________________KAPITEL 6________________

 

Ein Leopardenbett im Mädchenzimmer

 

E
s war gerade Frühlingsbeginn, als unser Klassenlehrer mit strahlender Miene in unsere Klasse kam und uns erzählte, dass er nach langem Suchen nun endlich eine vertrauenswürdige Institution gefunden habe, über die er uns Brieffreunde aus aller Welt vermitteln könne. Er händigte uns Fragebögen aus, in denen man alle wichtigen Angaben machen konnte, wie zum Beispiel Geschlecht und Nationalität des zukünftigen Briefpartners, Alterswunsch, Hobbys und Interessen. Ich wählte aus den angebotenen Ländern die Vereinigten Staaten von Amerika aus und trug ein: »... boy, age thirteen to fifteen years, must love dogs and horses.« Dann wartete ich mit meinen Freundinnen gespannt auf die Antwortbriefe, die da kommen sollten.

Noch vor den Osterferien trudelten die ersten Briefe aus Kanada, Irland, Großbritannien und vielen anderen Ländern ein. Die meisten von uns hatten Jungs als Briefpartner, was nicht verwunderte, waren wir doch bis zur Reformierten Oberstufe ein reines Mädchengymnasium. Das Interesse am anderen Geschlecht war schon lange erwacht, und daher hatten die meisten von uns »boy« angekreuzt. Die Fotos flatterten nur so aus den knisternden Luftpostumschlägen, und wir bogen uns vor Lachen, wenn die zunächst erwartungsvoll angespannten Mienen der Mädchen sich grimassenhaft verzogen, so als hätten sie gerade in eine Zitrone gebissen und nicht auf ein Foto geschaut. Was uns da so an Konterfeis entgegenblickte, war nicht unbedingt das, was wir erwartet hatten. Fairerweise muss man an dieser Stelle anmerken, dass wir alle relativ überzogene Vorstellungen hatten, wie nun ein kanadischer Junge oder ein britischer boy aussehen sollte. Diese Vorstellungen wurden von den Bay City Rollers oder den Teens geprägt, und Zeitschriften wie Bravo oder Mädchen sorgten fleißig für solche Träumereien.

Meine Enttäuschung, keinen Brief erhalten zu haben, war groß, und ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, als eines Morgens in den Ferien meine Mutter rief: »Wieso kriegst DUUUU Post aus Amerikaaaaa?«

Ich rannte ins Wohnzimmer, schnappte mir den blauen Umschlag und antwortete auf dem Weg in mein Zimmer: »Ist von so ʼner Brieffreunde-Gesellschaft. Das lief über die Schule.« Mit klopfendem Herzen öffnete ich den Umschlag und lugte vorsichtig hinein. Fotos! Gott sei Dank! Vorsichtig fischte ich die drei Fotos heraus und erstarrte zur Salzsäule. Ein absolut umwerfend aussehender Junge blickte mir direkt in die Augen, und Christine Al-Farziz schmolz das erste Mal in ihrem Leben dahin. Er hieß Greg, war vierzehn Jahre alt und kam aus Louisiana. In seinem Brief erzählte er von seiner Familie, seinen Geschwistern, seinem Collie und von American Football usw. ... Vier ganze Seiten auf dünnem blauen Luftpostpapier hatte Greg geschrieben, und noch vor dem Lesen der letzten Zeilen war ich hoffnungslos verliebt in ihn. Greg hatte weizenblondes, schulterlanges Haar, strahlend blaue Augen, die hinreißend lieb schauten, volle sinnliche Lippen und eine sportlich durchtrainierte Figur. Damals waren alle Mädchen verrückt nach David Cassidy, und ich hielt ein Foto in meinen Händen mit einem Jungen, gegen den David Cassidy nicht im Geringsten anstinken konnte. Mir war vollkommen klar, dass die Mädels allesamt vor Neid platzen würden, und ich freute mich wahnsinnig über so viel Glück!

Schon bald stellte sich heraus, dass Greg genauso schreibverrückt war wie ich und wir uns wunderbar verstanden. Keiner meiner Briefe blieb jemals unbeantwortet, und wenn ich »jemals« sage, dann meine ich das tatsächlich so.

Greg wurde fünfzehn, und ich war gerade dreizehn geworden, als unsere Brieffreundschaft begann. Tempotaschentücher, vollgesprüht mit My Melody, gingen auf die Reise in die Staaten und wurden mit Tempotaschentüchern, vollgesprüht mit Old Spice, beantwortet. Als ich damals in der Parfümerie unserer Stadt nach dem Herrenduft fragte, belächelten mich die eleganten Grazien nur müde und schickten mich mit einem mitleidigen Lächeln in die Drogerieabteilung von Karstadt. Dort wurde ich wenigstens fündig und schnüffelte begeistert an der Probeflasche.

Mein Tagebuch war gefüllt mit Träumen von Greg. Ich schwärmte davon, eines Tages nach Amerika zu fliegen, Greg kennen zu lernen und (natürlich) eine wundervolle Liebe zu entdecken, eine Familie mit ihm zu gründen und bis ans Ende meiner Tage glücklich als Mrs Greg Fremin verheiratet zu sein. Greg hatte mich auf den Fotos, die ich ihm im Laufe unserer Brieffreundschaft pfundweise zugeschickt hatte, als »wonderful ... most beautiful girl ... my dearest Christine« angehimmelt und beantwortete meine Luftschlösser mit ebensolchen großen. Gleichzeitig war Greg ein wundervoller Zuhörer, und in meinen Briefen schüttete ich ihm mein Herz aus, wie unerträglich mein Leben mit meiner Mutter und ihrem Freund sei. In seinen Antwortzeilen fand ich Trost und Zuspruch, aber auch Worte, die mir Mut machten und mich durchhalten ließen.

Greg ist heute verheiratet, hat zwei superniedliche Söhne und verdient seine Brötchen als Polizist auf der anderen Seite der Erdkugel. Er versieht seinen Dienst in Houston/Texas, und aus der einstigen Jugendliebe ist eine Freundschaft geworden, die nun seit siebenundzwanzig Jahren besteht und von beiden Seiten gehegt und gepflegt wird. Dank E-Mail und Internet brauchen wir nun nicht mehr lange auf Post zu warten, aber ein Treffen haben wir bis zum heutigen Tag nicht zustande gebracht. Ein jeder ist so verflochten in seiner Bewältigung des Alltags, und niemand weiß, wann wir einmal voreinander stehen und endlich auch miteinander REDEN können.

Die Brieffreundschaft wurde jedoch nicht lange geduldet. Jürgen und meine Mutter hatten sich eines Abends offensichtlich gegen mich verschworen und rückten aus heiterem Himmel mit einer »Offenbarung« heraus. Dieser Briefkontakt sei schädlich für mich, so begann Jürgen mit seiner typischen »Ich-mach-mir-ja-solche-Sorgen-um-dich«-Stimme. Natürlich hatte er auch flugs eine Begründung parat.

»Du hast dich sehr zum Nachteil verändert, Christine«, meinte er. »Du läufst herum wie eine aufgeblasene Gans. Dieser Greg ist doch nur ein Schmalzbubi. Schau ihn dir doch mal an. Der ›knackt‹ doch eine nach der anderen, und du fällst auf sein Gesülze herein. Ich hatte dich wirklich für schlauer gehalten und bin ein wenig enttäuscht von dir!«

Ich war mal wieder in einer ausweglosen Situation: Jürgens Gerede ging mir furchtbar auf die Nerven, und noch bevor er seine Moralpredigt beendet hatte, wusste ich bereits, dass es für die Zukunft ratsamer war, Greg die Adresse von Dana zu geben und ihn zu bitten, seine Briefe zu ihr zu schicken. Egal, was Jürgen und meine Mutter auch erzählten, ich würde diesen Kontakt mit Sicherheit nicht abbrechen.

Ich schwieg, während die Worte an mir vorbeiflogen. Ich dachte nach. Wenn die beiden schon derartig hysterisch auf eine Brieffreundschaft reagierten, was erst würden sie sagen, wenn sie mit einem viel präsenteren »Problem« konfrontiert würden? Einem Jungen, der nicht in Amerika wohnte und dem ich nicht nur Briefe schreiben wollte?

Zeitgleich mit dem ersten Brief von Greg hatte ich einen Jungen aus der Nachbarschaft entdeckt, der wahnsinnig schüchtern war und sich bislang nur traute, mich winkend zu grüßen, wenn er mit seiner blauen Kreidler-Flory an mir vorbeifuhr. Ich wusste von einer Freundin, dass er Peter hieß, fünfzehn Jahre alt war und jetzt nach den Sommerferien eine Lehre beginnen sollte. Peter war blond wie Greg und hatte ebenfalls ein ganz liebes Gesicht. Ich wollte mich unbedingt mit ihm treffen und ihn kennenlernen und fühlte mich geschmeichelt, wie er mir auf eine nette und zurückhaltende Art zeigte, dass er mich interessant fand.

»Christine! Wiederhol gefälligst, was ich dir gerade gesagt habe!«, schrie meine Mutter mich an und riss mich aus meinen Gedanken.

»Ja klar«, murmelte ich und hatte nicht den leisesten Schimmer. Bestimmt sollte ich den Kontakt abbrechen, was anderes kam gar nicht in Frage. »Du hast gesagt, ich solle den Kontakt zu Greg abbrechen«, probierte ich mein Glück.

