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Ja, ja, ich weiß, total geschmacklos – genau genommen ziemlich krass –, die Tatsache, dass ich sitzengelassen wurde, mit dem Unfall zu vergleichen, der Mias ganze Familie ausgelöscht hat, aber ich kann nicht anders. Denn für mich fühlte sich die Zeit nach der Trennung durchaus ganz ähnlich an. Während der ersten Woche erwachte ich jeden Tag in einem Nebel aus Zweifeln und Leugnen. Das ist doch nicht wirklich passiert, oder? Ach du Scheiße, doch, es ist wahr. Und dann war ich jedes Mal völlig geknickt. Wie eine Faust traf es mich in die Magengrube. Es dauerte ein paar Wochen, bis ich es endgültig begriffen hatte. Doch anders als nach dem Unfall – als ich für andere da sein, präsent sein, eine Hilfe, eine Stütze sein musste –, war ich nach der Trennung absolut auf mich allein gestellt. Es gab niemanden, für den ich stark sein musste. Also kümmerte ich mich um nichts mehr, und irgendwann war dann alles vorbei.
Ich zog wieder heim, zurück ins Haus meiner Eltern. Ich packte einfach nur wahllos ein paar Sachen aus meinem Zimmer im House of Rock und haute ab. Ich ließ alles zurück. Die Schule. Die Band. Mein Leben. Es war ein spontaner, stummer Abgang, den ich da machte. Und dann lag ich nur noch zusammengekauert in dem Bett meiner Kindheit. Ich hatte Angst, dass die Leute die Tür eintreten und von mir verlangen könnten, zu erklären, was mit mir los sei. Aber so ist das nun mal mit dem Tod. Wenn er eintritt, dann spricht sich das schnell rum. Die Leute müssen gewusst haben, dass ich mich in eine Leiche verwandelt hatte, denn es kam nicht ein Einziger, um sich den Leichnam anzusehen. Nun ja, mit Ausnahme von Liz, der Unnachgiebigen, die einmal in der Woche vorbeischaute, um eine Mix-CD mit den allerneusten Hits, auf die sie stand, vorbeizubringen, und jedes Mal legte sie die neue CD fröhlich auf den Stapel mit den unberührten CDs, die sie die Wochen davor mitgebracht hatte.
Meine Eltern schienen verblüfft, als ich plötzlich wieder zu Hause aufkreuzte. Aber wenn ich auftauchte, waren die Leute eigentlich immer verblüfft. Mein Dad hat früher als Holzfäller gearbeitet, und als dieser Industriezweig den Bach runterging, nahm er einen Job am Fließband in einem Elektronikbetrieb an. Meine Mom arbeitete damals in der Universitätskantine. Für beide war es die zweite Ehe gewesen. Der erste Schritt ins Eheleben war für beide gleichermaßen zum Desaster geworden. Sie blieben kinderlos, und die früheren Partner wurden nie wieder auch nur mit einem Wort erwähnt; selbst ich erfuhr davon erst durch einen Onkel und eine Tante, als ich schon zehn war. Meine Eltern hatten mich erst spät bekommen, und offensichtlich kam ich auch eher überraschend. Meine Mom betonte immer wieder gern, dass eigentlich so ziemlich alles überraschend war, was mich betraf – von meiner bloßen Existenz über die Tatsache, dass ich Musiker wurde, bis hin zu meiner Liebe zu Mia, meinem Collegebesuch … Überraschend dann auch, dass meine Band schlagartig so beliebt war, dass ich das College abbrach – und dass ich die Band verließ. Aber sie akzeptierten, dass ich nach Hause zurückkehrte, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Mom brachte mir Tabletts mit Essen und Kaffee aufs Zimmer; fast als wäre ich ein Gefangener.
Drei Monate lang lag ich in dem Bett meiner Kindheit und wünschte mir, ich läge im Koma wie Mia damals. Das konnte doch alles nicht so schwer sein! Letzten Endes zwang mich die Scham dazu, mich wieder aufzuraffen. Ich war neunzehn Jahre alt, hatte das College abgebrochen, wohnte bei meinen Eltern, hatte keinen Job, tat nichts als faulenzen – ich war ein lebendes Klischee. Meine Eltern waren angesichts all dessen völlig cool geblieben, aber dieses ewige Selbstmitleid kotzte mich inzwischen an. Und dann, kurz nach Neujahr, erkundigte ich mich bei meinem Vater, ob es bei ihm in der Firma nicht irgendwelche Jobs gab.
