das Wochenende einen Kellnerjob besorgen, aber auch das stellte kein wirkliches Problem für mich dar.

»Wir treffen uns dann in Ruhrstadt, im Parkhotel, okay?« Jürgen schien es eilig zu haben. Er hätte Neuigkeiten für mich, und da ich ohnehin Anka besuchen wollte und nach Ruhrstadt fuhr, machten wir diesen Treffpunkt aus.

»Es geht nicht anders, verdammt noch mal, Christine, jetzt stell dich doch bloß nicht so an«, raunzte Jürgen mich später ungehalten an.

Wir saßen im Restaurant des Hotels, und ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

»Hör zu! Ich weiß genau, dass sie dir als Allererstes diese Frage stellen wird. Und was und wem nutzt denn bitteschön die Wahrheit? Außer, dass du deine Mutter so viele Jahre später sehr verletzt und dich damit vielleicht an mir rächen kannst. Aber davon hast du doch gar nichts.«

Ich geriet ins Grübeln.

»Was wirst du ihr antworten, wenn sie dich fragt, ob an dem Gerücht etwas dran ist, wir beide hätten was miteinander gehabt?«, hatte Jürgen mich urplötzlich gefragt.

»Die Wahrheit!«, hatte ich spontan geantwortet.

Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher.

»Kannst du ihr nicht ihren Frieden lassen?«, fragte Jürgen mich mit eindringlichem Blick. »Ich dachte, du wolltest einen Neuanfang? Stattdessen willst du nun nichts als Zerstörung.« Sein Blick wurde vorwurfsvoll.

Und die Wahrheit? Was war mit der Wahrheit? Ich schüttelte den Kopf.

»Pass auf, Christine. Überleg dir das in Ruhe. Ich werde das erste Treffen zwischen euch beiden organisieren, deine Mutter ist jetzt bald so weit. Und wenn sie dir diese Frage stellt, dann liegt es an dir, ob du gleich wieder alles kaputtmachen willst oder ob du nicht um des lieben Friedens willen deiner Mutter die Sorgen nimmst. Ihr wollt doch beide einen Neuanfang. Soll das denn gleich mit so einem Theater beginnen? Du hast nichts davon. Und sie hat auch nichts davon. Alles, was passiert, ist, dass alte Kamellen wieder aufgewühlt werden. Damit kann man bestimmt keinen Neuanfang starten, oder?«

Jürgen drückte meine Hand zum Abschied. »Wenn alles gut läuft, dann sollst du dir um deine Ausbildung und dein Pferd keine Sorgen machen müssen. Deine Mutter und ich sind übereingekommen, dass du im Monat tausend Mark erhältst, damit du dich in Ruhe um deine Polizeiausbildung kümmern kannst. Immerhin haben wir dir noch nie eine Unterstützung gewährt, und es wird allerhöchste Zeit damit. Das hast du dir verdient. Und wenn ihr euch getroffen habt, dann macht erst mal gemeinsam ein paar Tage Urlaub an der Ostsee. Ich habe da direkt am Strand Ferienwohnungen. Freundet euch wieder an. Und dann geht mal zusammen einkaufen. Du brauchst doch auch noch so viel für die Wohnung, damit du dich wohlfühlen kannst. Und die Mami geht so gern einkaufen. Sie ist ganz verrückt nach diesem Deko-Kram.«

Ich erinnerte mich. Es stimmte. In puncto Deko war meine Mutter unschlagbar. Sie hatte immer ein fantastisches Gespür für Farben gehabt.

Am Tag unseres ersten Treffens hatte ich mich auch mit Carla verabredet. Es war Schützenfest, und Carlas Eltern waren dort und hatten mir ausrichten lassen, dass sie sich freuen würden, wenn ich mit Carla zum Schützenfest kommen würde. Es war, als wäre mir nun alles Schöne dieser Stadt möglich. Es war, als hätten sich die Dinge zum Positiven gekehrt, und meine alte Heimatstadt erschien mir im strahlenden Sonnenschein alles andere als trist. Ich war hier so unglücklich während meiner Kindheit und Jugend, und ich hatte den unerschütterlichen Willen, alles dazu beizutragen, dass die bösen Erinnerungen einer schönen Gegenwart und noch schöneren Zukunft weichen sollten. Carla hatte einen Termin bei Raphael, dem Inhaber von Il Figaro. Eigentlich wollte ich Carla nur begleiten, aber meine Haare, mittlerweile bis zur Mitte des Rückens reichend, hatten einen Grundschnitt bitter nötig. Als Carla und ich bei Raphael fertig waren, hatte sie ihre Spitzen schneiden lassen und eine Tönung im Haar, und meine Haare waren einem Zweimillimeterhaarschnitt gewichen.