»Richtig«, antwortete meine Mutter mit leichtem Erstaunen im Gesicht. »Wir warten auf eine Antwort!«

»Was soll ich sagen?«, begann ich. »Wenn ich ihm weiter schreibe, gibtʼs wieder Theater, und vermutlich schmeißt du seine Briefe dann sowieso weg, noch bevor ich sie lesen kann. Dann kann ich gleich aufhören, ihm zu schreiben.«

»Christine!«, rief Jürgen mit freudiger Stimme. »Das ist ja mal eine Überraschung, dass es jetzt keine langen Diskussionen gibt, sondern du einsiehst, dass wir nur nicht zusehen wollen, wie du in der Gosse landest. Man merkt ja doch, dass du langsam älter wirst.«

Es war vorbei. Jürgen und meine Mutter schienen sich ihrer Sache sicher zu sein und hielten die Überprüfbarkeit meiner Zusage zu diesem idiotischen Verbot für todsicher. Schließlich brauchten sie nur in den Briefkasten zu schauen. Als ich im Bett lag, kreisten meine Gedanken unermüdlich. Es gab keinen Grund, mir wegen einer Brieffreundschaft mit einem Amerikaner die moralische Apokalypse vorauszusagen. Keineswegs, so fand ich, benahm ich mich wie eine aufgeblasene Gans, sondern ich empfand mich eher als völlig verunsichert. Gregs Worte »you are the most beautiful girl Iʼve ever seen« hatten wie Hohn in meinen Ohren geklungen, und in meinem Antwortbrief hatte ich ihn mehrmals gefragt, ob er sich einen schlechten Scherz mit mir erlaube. Erst weitere Beteuerungen in nachfolgenden Briefen hatten mich versöhnlich gestimmt. Warum also, so grübelte ich, empfanden Jürgen und meine Mutter Greg als Gefahr für meine »moralische Wertigkeit«? Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: Sie hatten mein Tagebuch gelesen. Sie MUSSTEN mein Tagebuch gelesen haben, denn erst vorgestern hatte ich darin geschrieben, dass ich davon geträumt hatte, mit Greg zu schlafen. Mein Gott, wie peinlich! Ich fuhr aus meinem Bett hoch und kramte mein Tagebuch hervor. Zwar lag es an derselben Stelle wie immer, doch ich hatte den Eindruck, dass ich es genau umgekehrt in die Schublade gelegt hatte.

Als ich dann merkte, dass das Lesezeichen nicht auf der letzten beschriebenen Seite war, sondern das rote Bändchen genau eine Seite zu weit eingelegt worden war, wusste ich, dass ich Recht hatte. Jürgen und meine Mutter hatten tatsächlich mein Tagebuch gelesen.

Mir wurde schlecht. Die Übelkeit war schier unerträglich, und immer wieder presste ich die Lippen aufeinander und bemühte mich darum, tief und regelmäßig einzuatmen. Ich war außer mir vor Wut. Ich hasste sie beide, und im Geiste lag ich auf dem feuchten Teppichboden im Badezimmer unserer alten Wohnung und spürte den harten Griff meiner Mutter auf meinen Oberschenkeln. »Du stinkst«, hörte ich sie sagen, und als ich mein Tagebuch zurück in meine Schublade legte, war das Gefühl der Nacktheit so präsent, dass ich mich nur noch in meine Decke einrollen wollte. Sterben wäre jetzt schön, dachte ich und schlief über diesen Hoffnungsschimmer ein.

In mein Tagebuch schrieb ich am nächsten Tag einen Brief an Greg.

 

Lieber Greg,

 

ich fühle mich total beschissen. Ich habe eine richtige Depression. Wenn ich könnte, würde ich mich jetzt glatt umbringen. Wenn mir jetzt jemand Schlaftabletten geben würde, ich würde sie bestimmt nehmen. Ich weiß nur nicht, wo dann Bobby bleiben sollte. Wenn er nicht wäre ... Ich sehe einfach keinen Sinn mehr darin, noch weiterzuleben. Nur um mich dauernd von allen Seiten anscheißen zu lassen? Nein! Hätte ich das vor meiner Geburt gewusst, ich hätte mich gehütet, ein Leben überhaupt erst anzufangen! Ich weiß nicht, was ich machen soll.

Deine Christine

 

In der Schule erzählte ich meinen Freundinnen von dem gestrigen Abend. Sie schimpften und wetterten, und Gitta hatte die rettende Idee. »Du packst dein Tagebuch gleich morgen früh ein und bringst es mit in die Schule. Du kannst ja im Reli-Unterricht oder in Geschichte da reinschreiben, und einer von uns nimmt es dann mit nach Hause. Wir bringen dir dein Tagebuch jeden Morgen wieder mit, und verlass dich drauf, DANN wird es bestimmt von niemandem gelesen. Versprochen!«

Meine Freundinnen taten mir so gut. Ich liebte sie wie Schwestern und wusste, dass auf alle Verlass war. Ich schüttete mein Herz aus wegen der Sache mit Peter und erklärte, dass ich panische Angst hätte, dass Peter grüßen könnte, wenn meine Mutter dabei sei. Das wäre natürlich die Katastrophe schlechthin.

»Schreib ihm einen Brief«, schlug Anka vor. »Schreib ihm, dass du ihn gern kennen lernen würdest, er dich aber bloß nicht grüßen soll, wenn deine Mutter dabei ist.«

Als ich auf dem Heimweg von der Schule nach Hause meinen Brief bei Peters Eltern in den Briefkasten warf, fühlte ich mich mächtig erleichtert. Gleichzeitig hatte ich ihm vorgeschlagen, sich mit mir zu treffen, wenn ich mit dem Hund Gassi gehen musste. Peter und ich trafen uns zwei, drei Male heimlich und schafften es bis zum romantischen Händchenhalten. Bei diesem letzten Treffen hatte mir Peter eine kleine silberne Kette mit dem Schriftzug »I love you« geschenkt und einen zaghaften Kuss auf die Wange gedrückt. Noch bevor ich mich in Peter verlieben konnte, flog die ganze Geschichte auf, weil ich mein Tagebuch in meiner Schultasche vergessen hatte und Dana und ich an die Übergabe nicht mehr gedacht hatten. Der Streit zwischen mir und meiner Mutter tobte wie üblich, und ich hatte wieder den Verlust einiger Haarbüschel zu beklagen. Meine Mutter setzte in diesem Streit eine Drohung ein, die meinen Hass auf sie nur noch weiter schürte. Sie hatte mir zunächst angedroht, mich in ein Internat zu schicken. Sie schien offensichtlich überfordert gewesen zu sein, als ich sie glaubwürdig völlig begeistert anschrie, dass ich GERN ins Internat gehen würde und sie mir den größten Gefallen damit erweisen könnte. Ich war in meiner Wut so grenzenlos ehrlich, dass ich keinen Hehl daraus machte, dass ein Internat für mich die totale Befreiung sei und ich froh wäre, wenn ich wenigstens einmal am Tag meine völlige Ruhe hätte, denn in den Internaten gäbe es das so genannte »Silencio«.

»Tuʼs doch endlich!«, schrie ich sie an, und meine Mutter stürzte sich als Antwort wieder wütend auf mich und drosch auf meinen Kopf ein.

»Ich sage dir, was ich tun werde«, giftete sie. »Ich werde deinen Vater anrufen und ihm mitteilen, dass du ab sofort bei ihm wohnen wirst. Such dir schon mal einen guten Chirurgen.«

Jürgen schlichtete am Abend unseren Streit. »Das war aber schäbig von dir, Gundis, so etwas zu deiner Tochter zu sagen«, kritisierte er meine Mutter. Zu mir gewandt fragte er ausführlich, was für ein Typ denn dieser Peter sei, und beteuerte zugleich, dass weder er noch meine Mutter jemals mein Tagebuch angefasst hätten, denn einen solchen Vertrauensbruch könne er bestimmt nicht dulden. »Wenn, dann erfahren wir solche Sachen immer von anderer Seite, niemals aber aus deinem Tagebuch, Christine. Das schwöre ich, so wahr ich hier stehe!« Ich wusste nicht mehr, was und wem ich glauben sollte. Eine innere Stimme sagte mir, dass er gerade gelogen hatte, aber ein Beweis fehlte mir. Wieder einmal schlug er sich auf meine Seite, und statt weiter auf das Thema Peter einzugehen, erzählte mir Jürgen urplötzlich, dass er dringend Hilfe in seiner Fabrik bräuchte und bereit wäre, mir das Doppelte an Stundenlohn zu zahlen, als das im Lädchen der Fall war.

»Gundis«, redete er auf meine Mutter ein, »Gundis, du kannst dir nicht vorstellen, wie dämlich diese Arbeiterinnen sind. Außerdem arbeiten die alle unglaublich langsam, und Christine ist fleißig und hat eine schnelle Auffassungsgabe. Ich brauche sie dringend in meiner Firma für die Herstellung von Prototypen. Wenn Christine ein paar von diesen Spulen gewickelt hat, dann kann ich den Arbeiterinnen ordentliche Zeitvorgaben machen, verstehst du das denn nicht?«

Meine Mutter nickte devot.

»Christine, was sagst du dazu? Neun Mark pro Stunde, und du kannst dir die Zeit frei einteilen. Am besten kommst du nach fünf Uhr, wenn die Arbeiterinnen Feierabend machen, dann kannst du der Mami ein bisschen im Haushalt helfen, dich um Bobby kümmern und kommst danach zu mir in die Firma, ja?«

Ich nickte. Neun Mark pro Stunde waren ein kleines Vermögen, und ich wollte mir unbedingt ein Mofa kaufen, weil ich es leid war, ständig mit dem Fahrrad die Einkäufe durch die Gegend zu schaukeln. Bis zu meinem fünfzehnten Geburtstag hatte ich noch über ein Jahr, und bis dahin hätte ich mit Sicherheit das Geld zusammen.

»Außerdem«, so setzte Jürgen noch nach, »außerdem weißt du dann, Gundis, wo Christine ist, und musst nicht mehr befürchten, dass sie durch die Gegend flippt!«

Meine Mutter nickte noch einmal und schien gänzlich überzeugt zu sein. Ich war gespannt, was auf mich zukommen würde, und wild entschlossen, mein Bestes zu geben. Mit diesem Job brauchte ich keine Bierkästen mehr zu schleppen und den ollen Joghurt im Kühlregal zu stapeln. Außerdem könnte ich dann an den Samstagen endlich mal länger schlafen und bräuchte nicht mehr um halb fünf in der Frühe aufzustehen. Das Angebot von Jürgen war einfach perfekt.

Das Schützenfest in unserer Stadt war immer der Vorbote der bevorstehenden großen Sommerferien und stellte eines der wenigen Highlights des Jahres dar. In diesem Jahr hatte ich es noch im letzten Moment geschafft, mich mittels Ausreden und Notlügen für einige Stunden von zu Hause loszumachen und mich mit meinen Freundinnen auf der Kirmes zu treffen. Jürgen drängte darauf, dass ich in seiner Firma arbeiten sollte, und ich schob die Sache hinaus und begründete es mit Schulstress und dem bevorstehenden Versetzungszeugnis. Offiziell war ich bei meiner Großmutter, und Oma hatte versprochen, für die nächsten drei Stunden nicht ans Telefon zu gehen. Die Sorge, dass meine Mutter bei Oma aufkreuzen würde, brauchten wir nicht zu haben, denn das Verhältnis zwischen den beiden war auf den Gefrierpunkt gesunken.