»Bist du dir sicher, dass du das wirklich willst?«, hatte er mich daraufhin gefragt. Natürlich war es nicht das, wovon ich immer geträumt hatte. Doch das, was ich mir wünschte, konnte ich nicht haben. Ich hatte lediglich mit der Schulter gezuckt. Mir war nicht entgangen, wie er sich mit meiner Mom über dieses Thema gestritten hatte, wobei sie versucht hatte, ihn dazu zu bringen, mir diese Schnapsidee auszutreiben. »Hast du dir für ihn denn nicht mehr erhofft?«, hörte ich sie ihm im Flüsterton vorwerfen, während ich oben an der Treppe stand und lauschte. »Möchtest du denn nicht, dass er wenigstens zurück an die Schule geht?«
»Es geht doch hier nicht um das, was ich will«, hatte er erwidert.
Also hat er in der Personalabteilung nachgefragt und mir ein Vorstellungsgespräch organisiert, und schon eine Woche später fing ich in der Abteilung für Datenerfassung zu arbeiten an. Von morgens halb sieben bis nachmittags um halb vier saß ich nun tagtäglich in einem fensterlosen Raum und tippte Zahlen ein, die keinerlei Bedeutung für mich hatten.
An meinem ersten Tag im neuen Job stand meine Mom morgens mit mir auf, um ein riesiges Frühstück für mich vorzubereiten, das ich gar nicht schaffte, und der Kaffee, den sie mir gemacht hatte, war nicht annähernd stark genug. Mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht stand sie da in ihrem schäbigen rosa Morgenrock. Als ich schließlich aufstand, um zu gehen, blickte sie mir kopfschüttelnd hinterher.
»Was denn?«, fragte ich.
»Dass du in dieser Fabrik arbeiten willst«, meinte sie und betrachtete mich mit ernster Miene. »Das überrascht mich nun wirklich ganz und gar nicht. Denn genau das hatte ich von meinem Sohn erwartet.« Ich weiß nicht, ob der bittere Ton in ihrer Stimme mir oder ihr selbst galt.
Der Job war echt beschissen, aber was soll’s. Wenigstens brauchte man dabei nicht zu denken. Wenn ich heimkam, verschlief ich den Rest des Nachmittags, und wenn ich wieder aufwachte, las ich und döste von zehn Uhr abends bis fünf Uhr morgens vor mich hin, wenn es dann wieder hieß: aufstehen und zur Arbeit gehen. Mein Zeitplan lief der Welt der Lebenden zwar absolut zuwider, doch für mich war das in Ordnung.
Ein paar Wochen zuvor, so um Weihnachten, hatte ich noch einen Funken Hoffnung in mir getragen. Denn an Weihnachten sollte Mia endlich wieder nach Hause kommen. Die Fahrkarte, die sie sich für New York gekauft hatte, beinhaltete eine Rückfahrkarte, und am neunzehnten Dezember sollte sie eigentlich zurückkommen. Obwohl mir klar war, dass es idiotisch war, ging ich davon aus, dass sie zu mir kommen, mir irgendeine Erklärung liefern – oder besser noch, dass sie sich aufrichtig bei mir entschuldigen würde. Ich malte mir aus, dass sie mir täglich eine E-Mail geschrieben hatte, dass aber leider keine einzige davon angekommen war, und dass sie einfach so vor meiner Tür stehen würde, wütend darüber, dass ich auf ihre Mails nie geantwortet hatte, so wie sie früher immer wegen der dämlichsten Dinge sauer auf mich gewesen war, zum Beispiel darüber, wie ich mich ihren Freunden gegenüber verhielt.
Doch der Dezember kam und ging, eine trostlose Serie grauer Tage, an denen von unten gedämpft Weihnachtslieder an mein Ohr drangen. Ich blieb im Bett liegen.
Erst im Februar bekam ich Besuch, jemand von einem Ostküstencollege.
»Adam, Adam, da ist Besuch für dich«, rief meine Mom aufgeregt und klopfte an meine Tür. Es war so um die Abendessenszeit, und ich war total am Boden, weil das für mich schon mitten in der Nacht war. In meiner Benommenheit dachte ich schon, es sei Mia. Ich fuhr hoch, erkannte aber gleich am gequälten Gesichtsausdruck meiner Mutter, dass sie genau wusste, dass sie keine guten Neuigkeiten brachte. »Es ist Kim!«, rief sie betont fröhlich.