»Und?«, fragte Carla, »wie fühlst du dich jetzt so mit kurzen Haaren?«

»Sieht komisch aus, ne?«, fragte ich unsicher zurück und strich mir über die Stoppeln.

»Ist zwar praktisch bei dem Wetter, aber ein bisschen sehr kurz, finde ich.« Carla schaute nicht sehr begeistert.

Tief im Innern weinte ich um meine Haarpracht. Ich fühlte mich, als hätte ich meine Weiblichkeit bei Il Figaro auf den Boden geworfen.

Der Termin des ersten Treffens mit meiner Mutter rückte näher. Ich war mächtig nervös, als ich vor Jürgens Haus stand und die Klingel betätigte. Würde Jürgen Recht behalten? Würde meine Mutter tatsächlich das erste Mal in ihrem Leben Interesse an ihrer einzigen Tochter bekunden? Die Tür öffnete sich. Meine Mutter lächelte mich an. Sie lächelte mich wirklich und wahrhaftig an. Ich konnte es kaum glauben.

»Komm doch rein«, sagte sie immer noch lächelnd, und verwirrt trat ich in den Flur. Eine Flut von Erinnerungen wollte sich hochtürmen, und im Geiste mähte ich sie alle nieder. Nicht jetzt.

Sie führte mich in die Küche.

»Ich habe Apfelkuchen für dich gebacken«, murmelte meine Mutter verlegen.

Noch nie, ich schwöre, noch nie hatte meine Mutter für mich irgendetwas gebacken. Sie musste entweder krank oder urplötzlich sehr, sehr weise geworden sein. Im Gegensatz zu Jürgen war sie in den letzten Jahren deutlich gealtert. Darüber konnten auch ihr flotter Kurzhaarschnitt und ihre schlanke Figur nicht hinwegtäuschen. Man sah, dass sie zügig auf die fünfzig zuging. Es wäre schade, dachte ich so bei mir, wenn wir die nächsten Jahre nicht nutzen würden, gemeinsam Spaß zu haben.

»Bevor wir uns unterhalten, möchte ich, dass du mir eine Frage beantwortest«, begann meine Mutter. »Ist an dem Gerücht, dass da irgendetwas zwischen dir und Jürgen gelaufen ist, etwas dran, oder waren das deine Hirngespinste, die du da verbreitet hast?«

Noch bevor ich antworten konnte, schaltete meine Mutter den Mixer ein, der jedes Geräusch übertönte.

»Nein«, murmelte ich kaum hörbar. »Nein, da ist nichts dran.«

Ich saß im Auto und war auf der Autobahn zurück nach Hannover. Ich hatte die Wahrheit verkauft. Ich hatte mich selbst verkauft und verraten, mich der Lüge bezichtigt und Jürgen zum Heiligen geweiht. Ich hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, und ich hatte Angst. Panische Angst.

Der Nachmittag mit meiner Mutter war wunderschön gewesen. Sie hatte viel gelacht, und ihre Anspannung wich unübersehbar. Ich liebte meine Mutter, und ich liebte sie ganz besonders, wenn sie mit mir lachte und mir, wie heute, das Gefühl gab, gern mit mir zusammen zu sein. Es war ein Gefühl, das ich vermisst hatte, ein Gefühl, das ich irgendwie kannte, aber keiner realen Erinnerung zuordnen konnte. Heute konnte ich mein Gefühl einer Wirklichkeit zuordnen. Es hatte tatsächlich stattgefunden, und wieder und wieder holte ich mir ihr Gesicht, ihr Lachen, ihre Lebensfreude in mein Gedächtnis zurück. Ich berauschte mich an diesen Bildern und dachte, es könnte vielleicht ein einziges Mal auf dieser Welt tatsächlich egal sein, dass diese schönen Gefühle auf einer grauenvollen Lüge basierten. Einer Notlüge, wie ich fand, einer fast liebevollen Lüge, wie ich es in meinem Kopf und in meinen Gedanken verzweifelt zurechtkonstruierte. Vielleicht musste man im Leben auch einmal lügen, und vielleicht war der Preis der Wahrheit ein neues, ein viel schöneres Leben? Wenn der Preis der Wahrheit Mutterliebe war, dann musste es eben genau dieses Opfer sein. Den bitteren Beigeschmack schob ich vehement zur Seite.