Mit Dana, Anka und Carla traf ich mich am Autoskooter. Nachdem wir das Hula-Hoop und den Affenkäfig als neueste Kirmesattraktion ausprobiert und für gut befunden hatten, zogen wir weiter zum Zelt des Schützenpaares. Carlas Eltern waren als Ehrengäste dort, und Carlas Vater musste als Brauereidirektor die gute Qualität seines Bieres fleißig demonstrieren. Carla bekam noch flugs einen Schein zugesteckt, und ihre Mutter bedachte uns alle mit überschwänglichen Küsschen auf unsere Wangen. Wenn Carlas Mutter etwas getrunken hatte, wurde sie immer herzlicher und lustiger, aber sie war bei uns Mädels aufgrund ihrer frischen Art sowieso sehr beliebt.

Beim Verlassen des Zeltes wurde ich auf einmal von einem der zahlreichen Motorradfahrer, die dort ihren Treffpunkt hatten, angesprochen. Ich sei aber eine sympathische Maus, sagte der Typ und lächelte mich freundlich an. Meine Freundinnen kicherten, und ich grinste verlegen. Da ich keine Antwort parat hatte, ging ich einfach weiter und wurde dementsprechend mit Vorwürfen bombardiert.

»Der sah doch supernett aus!«, rief Carla entgeistert, und Anka pflichtete bei: »Und das Motorrad war spitze!«

»Der ist doch viel zu alt«, entgegnete ich entrüstet und setzte nach: »Mindestens achtzehn, wenn ihr mich fragt!«

Meine Freundinnen verstanden die Welt nicht mehr. Ein volljähriger Motorradfahrer war doch »ein echter Knaller«, und für meine Freundinnen bestand der Altersunterschied lediglich aus zwei bis drei Jahren. Alle waren bereits fünfzehn und Dana und Gitta schon sechzehn, und ich war mit meinen Noch-Dreizehn das Küken der Truppe.

»Was möchtest du trinken?«, fragte eine liebenswerte Stimme direkt neben mir, als wir am Bierstand standen.

Oh Gott! Mir wurde heiß und kalt!

Der Motorradfahrer blickte mir direkt in die Augen und sagte: »Keine Angst! Ich wollte nur wissen, wie du heißt und ob ich dir auch eine Cola bestellen soll?«

Die Mädels tuschelten und kicherten unentwegt, und es war mir alles schrecklich peinlich.

Der Nachmittag mit Werner verging im Nu. Werner war nett, unterhaltsam und witzig, und mein Herz schmolz dahin. Irgendwie hatte der Typ Ähnlichkeit mit Pierre Brice, und in seinem linken Ohrläppchen steckte ein kleiner Brilli, was ihm ausgesprochen gut stand. Wir vereinbarten für den nächsten Tag ein Treffen, und meine Freundinnen schlugen vor, durch einen Anruf bei meiner Mutter meine Abwesenheit möglich zu machen.

»Mach dir keine Sorgen!«, rief mir Carla fröhlich nach, »Punkt halb drei rufe ich bei euch an und frage deine Mutter, ob du mir für die Englischarbeit die if-Sätze erklären kannst, okay?«

Und ob das okay war!

Unser Plan ging auf, und mit dem Fahrrad und Bobby im Körbchen strampelte ich am nächsten Tag um kurz nach halb drei in Richtung Treffpunkt. Meine Mutter hatte die Angewohnheit, mir ständig und überall den Hund aufs Auge zu drücken, so als ob Bobby verhindern könnte, dass ihre Christine Blödsinn machte. Es gab praktisch niemanden, der Bobby nicht kannte, und ich mutierte zu »dem Mädchen mit dem kleinen schwarzen Hund«. Der Nachmittag mit Werner war wunderschön. Die Sonne lachte, und mit Bobby auf dem Arm saß ich hinten auf Werners Suzuki und kurvte mit ihm durch die Serpentinen der Waldburg. An einer Lichtung hielten wir an, setzten uns auf eine Bank und schwatzten, was das Zeug hielt. Werner hatte gerade seine Lehre als Zweiradmechaniker beendet und arbeitete in seinem Lehrbetrieb nun als Geselle. Er war begeistert, als er hörte, dass ich selbst Motorrad fuhr, und lud mich ein, zusammen mit seiner Motorradtruppe am Wochenende einen Ausflug zu machen. Ich wiegelte entsetzt ab und erläuterte ihm meine Situation. Werner schaute mich mitfühlend an und fragte, ob es nutzen würde, wenn er mit meiner Mutter sprechen würde, und an seiner lieb gemeinten Frage stellte ich fest, dass Werner nicht wirklich begriffen hatte, was bei uns Standard war.

Als ich am späten Nachmittag nach Hause kam, begrüßte mich meine Mutter mit den Worten: »Was glotzt du eigentlich so dämlich, Christine? Ist irgendwas?«

Ich muss meine Mimik besser unter Kontrolle halten, schoss es mir durch den Kopf. Offensichtlich sah man mir meilenweit an, wenn ich verliebt war, und künftig trainierte ich vor unserer Wohnungstür, ein gleichgültig gelangweiltes Gesicht aufzusetzen.

»Jürgen und ich fahren heute Abend nach Bad Neuenahr ins Spielcasino. Wir haben unseren Jahrestag, und du schläfst gefälligst bei deiner Großmutter«, gellte die Stimme meiner Mutter durch die Wohnung. »Pack schon mal deine Sachen, und verschwinde dann!«

Überglücklich stopfte ich alles Nötige in meine Schultasche und radelte mit Bobby zu meiner Oma. Ich war extrem aufgeregt, denn in meinem Kopf schmiedete ich bereits einen Plan. Oma und Uroma gingen zeitig ins Bett, und bestimmt würde sich eine Gelegenheit bieten, irgendwie aus dem Haus zu gelangen und zu Werner zu laufen. Er hatte mir erzählt, dass er sich am Abend noch mit seinen Freunden in einer Kneipe treffen wollte, und ich fand, dass ich ihm mit meiner Überraschung zeigen konnte, dass ich immer Mittel und Wege finden würde, mich mit ihm zu treffen. Ich war schrecklich verliebt und hatte Angst, dass Werner sich von mir abwenden könnte, wenn er erkennen musste, mit wie vielen Schwierigkeiten eine Freundschaft verbunden sein würde.

Als meine Großeltern im Bett lagen, war es bereits einundzwanzig Uhr. Die beiden alten Damen hatten einen leichten Schlaf, und ich hatte die knarrenden Dielen im Flur nicht bedacht. Das Zimmer, in dem ich schlief, war eigentlich das Esszimmer von Oma, aber sie hatte schon vor Jahren eine Schlafcouch hineingestellt, damit ich dort übernachten konnte. Das Zimmer hatte einen Balkon zur Straße hin, und die Höhe war nicht besonders beängstigend. Die letzten Zweige der hohen Rhododendronbüsche stießen an die Regenrinne am unteren Ende des Balkons, und die Mieter im Erdgeschoss hatten die Rollläden bis unten hin heruntergelassen. Runterzukommen, war nicht das eigentliche Problem, sondern die Frage, wie ich wieder ins Haus gelangen sollte, beschäftigte mich sehr. Mein Entschluss stand fest. Ich zog das Bett ab und verknotete das Bettlaken mit dem Bettbezug. Beides zurrte ich am Balkongeländer fest und begann den Abstieg. Es war ein Kinderspiel. Außer mir vor Freude lief ich durch die Straßen und rannte, so schnell ich konnte, zu der Kneipe in der Stadtmitte. Als Werner mich sah, strahlte er über das ganze Gesicht. Er schloss mich in seine Arme, bestellte mir etwas zu trinken und schüttelte grinsend den Kopf, als ich ihm erzählte, wie ich das Haus meiner Großeltern verlassen hatte. »Du wildes Mädchen«, sagte er zärtlich zu mir und küsste mich behutsam auf die Stirn. Mein Gesicht lag in seinen Händen, und ich fühlte mich wohl und geborgen. Werner war ein lieber Mensch, das spürte ich. Es war Mitternacht, als wir die Kneipe verließen. Werner fuhr mit seiner Maschine nur bis zum Anfang der Straße, in der meine Oma wohnte. Das letzte Stück gingen wir lieber zu Fuß, denn die Suzuki machte einen Höllenlärm, und wir wollten verständlicherweise niemanden wecken.

»Sei bloß vorsichtig, Christine«, wisperte Werner und schaute mit besorgtem Blick zu, wie ich mich an dem Bettlakenseil an der Hauswand hochhangelte.

Als ich oben war, lachte er leise und sagte: »Du bist nicht nur ein wildes Mädchen, du bist auch noch ein Äffchen!« Er warf mir einen Luftkuss zu und machte sich auf den Weg zu seiner Maschine.

In der Dunkelheit hörte ich das laute Brummen seines Motorrades, und ich ging erst wieder ins Zimmer, als das Brummen in der Ferne verstummt war. Alles schien gut gegangen zu sein, und im Haus herrschte absolute Stille. Ich bezog das Bett wieder und schrieb meine Gefühle für Werner auf über vier Seiten in meinem Tagebuch nieder. Erst dann konnte ich einschlafen, und meine Gedanken waren bei »meinem« Werner.