Kim? Von Mias bester Freundin hatte ich seit vergangenem August, als sie auf eine Schule in Boston gewechselt war, nichts mehr gehört. Und plötzlich wurde mir klar, dass sie mich mit ihrem Stillschweigen ebenso verraten hatte wie Mia auch. Als Mia und ich noch ein Paar waren, waren Kim und ich nicht gerade die besten Kumpel gewesen. Zumindest nicht vor dem Unfall. Der allerdings hatte uns hinterher umso mehr zusammengeschweißt. Mir war nie aufgefallen, dass man Mia und Kim nur im Zweierpack bekam, die eine nicht ohne die andere kriegte. Wenn man eine verlor, verlor man sie beide. Aber wie hätte es auch anders sein sollen?
Doch nun war Kim auf einmal da. Hatte Mia sie womöglich als ihre Gesandte geschickt? Kim lächelte unsicher und hielt wegen des feuchtkalten Abends ihren Oberkörper mit den Armen umklammert. »Hey«, sagte sie. »Du bist aber schwer zu finden.«
»Ich bin doch da, wo ich immer war«, erwiderte ich und strampelte die Bettdecke weg. Als Kim meine Boxershorts sah, wandte sie sich ab, bis ich mir meine Jeans übergezogen hatte. Ich griff nach einer Packung Zigaretten. Erst vor ein paar Wochen hatte ich zu rauchen angefangen. Alle in der Fabrik rauchten, denn das gab einem wenigstens einen Grund, eine Pause zu machen. Kims Augen weiteten sich überrascht, als hätte ich eine Glock aus der Tasche gezogen. Ich legte die Zigaretten wieder hin, ohne mir eine angezündet zu haben.
»Ich hatte dich eigentlich im House of Rock vermutet, deshalb bin ich erst dorthin. Ich hab Liz und Sarah getroffen. Sie haben mich zum Abendessen eingeladen. War nett, sie wiederzusehen.« Sie hielt inne und sah sich abschätzig in meinem Zimmer um. Die zerwühlten, muffigen Decken, die geschlossenen Jalousien. »Hab ich dich geweckt?«
»Ich arbeite viel, anstrengende Schichten.«
»Ja, hat deine Mom mir schon erzählt. Datenerfassung?« Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Verblüffung zu verbergen.
Mir war ganz und gar nicht nach Smalltalk und nach besserwisserischen Kommentaren. »Also, was ist los, Kim, was willst du?«
Sie zuckte mit der Schulter. »Ach, nichts. Ich bin nur kurz in der Stadt. Wir waren an Chanukka alle in Jersey bei meinen Großeltern. Deshalb bin ich jetzt zum ersten Mal wieder hier, und ich dachte, ich schau mal vorbei und sag Hallo.«
Ich drehte mich um und starrte sie an. Sie wirkte nervös. Aber irgendwie schien sie auch besorgt. Da war ein Ausdruck in ihrem Gesicht, den ich nur allzu gut kannte. Ein Ausdruck, der besagte, dass ich jetzt der Patient war. Aus der Ferne durchdrang eine Sirene die abendliche Stille. Instinktiv kratzte ich mich am Kopf.
»Triffst du dich noch mit ihr?«, fragte ich jetzt.
»Wie bitte?« Kims Stimme überschlug sich vor Verwunderung.
Ich starrte sie an. Und ganz langsam wiederholte ich meine Frage. »Triffst du dich noch mit Mia?«
»J… ja, klar«, stammelte Kim. »Na ja, nicht gerade oft. Wir sind beide ziemlich mit der Schule beschäftigt, und zwischen Boston und New York liegen immerhin ganze vier Stunden. Aber ja, klar sehen wir uns gelegentlich.«
Klar. Dieser überzeugte Ton war es, der mir den Rest gab. Er weckte in mir eine mörderische Wut. Ich war wirklich froh, dass sich kein schwerer Gegenstand in meiner Reichweite befand.
»Weiß sie, dass du hier bist?«
»Nein. Ich bin hier, weil wir Freunde sind.«
»Wir sind Freunde?«
Der Sarkasmus in meiner Stimme ließ Kim kreidebleich werden, doch das Mädchen war schon immer viel stärker gewesen, als es den Anschein gemacht hatte. Sie gab keinen Millimeter nach und machte auch keinerlei Anstalten, zu verschwinden. »Ja«, flüsterte sie.