 

Als ich am nächsten Morgen zur Schule ging und die Hauswand unterhalb des Balkons sah, durchfuhr mich ein Riesenschreck! An alles hatte ich gedacht, nicht aber daran, dass der nächtliche Bodentau meine Schuhe verdreckt hatte und drei deutlich zu erkennende Fußabdruckspuren an der blütenweißen Hauswand zu sehen waren. Das war mein Todesurteil. Ich war mir sicher, dass Oma mich nicht verraten würde, aber das Haus meiner Großeltern lag direkt in der »Einflugschneise« von der Schule meiner Mutter zu unserer Wohnung! Meine Mutter, davon war ich felsenfest überzeugt, würde eins und eins sofort zusammenzählen, und dann gäbe es ein Riesentheater bei uns zu Hause. Und natürlich. Es kam, wie es kommen musste. Zwar war meine Mutter mittags nicht diese Strecke gefahren, wohl aber am frühen Abend, als sie mit Bobby auf dem Weg zu einer Freundin war, mit der sie neuerdings abends immer spazieren ging. Mitten in dem sich wieder einmal eskalierenden Streit rief Jürgen plötzlich an und hörte, dass zwischen meiner Mutter und mir das Kriegsbeil ausgegraben worden war. Ich bekam mit, dass er unverzüglich zur Wohnung kommen wollte, und meine Mutter stand mit hasserfüllten Augen und außer sich vor Wut vor mir. Ich blutete heftig aus der Nase und bemühte mich, mit unzähligen Taschentüchern den Teppichboden mit meinen Blutspuren zu verschonen, weil mir nun gar nicht nach Putzen zumute war.

Endlich! Die Haustür öffnete sich, und Jürgen trat ein. Er blieb wie angewurzelt im Flur stehen und sah meine Mutter mit tiefer Verachtung an. »Ist es denn nicht möglich, Gundis, dass ich mich ein Mal, nur ein einziges Mal, auf dich verlassen kann? Wir hatten doch ausführlich am Telefon darüber gesprochen«, schnauzte Jürgen meine Mutter an.

Ich verstand. Jürgen wusste bereits von meinem nächtlichen Ausflug und hatte meine Mutter offensichtlich gebeten, ihre Emotionen im Zaume zu halten und zu warten, bis er dieses Gespräch mit mir führen konnte. »Lass mich mit Christine alleine! Du machst alles nur noch schlimmer! Verstehst du das nicht?«

Mit hängendem Kopf ging meine Mutter ins Wohnzimmer. Jürgen setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl und deutete mir mit einer Geste an, dass ich mich auf mein Bett setzen sollte. Ich heulte und schniefte. Es war besser, sofort ehrlich zu Jürgen zu sein, und so erzählte ich ihm ausführlich, warum ich mich in Werner verliebt hatte und wer dieser junge Mann war. Jürgen schüttelte besorgt den Kopf. »Christine! Dieser Werner gehört zu einer Rockergang und ist vorbestraft. Außerdem ist er bekannt dafür, dass er nichts anderes im Sinn hat, als die jungen Mädchen zu ›knallen‹! Hast du mit ihm geschlafen?«

Entgeistert starrte ich Jürgen an. »Wie kommst du denn darauf?«, stieß ich entsetzt hervor und beteuerte meine Unschuld im wahrsten Sinne des Wortes.

»Wenn du deine Mami beruhigen willst, dann musst du morgen mit ihr zum Frauenarzt und dich untersuchen lassen. Sie wird dir erst dann glauben, wenn der Dr. Kappenstein ihr bestätigt, dass du noch Jungfrau bist. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Du weißt doch, wie sie ist, und wenn ich dir helfen soll, dann musst du ihr beweisen, dass du mir gegenüber nicht gelogen hast. Ist doch logisch, oder?«

Ich nickte stumm, und Verzweiflung machte sich in mir breit. Ich fand es entsetzlich erniedrigend, mit meiner Mutter zu Dr. Kappenstein zu gehen und mir anhören zu müssen, wie sie ihn bitten würde, mich verkommenes Mädchen auf meine Jungfräulichkeit hin zu untersuchen. Ich kannte Dr. Kappenstein, weil ich durch das Schwimmtraining gelegentlich mit Pilzinfektionen zu kämpfen gehabt hatte, aber eine richtige gynäkologische Untersuchung hatte der Arzt noch nicht bei mir durchgeführt, sondern lediglich mit einem Wattestäbchen vorsichtig einen Abstrich entnommen.

»Und hör genau zu, Christine! Du versprichst mir, ab sofort nicht mehr mit Jungs herumzumachen, ist das klar?«

Wieder nickte ich. Meine Situation war chancenlos, und ich würde Carla bitten müssen, mit Werner zu sprechen und ihm alles zu erklären. Die Tränen flossen unaufhaltsam, und Jürgen legte seine Hand auf meine Schulter.

»Es wird alles gut, Christine. Ab morgen kommst du zu mir in die Firma, und ich verspreche dir, dass ich deine Mutter in Schach halte, okay?«

Ich nickte ein drittes Mal und drückte Bobby fest an mich. Der kleine Hund schien es immer zu spüren, wenn es mir schlecht ging, und leckte mit stoischer Ruhe meine salzigen Tränen von meinen Händen.

 

Nach der Schule musste ich mich mit meiner Mutter in der gynäkologischen Praxis von Dr. Kappenstein treffen. Meine Freundinnen waren entsetzt und erschrocken gewesen und hatten in den Unterrichtspausen am Morgen immer wieder versucht, mir Mut und Trost zuzusprechen. Gitta und Dana als die Ältesten regten sich unglaublich über meine Mutter auf, und für alle war klar, dass diese perverse Idee nur von ihr kommen konnte. Jürgen, das sahen auch meine Freundinnen so, schien der einzig Normale in unserer Familie zu sein, und nur er, so waren wir uns sicher, konnte diese Frau von mir fernhalten. »Ich habʼs schon immer gesagt«, schimpfte Gitta, »deine Mutter ist krank. Die ist wirklich verrückt und hat eine echte Vollmeise.«

Nichtsdestotrotz, ich musste zur Praxis.

Mit versteinerter Miene erklärte meine Mutter Dr. Kappenstein ihr Anliegen und übersah in ihrer selbstherrlichen Überzeugung seinen skeptischen Blick.

Die warmen Augen, die über die Goldrandbrille lugten, schauten mich an, und unmerklich nickte mir der Arzt zu. »Dann kommen Sie mal, junges Fräulein«, sagte er mit bestimmtem Ton und schob mich in den Untersuchungsraum. Als er die Tür geschlossen hatte, setzte er sich auf einen kleinen runden Hocker und bat mich, auf dem Untersuchungsstuhl Platz zu nehmen. »Was ist denn bei euch los?«, fragte er kopfschüttelnd, und heulend berichtete ich ihm davon, dass es jedes Mal ein unglaubliches Theater gäbe, wenn ich mich mit einem Jungen verabreden würde. Ich erklärte ihm, dass Werner zwar schon achtzehn Jahre alt sei, aber mich noch nicht einmal geküsst hätte. Der Arzt hörte geduldig zu und sagte kein Wort. Bei der Untersuchung gab er sich große Mühe, mir nicht wehzutun. Vorsichtig führte er die Instrumente ein und fragte mich, ob ich Sport treiben würde. Ich erzählte ihm, dass ich bei Körber geritten sei, und Dr. Kappenstein schien erfreut zu sein. »Ich habe mein Pferd bei Körbers stehen. Eine wunderschöne Fuchsstute. Sie heißt Sissy. Wenn du Zeit und Lust hast, rufst du einfach hier in der Praxis an, und dann kannst du Sissy gerne mal putzen!«

»Wenn wir jetzt gleich mit deiner Mutter sprechen, dann möchte ich, dass du einfach den Mund hältst, hast du verstanden?«

»Warum?«, fragte ich, und der Arzt antwortete lächelnd: »Weil du kein Jungfernhäutchen mehr hast und das oft vorkommt, dass gerade bei den Mädchen, die reiten oder die sehr viel Sport treiben, das Hymen, so nennt man das Jungfernhäutchen, reißt, ohne dass das zu spüren ist. Wenn ich DAS deiner Mutter sage, dann hast du schlechte Karten, oder?«

Im Gespräch mit meiner Mutter erklärte Dr. Kappenstein mit fachlich kompetenter Stimme, dass er mich sehr sorgfältig untersucht habe und keine Anzeichen habe feststellen können, dass ich bereits mit einem Mann Verkehr gehabt hätte. Er drückte mir zum Abschied fest die Hand, und die Prozedur hatte ein Ende. Dr. Kappenstein schien einer der normalen Menschen in meinem Umfeld zu sein, und ich war ihm sehr dankbar für seine diskrete Art der Formulierung. Er hatte es geschafft, mir trotz der gynäkologischen Untersuchung ein Stück meiner Ehre und Intimität zu belassen und gleichzeitig meiner Mutter eine befriedigende Antwort zu geben. Geblieben ist jedoch die Erinnerung an das Gefühl der Scham und Hilflosigkeit bei dieser Untersuchung und ihr beabsichtigter Zweck. Jedes Mal, wenn ich heute zum Frauenarzt gehe, muss ich unwillkürlich an Dr. Kappenstein und meine Mutter denken und mich konzentrieren, um bei den Untersuchungen nicht zu verkrampfen.

Am Nachmittag fand ich mich entsprechend meiner Zusage in Jürgens Firma an meinem neuen Arbeitsplatz ein. Der stark übergewichtige und ewig schwitzende Betriebsleiter, Erwin Pluger, musterte mich mit gierigem Blick. Ich stand neben einer der großen Wickelmaschinen und sehnte Jürgens Eintreffen herbei. Erwin starrte mich unentwegt an und glotzte auf meine braunen schlanken Beine. Es war Juli und mächtig heiß, und so trug ich lediglich knappe Shorts und ein T-Shirt.

»Erwin«, ertönte die dunkle Stimme von Jürgen aus den großen Fluren. »Du kannst Feierabend machen. Ich erkläre Christine selber, wie sie die Spulen zu wickeln hat. Und grüß Maria von mir! Habt ihr nicht bald Hochzeitstag?«

»Ja, nächstes Wochenende«, antwortete Erwin mit verächtlicher Stimme. Es war nicht zu überhören, dass ihn die Ehe mit seiner Maria anwiderte.

Ich fand diesen Kerl einfach nur ekelhaft. Als Erwin weg war, stöhnte ich laut auf und sagte lachend zu Jürgen: »Bin ich froh, dass der weg ist! Mit diesem Mann fühle ich mich absolut nicht wohl.«

»Ich hoffe, dass das bei mir nicht so ist.« Jürgen lachte mich an und streichelte meine Schulter. »Ich habe übrigens noch nie jemanden hier sitzen gehabt, der so schnell begriffen hat, wie die Spulen zu wickeln sind. Diese hier haben nämlich vier verschiedene Kupferdrahtstärken, und die meisten anderen haben nur zwei, maximal drei unterschiedliche Lagen. Ich bin beeindruckt, Christine.«

Stolz saß ich an diesem Monstrum von Maschine und wickelte eine Spule nach der anderen. Zum Schutz der Finger hatte mir Jürgen gezeigt, wie man mit Isolierband das jeweils mittlere Gelenk an den Zeige- und Mittelfingern umwickelte, damit man sich nicht an den Drähten schnitt. Für meinen Geschmack saß er zu eng neben mir, aber weil Jürgen so vertieft in seine Aufgabe war, akzeptierte ich die Nähe und verwarf jeden weiteren Gedanken.

Am Ende meines ersten Arbeitstages hatte ich von siebzehn bis zwanzig Uhr gearbeitet und eine akzeptable Anzahl von Spulen gewickelt.

»Die Frauen werden aber sparsam aus der Wäsche schauen, wenn ich Ihnen morgen die Zeitvorgaben mache«, scherzte Jürgen. Er strahlte mich an und sagte: »Weißt du eigentlich, WIE wichtig das ist? Die sollen sich ja schließlich nicht ausruhen, sondern arbeiten, oder?«

Ich nickte beifällig. Das Gefühl, etwas so Wichtiges hier in Jürgens Firma zu machen, war ein tolles Gefühl! Es war eine angenehme Arbeit, weil man sich konzentrieren musste und die verschiedenen Arbeitsabläufe immer schneller beherrschte, je mehr Spulen man wickelte. Die Zeit war verflogen, und ich fühlte mich nicht so, als ob ich drei Stunden gearbeitet hätte.

»Ich bringe dich schnell nach Hause«, sagte Jürgen.

Ich protestierte. »Ich brauch doch nur über das Gelände hinter dem Versand zu gehen, und schon bin ich am Gartenzaun!«

Jürgen hob den Telefonhörer ab und wählte, ohne zu antworten, eine Nummer. »Gundis«, begann er eine Spur zu freundlich, »Gundis, das klappt super mit Christine. Wir haben noch kurz zu tun und sind in einer halben Stunde zu Hause. Ich mache dann auch Feierabend. Bis gleich.«

»So!« Jürgen grinste. »Wir beide fahren jetzt nach Hagen in die Eisdiele, da gibt es das weltbeste Eis!«

Nach Hagen? Nie im Leben würden wir in einer halben Stunde zu Hause sein, wenn wir jetzt nach Hagen führen, schoss es mir durch den Kopf.

»Möchtest du ein Spaghettieis oder Vanilleeis mit heißen Himbeeren?«, fragte Jürgen euphorisch.

Ich aß beides furchtbar gern und musste tatsächlich überlegen.

»Jetzt pass auf, Christine! Der Jaguar fährt über zweihundert Sachen, aber mit der Mami kann ich nicht so schnell fahren, die macht sich vor Angst immer in die Hosen. Sag mir jetzt nicht, dass du auch so ein Schisser bist!«

Entrüstet verneinte ich. Ich fuhr tatsächlich gern schnell, und sehr viel rasanter als die Fahrten im Peugeot mit meinem alkoholisierten Vater konnte diese Fahrt auch nicht werden. »Boah, ist das stark!«, rief ich begeistert, als Jürgen mit dem Jaguar über die Autobahn schoss. »Man merkt ja gar nicht, dass man so schnell fährt.«

»Hier! Schau selber nach«, erwiderte Jürgen. »Wir sind schon über zweihundert!«

Ich beugte mich zu ihm hinüber, um einen Blick auf den Tacho zu werfen. Es stimmte tatsächlich. Zweihundertzehn und noch kein Ende in Sicht. Was für ein tolles Auto!

Als Jürgen auf dem kurzen Fußweg zur Eisdiele seine Hände um meine schmalen Hüften legte, tuschelte er mir ins Ohr: »Guck mal, wie die alle glotzen. Die denken wahrscheinlich ›Was will der alte Bock mit so einem Kind?‹!«

Ich protestierte. Erstens, so argumentierte ich, sei ich nun wahrlich kein Kind mehr, sondern würde in wenigen Wochen schon vierzehn, und zweitens, so fände ich, wäre er doch nun wirklich kein »alter Bock«!

Jürgen war in ausgelassener Stimmung, und selten hatte ich ihn so unbeschwert erlebt. Ich verschlang mein Spaghettieis in den weichen Lederpolstern des Jaguars, der bereits in Richtung Heimat schnurrte. Ich war für wenige Momente ein glückliches Mädchen, denn Jürgen unternahm etwas Aufregendes mit mir, und meine Mutter konnte diese Freude endlich einmal nicht schmälern. Im Gegensatz zu ihr genoss ich die Geschwindigkeit, und ich fand, dass sie selbst schuld war, wenn sie ständig an allem und jedem herummäkelte und Jürgen es daher wohl lustiger fand, mit mir loszudüsen.

»Das müssen wir bald wieder machen und großes Ehrenwort, ich sag nix, okay?«, sagte ich zu Jürgen, bevor wir ausstiegen. »Logisch«, antwortete er und grinste zufrieden. »Das bleibt unser Geheimnis. Im Übrigen: Tut mir leid mit deinem Tagebuch! Die Mami hat es gefunden und gelesen, und ich habe ihr strikt verboten, so etwas noch einmal zu machen. Sei ganz beruhigt. Ich werde dafür sorgen, dass das nie wieder passiert, verstanden?«

Ich hatte verstanden. Der Feind war gar nicht Jürgen. Er war nie mein Feind gewesen. Meiner Mutter schien jedes Mittel recht zu sein, und wenn mich überhaupt irgendjemand vor dieser Frau beschützen konnte, dann nur Jürgen. »Ich habʼs geahnt, dass sie in meinen Sachen herumgewühlt hat. Aber danke, dass du es mir gesagt hast. Du bist wenigstens ehrlich zu mir!«

 

In den Sommerferien arbeitete ich viel bei Jürgen in der Firma. Von seinem Betriebsleiter bekam ich während dieser Wochen mit, dass dieser zwei Söhne hatte, von denen der jüngere der augenscheinlich beliebtere war. Erwin schwärmte in höchsten Tönen von ihm und erzählte immer wieder, dass der »Kleine« so toll Orgel spielen könne. Für seinen ältesten Sohn Michael hingegen hatte er nicht viel übrig.

Michael besuchte seinen Vater eines Tages in der Firma, und ich sah einen mageren, blassen Jungen mit Pickeln, der in meinem Alter sein musste. Ständig schaute Michael auf den Boden, und als er mir die Hand zum Gruß reichte, stellte ich fest, dass die Haut auf der Handinnenseite hart und krustig war. Roter Schorf zog sich über den Handrücken und kroch unter die Ärmel seines langärmeligen T-Shirts. Wann immer sich die Gelegenheit bot, murmelte Michael etwas von »... muss mal eben Hände waschen ...« und verschwand in der Herrentoilette. Erst Jahre später, als ich einen Bericht über Waschzwänge gelesen hatte, wusste ich dieses Verhalten von Erwins Sohn richtig einzuschätzen. Der arme Junge muss unter einer heftigen Neurodermitis und unter einem Waschzwang gelitten haben, und ich frage mich bis heute, was Michael sich von der Seele waschen wollte ...

Jürgen war nicht gut auf Erwin zu sprechen. Er machte sich oft lustig über ihn und bestätigte mich in meinem Gefühl, dass der Kerl irgendwie ekelig war. Wenn Erwin die Firma verlassen hatte, saß Jürgen oft neben mir an der Wickelmaschine und lästerte mit mir über ihn. Er erzählte mir, dass Erwin wirklich pervers sei und seine Maria mit allen möglichen Sexspielchen drangsalieren würde. Erwin würde ein ganzes Arsenal an Sexspielzeug besitzen und Maria zwingen, es in alle möglichen Körperöffnungen zu schieben, und sei es noch so groß.

Ich schüttelte mich vor Unbehagen und war froh, dass Jürgen dieselbe Meinung von Erwin hatte wie ich. Jürgen war eben normal und Erwin nicht.

 

Ich genoss die Stunden in der Firma in vollen Zügen. Obwohl draußen herrlichster Sonnenschein war und meine Freundinnen entweder im Urlaub waren oder sich im Freibad räkelten, bereute ich es keine Sekunde lang, meine Sommerferien in den kalten Gemäuern der Fabrik inmitten von Wickelmaschinen zu verbringen. Um meiner Mutter und ihren nicht enden wollenden Erledigungsbefehlen zu entgehen, arbeitete ich bereits ab Mittag. So brauchte ich lediglich für das Frühstück und das Mittagessen zu sorgen und hatte den restlichen Tag über meine Ruhe vor ihr. Jürgen schien meine Strategie erahnt zu haben, denn er diskutierte immer wieder mit meiner Mutter, wie wichtig bestimmte Aufträge und somit meine Arbeit seien und dass diese Tätigkeit doch viel besser sei, als wenn ich unkontrolliert in der Stadt mit meinen Freundinnen umherziehen würde. Sie schluckte es ohne Widerworte, und die gemeinsamen Abstecher nach Hagen in die Eisdiele blieben weiterhin ein gut gehütetes Geheimnis zwischen Jürgen und mir.

Eines Abends überraschte uns Jürgen mit einer aufregenden Neuigkeit: Er hatte ein großes Haus gekauft und schwärmte von der Einrichtung und dem großen Garten. Wir müssten uns unbedingt dieses Haus anschauen, denn dort sei nun endlich Platz für uns alle. An diesem Abend schwebte ich mal wieder auf Wolke sieben. Zwar war die Aussicht, mit Ulf und Martin eine große Familie zu bilden, nicht gerade prickelnd, und eigentlich reichten mir die gemeinsamen Wochenenden voll und ganz, weil diese sich ausschließlich um das Thema Motorrad und Technik drehten. Vielleicht aber war die Konstellation zu fünft auch eine Chance für mich. Ich hoffte, dass sich meine Mutter etwas beherrschen würde und ich in der Masse quasi untergehen würde, weil sie sich dann schließlich auch um Ulf und Martin kümmern müsste. Außerdem, so dachte ich, könnte mir zumindest Ulf beim Einkaufen oder anderen Aufgaben helfen.