»Na dann, meine liebe Freundin, sag doch mal: Hat Mia, deine Freundin, deine allerbeste Freundin, hat sie dir vielleicht erzählt, weshalb sie mich verlassen hat? Und das ohne eine Erklärung? Hat sie dir gegenüber zufällig was darüber gesagt? Oder hat sie nie über mich geredet?«
»Adam, bitte …« Ein Flehen lag in Kims Stimme.
»Nein, bitte, Kim. Bitte erklär es mir, denn ich hab echt keinen Schimmer.«
Kim holte tief Luft und baute sich in gerader Haltung vor mir auf. Ich konnte förmlich zusehen, wie die Entschlossenheit ihre Wirbelsäule emporkroch, Wirbel für Wirbel, ein Akt, mit dem sie mir ihre Kraft und ihre Loyalität demonstrierte. »Ich bin nicht hierhergekommen, um mit dir über Mia zu reden. Ich bin einfach gekommen, um dich wiederzusehen, und ich finde nicht, dass ich das Recht habe, mit dir über Mia zu reden oder umgekehrt.«
Sie hatte den Tonfall einer Sozialarbeiterin angenommen, die unparteiische Dritte, und dafür hätte ich sie am liebsten geohrfeigt. Wie eigentlich für alles. Doch stattdessen explodierte ich regelrecht. »Und was zum Teufel willst du dann hier? Wozu soll dein Besuch dann gut sein? Wer bist du denn für mich … ohne sie? Du bedeutest mir rein gar nichts! Du bist für mich ein Niemand!«
Kim machte ein paar unsichere Schritte rückwärts, doch als sie wieder zu mir aufblickte, sah sie mich voller Mitgefühl an. Sie war kein bisschen sauer auf mich. Und dafür wollte ich sie nur umso mehr erwürgen. »Adam …«, fing sie wieder an.
»Scher dich bloß raus hier«, knurrte ich. »Ich will dich nie wiedersehen!«
Das Problem mit Kim war nur, dass sie sich wirklich nichts zweimal sagen ließ. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging.
In dieser Nacht wanderte ich stundenlang in meinem Zimmer auf und ab, statt zu lesen oder zu schlafen. Und während ich so auf und ab ging und einen ausgetretenen Pfad in dem billigen Teppich meiner Eltern hinterließ, spürte ich, wie ein Fieber sich in mir auszubreiten schien. Es fühlte sich lebendig an und unvermeidlich, so wie ein schlimmer Kater bisweilen unweigerlich eine Kotzorgie zur Folge hat. Ich spürte, wie es sich seinen Weg durch meinen Körper bahnte, um Freilassung bat, bis es schließlich mit aller Gewalt nach draußen drang, sodass ich zunächst die Faust gegen die Wand rammte und sie dann, als das noch nicht die nötigen Schmerzen verursachte, auch noch in die Scheibe des Fensters drosch. Die Glasscherben schlitzten mir die Fingerknöchel auf, was einen befriedigenden Schmerz zur Folge hatte, der auch noch von einem Schwall kalter Luft begleitet wurde, der aus der frostigen Februarnacht ins Zimmer drang. Der Schock schien etwas geweckt zu haben, das tief in mir geschlummert hatte.
In jener Nacht griff ich nach fast einem Jahr das erste Mal wieder zur Gitarre. Und es war auch die Nacht, in der ich wieder anfing, Songs zu schreiben.
Innerhalb von nur zwei Wochen brachte ich zehn neue Songs zu Papier. Nach nur einem Monat formierte Shooting Star sich neu und probte die Songs. Nach zwei Monaten hatten wir bei einem Major-Label unterschrieben. Nach vier Monaten nahmen wir Collateral Damage auf, das insgesamt fünfzehn der Songs umfasste, die ich in der einsamen Abgeschiedenheit meines Kinderzimmers verfasst hatte. Und nach einem Jahr hatte Collateral Damage die Billboard-Charts erklommen, und Shooting Star tauchte auf den Covern aller großen Musikmagazine auf.
Seither kommt mir immer wieder mal der Gedanke, dass ich Kim entweder eine Entschuldigung oder ein Dankeschön schulde. Eigentlich beides. Doch als ich das erste Mal auf diesen Gedanken kam, schien es mir schon zu spät, noch irgendetwas in dieser Richtung zu unternehmen. Und, wenn ich ehrlich bin, weiß ich immer noch nicht, was ich ihr hätte sagen sollen.