Am Samstag war es dann so weit: Jürgen packte uns alle ins Auto und fuhr mit uns in sein neues Haus. Wir standen vor einem großen Bungalow in einer schicken Wohngegend am Ortsrand der Stadt, und schon allein die Hauseingangstür aus bronzefarbenem Metall war imponierend genug. Gespannt warteten wir darauf, wie Jürgen die beiden Schlösser mit modern anmutenden Schlüsseln öffnete und uns in sein neues Reich hereinließ.

»Hier oben«, begann Jürgen mit seiner Besichtigungstour, »hier ist das Wohnzimmer. Riesig, ne? So, und hier ist die Küche, hier noch mal extra ein WC. Ulf, da kannst du dann so lange deine Sitzungen abhalten, wie du willst.«

Ulf grinste verschämt.

»Kommt mit! Hier durch den Flur gehtʼs zum Bad. Toll, oder? Und hier ... Achtung! Aufgepasst! Ulf, hier wird dein Zimmer sein. Martin, du bekommst das Zimmer gleich nebenan, und das Zimmer dazwischen wird das Schlafzimmer von Gundis und mir sein. Naaaa? Was sagt ihr?«

Ulf und Martin standen in ihren Zimmern und waren völlig aus dem Häuschen. Beide Zimmer hatten große Fenster und machten auch ohne Möbel einen behaglichen Eindruck.

Während sich alle in »ihren« Zimmern umschauten, bildete sich auf meiner Stirn ein riesiges Fragezeichen. Alle hatten ihr persönliches Reich, nur von mir war nicht die Rede. Erleichtert stellte ich fest, dass es im Badezimmer keinen Gasboiler gab und das Bad aufgrund der Badewanne keinen Platz für ein Bett bot.

»Soooo«, wandte sich Jürgen auf einmal an mich und lächelte mich freundlich an. »Christine! Du bist doch sicherlich schon gespannt, wo du dein Zimmer haben wirst, oder?«

Ich nickte, und gleichzeitig fiel mir ein Riesenstein vom Herzen. Auf Jürgen war zum Glück Verlass.

Jürgen rief alle zusammen. »Christine wird bald vierzehn, und ich bin der Meinung, dass sie als junges Mädchen sicherlich gern mal ungestört sein möchte, habe ich Recht?«

Und ob dieser Mann Recht hatte, dachte ich. Endlich mal Ruhe und nicht ständig meinen Namen hören, das wäre klasse!

»Dein ganz privater Bereich ist unten im Haus. Da hast du dein eigenes Bad, und niemand nervt dich. Kommt alle mit runter! Das schauen wir uns gemeinsam an.«

Wie die Lemminge liefen wir hinter Jürgen die schmale geflieste Treppe in den Keller hinunter. Vor einer Tür blieb er stehen. »Im Gegensatz zu euren Zimmern, Jungs, ist das Zimmer von Christine bereits vollständig eingerichtet. Ich habe es für viel, viel Geld dem Vorbesitzer des Hauses abgekauft, und er hat sich nur schweren Herzens von dem Inventar getrennt. Das war wirklich ein hartes Stück Arbeit, aber ich habe ihn doch überzeugt. Jetzt hoffe ich natürlich, dass es dir gefällt, Christine.«

»Ich bin sicher, dass es mir gefallen wird«, antwortete ich voller Überzeugung und bettelte: »Jetzt mach doch endlich die Tür auf, Jürgen, ich bin doch sooo gespannt!«

Mit einer galanten Geste öffnete Jürgen die Tür, und für Sekunden waren wir alle sprachlos. Der Raum war mit schwarzem Holz vertäfelt, und der dichte, weiche Teppichboden war blutrot. Schwere dunkelrote Samtvorhänge verdeckten die Sicht auf das eher kläglich wirkende Kellerfenster. Das Größte und Imposanteste in diesem Zimmer stellte jedoch das Bett dar. Mit einer Breite von über zwei Metern war es mit Sicherheit das größte Bett, das ich jemals zuvor gesehen hatte. Es war vollständig aus Plüsch mit Leopardenmuster, verfügte über ein eingebautes Radio im Kopfteil und eine elektrische Fernbedienung, mit der man das Kopf- und Fußteil verstellen konnte. Sämtliche Lichtquellen im Raum bestanden aus Messing, und an den Wänden hingen Mittelseiten aus einem Playboy, von denen mich lüstern dunkelhaarige junge Frauen anschauten.

Mir blieb die Spucke weg. Gedanken und Gefühle wirbelten in mir hin und her, und ich wusste nicht, ob ich weinen oder mich freuen sollte. Sicherlich, das Zimmer war mit Abstand das Auffallendste im gesamten Haus, aber die Vorstellung, in diesem Raum meine zukünftigen Nächte zu verbringen, beängstigte mich. Ich vermisste meine kleine Yucca und überlegte krampfhaft, wo Bobbys Decke Platz finden könnte.

»Die Bilder an den Wänden kannst du natürlich abhängen«, riss mich Jürgen aus meinen Gedanken. »Der Vorbesitzer hat sie aufgehängt, und ich fand sie eigentlich sehr schön, weil sie so ästhetisch sind. Na ja ... aber MEIN Geschmack muss ja nicht DEIN Geschmack sein, stimmtʼs? Was ist Christine? Bist du etwa enttäuscht? Oje, und ich dachte, ich hätte dir eine Freude gemacht!«

»Doch, doch«, stammelte ich unbeholfen, und meine Mutter zischte mir ins Ohr: »Verdammt noch mal, Christine! Du wolltest doch wohl nicht meckern, oder? Jetzt sei doch dankbar, dass Jürgen dir dieses wunderschöne Zimmer gibt.«

Jürgen starrte mich mit seinem »Oh-jetzt-bin-ich-aber-enttäuscht«-Blick an, und irgendetwas bewog mich, meine Lippen endlich zu bewegen.

»Doch, doch, Jürgen. Ich finde es auch wunderschön. Ich bin nur ... so beeindruckt.«

Jürgens Miene erhellte sich. »Dann wirst du erst recht staunen, wenn ich dir dein eigenes Badezimmer zeige. Komm!«

Das Badezimmer war in einem fröhlichen Gelb gekachelt und mit einer Dusche und zwei Waschbecken, einem Bidet und einer Toilette ausgestattet. Die Armaturen funkelten in einem wertvoll aussehenden Gold, und die hochflorigen Badematten mit ihren Goldbiesen strahlten eine vornehme Eleganz aus.

»Das ist ja viel größer als unser Bad«, protestierte meine Mutter lauthals.

»Tja, aber es ist MEIN Badezimmer«, entgegnete ich zickig und stellte mich demonstrativ neben Jürgen.

Jürgen schien mit dem Ergebnis seiner Vorführung sichtlich zufrieden zu sein.

Er lud uns zum Essen ein und erzählte uns beim Griechen, wie er sich das zukünftige Zusammenleben vorstellte. Nach seinen umfangreichen Erläuterungen und Erklärungen war es für uns alle vollkommen nachvollziehbar, dass Ulf und Martin während der Woche bei Margot bleiben sollten, da die Schule in der Nähe war und die Jungs ihre Mutter bräuchten. Was meine Mutter und mich anbelangte, war Jürgen der Meinung, besser kein Öl ins Feuer zu gießen und vorerst in der Eigentumswohnung meiner Mutter zu bleiben. Er befürchtete, dass Margot es zu sehr verärgern könnte, wenn meine Mutter und ich in dieses Haus ziehen würden, und wollte stattdessen abwarten, bis Margot mit einem neuen Lebenspartner ihr eigenes Glück gefunden hatte.

Im Laufe der nächsten Tage sorgte insbesondere diese Entscheidung für ständige Streitgespräche und lange Diskussionen zwischen meiner Mutter und Jürgen. Sie machte ihm eine Szene nach der anderen und wollte nicht einsehen, dass Jürgen es vorzog, taktisch vorzugehen und dafür zu sorgen, dass Margot nicht wütend die Scheidung einreichte. In der Firma beklagte sich Jürgen bei mir, dass meine Mutter dumm sei und einfach nicht begreifen würde, dass er im Falle einer Scheidung bankrott sei. Meine Mutter würde sich an Äußerlichkeiten »aufhängen« und dabei übersehen, dass er diese finanziellen Strapazen mit dem Hauskauf doch nur auf sich genommen hätte, um das Beste aus der Situation zu machen. Jürgen schwatzte mir so lange die Ohren voll, bis ich mich irgendwann in der Position der Tröstenden wiederfand. Ich sprach ihm Mut zu und sagte ihm, dass es schwer sei, mit meiner Mutter in Ruhe zu sprechen, weil sie sofort aus der Haut fuhr und Argumenten gegenüber nicht mehr zugänglich war. Ganz so Unrecht hatte ich damit sicherlich nicht ...

Meine Mutter hatte den Kampf nach einiger Zeit aufgegeben. Stattdessen badete sie fortan abends bei uns zu Hause, instruierte mich, danach unverzüglich die Badewanne zu putzen, weil das Badeöl einen Schmierfilm hinterließ, packte ihre Siebensachen zusammen und verschwand nach Jürgens Telefonanruf gegen einundzwanzig Uhr in Richtung Haus. Bis zu meinem Auszug sollte dieses Ritual bestehen bleiben, sodass ich von meinem vierzehnten bis achtzehnten Lebensjahr während der Woche in der Nacht allein war. Mich störte dieser Umstand nicht im Geringsten. Ich wartete immer sehnsüchtig auf Jürgens Anruf und freute mich, wenn dieser Anruf schon vor zwanzig Uhr kam. Wenn Jürgen rief, war meine Mutter nicht mehr zu halten, und die kurze Zeit der absoluten Ruhe in der Wohnung stellte für mich Urlaub vom Alltag dar. Im Laufe der Jahre entwickelten sich merkwürdige Verhaltensweisen: So musste ich abends, wenn ich nicht bei Jürgen in der Firma arbeitete, frische Erbsensuppe oder Gulaschsuppe zubereiten, damit meine Mutter den Topf mit ins Haus nehmen konnte, um Jürgen zu beköstigen. In seinem Haus sollte nicht gekocht werden, weil er die Küche peinlich sauber hielt und es hasste, wenn der Essensgeruch bis ins Schlafzimmer gezogen war. In seinem Haus gab es keinen Hinweis auf die Existenz meiner Mutter oder von mir. Sämtliche Toilettenartikel und Kleidungsstücke mussten am Morgen wieder mitgenommen und am Abend wieder hingebracht werden, sodass meine Mutter jeden Abend mit einem riesigen Korb am Arm zu Jürgen fuhr.

Das Frühstück nahmen die beiden fortan auch nicht mehr gemeinsam bei uns zu Hause ein, sondern meine Mutter erschien alleine um zwanzig nach sieben, stürzte sich an den gedeckten Frühstückstisch, schlang hastig ein Brötchen in sich hinein und fuhr fünfzehn Minuten später zur Schule. Wir wechselten in dieser kurzen Zeit praktisch kein Wort miteinander, und ich spürte deutlich, dass es meiner Mutter wirklich zuwider war, mit mir allein an einem Tisch zu sitzen. Ihre Aversion war verletzend, denn oft genug hörte ich, wie sie Jürgen entrüstet am Telefon sagte: »Ich werde doch hier nicht den Abend mit meinem pubertierenden Töchterchen verbringen!« Selbst wenn Jürgen auf Geschäftsreisen war und erst mitten in der Nacht zurückkehrte, zog meine Mutter mit ihrem Korb in sein Haus. Ihr großes Schlafzimmer stand leer und glich nach einigen Wochen eher einer Abstell- und Bügelkammer denn einem gemütlichen Schlafraum. Die Kluft zwischen uns beiden war mittlerweile unüberbrückbar. Viel zu sehr war meine Mutter mit ihrem merkwürdigen Leben beschäftigt, und ich zählte die Tage bis zu meiner Volljährigkeit. Das Verhältnis zu Jürgen hingegen gestaltete sich zunehmend angenehmer für mich. Im Gegensatz zu meiner Mutter schien Jürgen die Nähe zu mir zu suchen und gern Zeit mit mir alleine zu verbringen. Dafür liebte ich ihn aufrichtig und war voller Dankbarkeit für ihn. Es gab Vorfälle, die mir Anlass gaben, über seine Sympathien für mich genauer nachzudenken.

 

Es war Herbst, und wir hatten mal wieder den Samstagnachmittag im Panzerübungsgelände verbracht. Ulf und Martin waren müde, und meine Mutter war wie immer völlig entnervt von dem Herumstehen im Nieselregen. Jürgen und ich fuhren los, um vom Chinesen Essen abzuholen. An den Wochenenden wurde in Jürgens Haus nur zusammen gefrühstückt. Gekocht wurde prinzipiell nicht, was ich natürlich völlig genial fand. Jürgen war in bester Laune. Er scherzte mit mir, und lachend kamen wir mit dem Essen zurück. Die gute Stimmung übertrug sich während des Essens auf die anderen, und plötzlich alberten alle miteinander herum. Es war ein sehr schöner und spaßiger Abend, und so staunten wir nicht schlecht, dass Jürgen sich relativ früh verabschiedete, um ins Bett zu gehen. Normalerweise war er meist noch länger als meine Mutter auf und ging lange nach uns Kindern schlafen. Er habe eine anstrengende Woche gehabt, entschuldigte er sich und zog sich ins Schlafzimmer zurück. Auffällig war, dass meiner Mutter nicht die Kinnlade herunterklappte, weil sie doch nun mit drei albernen Kindern allein war.

Mir selbst war es erst aufgefallen, als Martin plötzlich sagte: »Gundis, du kannst ja richtig lustig sein.« Martin und meine Mutter hatten eigentlich ein sehr gespanntes Verhältnis, weil Martin tierisch eifersüchtig auf sie war und mit seinen zehn Jahren die Trennung seiner Eltern schlecht verkraftet hatte.

»Ja natürlich«, konterte meine Mutter und schlug vor: »Wir ärgern Jürgen jetzt ein bisschen! Habt Ihr Lust?«

»Klaro«, kam es einhellig aus unseren Mündern. Jürgen ärgern war doch eine prima Idee.

Meine Mutter erklärte uns den Schlachtplan. Ich sollte mich an ihrer Stelle ins Bett legen und so tun, als sei ich meine Mutter. Sie erklärte mir, dass ich mich grunzend in die Decke rollen sollte, an Jürgen heranrobben müsste, um dann mit meinen Füßen unter seiner Decke an seinen Beinen entlangzustreichen. Auf diese Weise würde er bestimmt darauf reinfallen. Ulf und Martin sollten sich derweil mit nassem Klopapier »bewaffnen«, und in genau dem Moment, in dem Jürgen entdecken würde, dass gar nicht seine Gundis, sondern ich im Bett läge, ihren Vater mit den Klopapierbällchen bewerfen. Ulf und Martin waren begeistert und ich aufgeregt und gespannt, ob der Plan funktionieren würde.

Wir versteckten uns an der Schlafzimmertür, und ich ging wie selbstverständlich hinein und legte mich auf die Bettseite meiner Mutter. Als ich dort lag, wurde mir auf einmal mulmig zumute. Aber egal. Ich wollte die anderen schließlich nicht enttäuschen, und so grunzte ich laut und deutlich und robbte mich an den offensichtlich schlafenden Jürgen heran. Als Jürgen dann aufwachte, weil ich mit meinen Füßen an seinen stacheligen Beinen herumwurschtelte, rief er: »Ach Gundis! Was willst du denn schon wieder von mir? Lass mich doch schlafen.«

Unterdrücktes Gekicher war von der Tür her zu hören. Ich schien mit meiner Aktion die anderen zu belustigen und fühlte mich angespornt. Ich hielt meine Füße nicht still und fuhr unbeirrt fort, als Jürgen sich auf einmal zu mir herüberdrehte und stöhnte: »Gundis, bist du denn nie zufrieden? Was willst du denn jetzt?« Er rollte sich fast auf mich, begrapschte mich zwischen den Beinen und schickte sich an, mich zu küssen.

Panik ergriff mich. Jetzt ging mir das Ganze deutlich zu weit, und ich versuchte, Jürgen von mir wegzuschieben.

»Christine! Das bist ja DUUU!«, rief Jürgen überrascht, und kreischendes Gelächter war von der Tür zu hören. Jürgen warf sich auf seine Seite zurück, und schon ging das Licht an, und Ulf und Martin schmissen mit dem nassen Klopapier nach Jürgen. Alle lachten und juchzten, und mein Herz pochte. Ich fand die Situation gar nicht mehr komisch und wollte nur noch raus aus dem Bett. Trotzdem lachte ich mit. Wenn alle die Komik an dieser Situation sahen, dann wäre ich ein Spielverderber gewesen. Schließlich wollte ich dazugehören und nicht aus der Reihe tanzen.

Als ich später in dem riesigen Leopardenbett lag, rasten meine Gedanken gleich einer Achterbahn durch meinen Kopf. Hatte Jürgen wirklich nicht gemerkt, dass ICH da gelegen hatte? Fand ich das alles so schrecklich, weil Jürgen der Freund meiner Mutter war? Ich mochte Jürgen doch, und ich stellte mir vor, wie ich mich in seinem Bett gefühlt hätte, wenn er nicht der Freund meiner Mutter gewesen wäre. Ich fragte mich, ob ich Jürgen als MANN gut fand, und war völlig verwirrt.

Am nächsten Morgen erzählten alle von diesem tollen Streich, und ich beschloss beim Frühstück, jeden Gedanken, dass Jürgen mich eventuell reizvoll gefunden hatte, weit beiseitezuschieben. Ich bildete mir wirklich zu viel ein und hatte bestimmt Hirngespinste.

 

Der Winter kam unaufhaltsam, und schon bald stand Weihnachten vor der Tür. Meine Mutter war allerübelster Laune, weil Jürgen Heiligabend zunächst bei Margot und den Kindern verbringen wollte, um dann am späteren Abend mit Ulf und Martin ins Haus zu kommen und eine zweite Bescherung zu veranstalten. Mit angespannter Miene saß meine Mutter den Nachmittag vor dem Fernseher und strickte sich die Wut vom Leib. Als der Anruf von Jürgen dann endlich kam, packten wir die Päckchen und Pakete ins Auto, fuhren zum Haus und schleppten die Töpfe mit Knödeln, Rotkohl und Sauerbraten in die Küche. Der Hals meiner Mutter war schon wieder übersät mit ihren berühmten roten Hektikflecken, und ich hätte sonst etwas darum gegeben, den Abend bei meinen Großeltern verbringen zu können, so wie ich es in den letzten Jahren so gern getan hatte. Die Bescherung und den Abend mit Ulf und Martin empfand ich als reine Farce. Alle drei waren satt bis über beide Ohren, und meine Mutter platzte innerlich vor Wut, weil ich die Einzige war, die kräftig zulangte. Außer dem Sauerbraten hatte sie ohnehin nicht viel zubereitet, und ich verstand ihre finstere Miene nicht. Sobald es ging, verabschiedete ich mich und ging zu Bett.

Am nächsten Nachmittag holte Margot ihre Söhne ab. Mit einer Freundin und den Kindern fuhr sie nach Zermatt zum Skilaufen, und ich beneidete Ulf und Martin. Bestimmt würden sie eine Menge Spaß miteinander haben, denn Margot unternahm viel mit ihnen, und das gern. Der erste und zweite Weihnachtsfeiertag konnten nur Ärger bringen, denn meine Mutter war in absoluter Kampfstimmung. So gut es ging, versuchte ich Jürgen und meiner Mutter aus dem Weg zu gehen, was schwierig war, denn in »meinem Zimmer« gab es nichts, womit ich mich hätte beschäftigen können, und tagsüber hielt ich mich nie in diesem Raum auf, weil vom Tageslicht nicht viel zu sehen war. Ulf und Martins Zimmer waren durch die großen Fenster hell und freundlich und quollen vor Spielzeug nur so über, aber diese Räume waren tabu für mich. DAS hatten mir beide in der Vergangenheit deutlich zu verstehen gegeben. Zu allem Unglück hatte ich mein Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo in der Wohnung liegen gelassen, und so blieb mir nur noch Bobby, dem ich mich ausgiebig an diesem ersten Weihnachtsfeiertag widmete.

Am Abend schlug Jürgen versöhnliche Töne an. Er machte den Vorschlag, einen Glühwein für uns alle zuzubereiten und langsam Gemütlichkeit einkehren zu lassen. Murrend stimmte meine Mutter zu und nahm das Sofa in Beschlag. Ich setzte mich in einen der Sessel und guckte Fernsehen.

»Der Glühwein ist fertig«, ertönte Jürgens Stimme aus der Küche. »Achtung, hier kommt er!«, und schon brachte Jürgen drei Becher von dem heißen Gebräu auf einem Tablett ins Wohnzimmer. »Prost!«, rief er uns zu und schmatzte mir und meiner Mutter ein Küsschen auf die Wange. Irgendwie tat er mir furchtbar leid, wie er verzweifelt bemüht war, die düstere Stimmung zu heben, und ich verachtete meine Mutter, wie sie selbstgefällig auf dem Sofa lag und kein bisschen freundlicher wurde. Zumindest hätte sie versuchen können, dachte ich abfällig, das Beste aus diesem Tag zu machen. Die Leidtragenden ihrer miesen Laune waren schließlich Jürgen und ich, und ich fühlte mich mächtig solidarisch mit Jürgen. ICH würde ihm eine solche Szene nicht machen, und ICH würde auch nicht einen ganzen Tag lang alles kaputtmachen. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich auf meinem Sessel saß und Jürgen und meine Mutter beobachtete.

Der Glühwein schmeckte köstlich und ließ auf einmal alles so leicht und unbeschwert erscheinen. Ich kicherte und gluckste vor mich hin, und Jürgen schenkte mir den Becher noch einmal nach. »Gundis, was ist los mit dir? Pennst du schon wieder? Sei doch mal ein bisschen lustig!« Jürgen stieß meine Mutter unsanft an den Schultern.

Meine Mutter, die anscheinend tief und fest schlief, war nicht wach zu bekommen. Ich wunderte mich und schlürfte weiter an meinem Glühwein. Als mir plötzlich schlecht wurde und sich alles zu drehen begann, setzte ich den Becher ab und lallte Jürgen entgegen: »Mir is so schlecht. Isch geh dann mal ins Bett.« Als ich aufstehen wollte, fiel ich wieder zurück auf den Sessel. Ich nahm die Umgebung wie durch einen Nebelschleier wahr, und dankbar lehnte ich mich an Jürgen an, der mir auf die Füße geholfen hatte und mich aus dem Wohnzimmer führte.

»Wir müssen da entlang«, sagte ich albern, weil Jürgen nicht in Richtung Kellertreppe ging, sondern mich auf direktem Wege in sein Schlafzimmer führte. Er setzte mich auf sein Bett, kniete sich vor mich hin und streichelte meine Oberschenkel. »Hast du denn gar nicht gemerkt, Christine, dass ich mich hoffnungslos in dich verliebt habe?«, flüsterte Jürgen.

Ich starrte ihn durch die nebelige Wand an und dachte belustigt darüber nach, was diese Aktion jetzt sollte. Jürgen konnte nur Spaß machen und wollte mich bestimmt auf den Arm nehmen.

Jürgen stöhnte und wisperte: »Du bist meine Göttin, Christine. Verstehst du nicht? DU gehörst in dieses Bett und nicht die Mami!« Er setzte sich neben mich auf das Bett, zog mich mit einem festen Griff herunter, bis ich auf dem Rücken lag, und begann, sanft mein Gesicht zu streicheln.

Im dunklen Licht konnte ich Jürgens Gesicht kaum erkennen, und ich war einfach nur schrecklich müde. Meine Glieder hingen schlaff auf dem Bettzeug, und fast wäre ich eingeschlafen, als Jürgen mich plötzlich gierig küsste und wie wild mit seiner Zunge in meinem Mund herumwühlte. Seine Hände streichelten meinen mageren Körper, und er knetete die Stelle, an der sich langsam so etwas wie eine Brust entwickelte. Mit meinen vierzehn Jahren war ich noch ziemlich unentwickelt und die Einzige aus meiner Klasse, die noch nicht ihre Periode hatte. Ich wollte sprechen und aufbegehren, dass das doch alles nicht ginge, weil Jürgen doch der Freund meiner Mutter war. Mit seinen einundvierzig Jahren war er ein erwachsener Mann und spielte in einer Liga, in der ich absolut nicht zu Hause war. Jürgen küsste mich weiter und weiter, und ich hatte Mühe, Luft zu bekommen, geschweige denn, irgendetwas sagen zu können. Als er mit seiner Hand zwischen meine Schenkel fuhr und sich am Slip vorbeizwängte, um meine Genitalien zu berühren, presste ich mit aller Gewalt die Beine zusammen. Jürgen unterbrach einen Moment das Küssen, und sofort stammelte ich panisch: »Mama ... Wenn Mama kommt ... Das geht nicht! Ich will sofort raus hier!« Benommen taumelte ich von dem Bett herunter und versuchte, in den Flur zur Kellertreppe zu laufen. Auf den glatten Fliesen rutschte ich aus, fiel unsanft hin und fluchte, weil ich mir am Knie wehgetan hatte. Jürgen folgte mir nicht. Erleichtert schlich ich die Kellertreppe hinunter und betete, dass dieses Erlebnis nur ein schlechter Traum gewesen war.

Kaum lag ich in meinem Leopardenbett, war ich auch schon tief und fest wie bewusstlos eingeschlafen.

Als ich mitten in der Nacht wach wurde, lag Jürgen auf mir und stöhnte leise. »Christine«, seufzte er, »Christine, Christine. Ach, was ist das schön. Das ist so schön. Das ist noch viel schöner, als ich gedacht hatte.«

Ich spürte etwas Hartes zwischen meinen Beinen und fühlte, wie Jürgen mit seinem Penis immer weiter in mich eindrang.

»Sag sofort, wennʼs dir wehtut, Christine. Ich will nicht, dass es dir wehtut. Ahhhhh! Ich bin in dir drin, oh Gott, oh Gott!«

Wie gelähmt lag ich unter diesem Mann, der der Freund meiner Mutter und siebenundzwanzig Jahre älter war als ich. Ich lag in diesem Bett, war regungslos vor Angst und starrte verzweifelt an Jürgens Oberkörper vorbei und beobachtete unentwegt die Tür. Ich wartete nur darauf, dass sie plötzlich aufgerissen werden würde, und meine Mutter sich schreiend auf mich stürzen würde. Die Tür blieb zu, aber meine Angst blieb. Es war einfach zu unglaublich, was hier gerade passierte. Jürgen stöhnte immer heftiger, seine Bewegungen wurden immer schneller, und er schien den Verstand zu verlieren.

»Aaaaahhhhh! «, fuhr es aus seinem Mund, und mit einem weiteren »Aaaaaaahhhhh!« hörte er auf einmal auf und lag schlaff wie ein Schlenkerpüppchen schwer auf meinem Brustkorb. »Christine, mein Engel«, sagte er leise zu mir. »Habe ich dir wehgetan?« Besorgnis war aus seiner Stimme zu hören. »Christine, so sag doch etwas. Mein Gott! Das war soo unglaublich schön! Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll!« Jürgen weinte. Er weinte tatsächlich, und mir war speiübel.

»Geh jetzt, bevor Mama kommt«, sagte ich und tauchte kurz darauf weg in ein dunkles Nirwana.

 

Als ich am Morgen aufwachte, schoss mir umgehend das Erlebnis der Nacht durch den Kopf. Es war unmöglich, dachte ich. Das konnte nicht sein, und bestimmt war ich kurz davor, völlig den Verstand zu verlieren. Es konnte einfach nicht wahr sein. Es musste ein schlechter Traum gewesen sein, nichts weiter. Völlig verwirrt stand ich auf und ging zum Bad. Mein Slip? Wo war mein Slip? Ich ging zurück und suchte nach meiner Unterhose. In einer Ecke des Betts lag sie zerknüllt. War es doch Wirklichkeit gewesen? Langsam, aber sicher geriet ich in Verzweiflung. Flüssigkeit lief aus meiner Scheide an meinen dünnen Beinchen herunter. Ich fasste dieses komische Zeug an und stellte fest, dass es klebrig war und scheußlich roch. Wie widerlich, dachte ich und beschloss, eine Dusche zu nehmen. Während das warme Wasser auf mich niederprasselte, überlegte ich. Diese Flüssigkeit, das war kein Ausfluss, wie ich ihn kannte, wenn ich eine Infektion hatte. Es juckte zwar, aber das Jucken ließ sich abwaschen, was auch nicht normal war. War es Sperma? Wie zum Teufel noch mal sollte ich wissen, wie Sperma aussah oder roch? Ich verstand die Welt nicht mehr und hatte panische Angst, die Kellertreppe hinaufzugehen. Was würde mich oben beim Frühstück erwarten? Sah man nicht deutlich, was in der Nacht passiert war? War denn etwas passiert? Das Chaos hatte meine Seele mit voller Macht ergriffen, und zitternd zog ich mich an.

Als ich ins Wohnzimmer kam, saßen Jürgen und meine Mutter bereits am Frühstückstisch.

»Du hast so tief und fest geschlafen, da habe ich mir gedacht, dass ich das Frühstück heute mache«, begrüßte mich Jürgen freundlich.

»Lass das nur nicht zur Gewohnheit werden«, nuschelte meine Mutter und setzte nach: »Was glotzt du denn wieder so dämlich? Setz dich endlich hin, und iss ein Brötchen!«

Alles schien wie immer zu sein. Nur ich nicht. Nachdenklich setzte ich mich hin und trainierte meine »Nix-ist-los«-Miene, während ich mein Brötchen schmierte. Ich musste verrückt geworden sein. Die Prophezeiungen meiner Mutter, dass ich völlig »neben der Spur« und »verhaltensgestört« sei, hatten sich heute bewahrheitet.

Aber wenn die Erlebnisse dieser Nacht der Wirklichkeit entsprachen, dann war es Jürgen, der nicht so normal sein konnte, wie ich immer angenommen hatte.

Ich musste dringend mit meinen Freundinnen sprechen! Christine Al-Farziz war vollkommen übergeschnappt und hatte am zweiten Weihnachtsfeiertag mit vierzehn Jahren endgültig den Verstand verloren. Ich machte mir ernsthafte Sorgen über meine Psyche, und das Weihnachtsfest 1979 war für mich gelaufen!