21
Es kommt mir vor, als hätten wir stundenlang gespielt, tagelang, jahrelang. Vielleicht waren es auch nur ein paar Sekunden. Ich könnte es nicht genau sagen. Erst spielen wir schneller, dann werden wir wieder langsamer, wir bringen unsere Instrumente zum Kreischen. Wir werden ernst. Wir lachen. Wir werden still. Dann wieder laut. Mein Herz hämmert, der Groove geht mir ins Blut, mein ganzer Körper vibriert, als mir wieder ins Bewusstsein kommt: Ein Konzert bedeutet nicht, wie eine Zielscheibe vor Tausenden von Fremden zu stehen. Es bedeutet, mit anderen zusammenzukommen. Es bedeutet Harmonie.
Als wir endlich eine Pause einlegen, bin ich schweißgebadet, und Mia keucht schwer, als hätte sie gerade einen kilometerlangen Sprint hingelegt. Schweigend sitzen wir da, während unser keuchender Atem sich langsam wieder beruhigt und unsere Herzschläge sich normalisieren. Ich sehe auf die Uhr. Es ist schon nach fünf. Mia folgt meinem Blick. Sie legt den Bogen zur Seite.
»Was jetzt?«, fragt sie.
»Schubert? Die Ramones?«, frage ich zurück, obwohl ich genau weiß, dass sie normalerweise keine Musikwünsche erfüllt. Doch ich kann mir nichts anderes vorstellen, als weiterzuspielen, denn zum ersten Mal seit Langem ist da nichts, was ich lieber täte. Und ich habe Angst vor dem, was kommt, wenn die Musik vorbei ist.
Mia deutet auf die Digitaluhr, die auf dem Fensterbrett bedrohlich blinkt. »Ich glaub nicht, dass du deinen Flieger noch kriegst.«
Ich zucke die Achseln. Macht ja nichts, heute Abend gehen noch mindestens zehn weitere Flüge nach London. »Und du, schaffst du deinen?«
»Ich will meinen gar nicht kriegen«, sagt sie schüchtern. »Ich hab noch einen freien Tag, bevor ich mit den Auftritten beginne. Ich kann auch morgen noch fliegen.«
Plötzlich stelle ich mir Aldous vor, wie er in der Virgin-Departure-Lounge auf und ab geht und sich fragt, wo zum Teufel ich bleibe, während er auf meinem Handy anruft, das immer noch auf dem Nachttisch im Hotel liegt. Ich denke an Bryn, die dort in L. A. ist und keine Ahnung hat, dass hier in New York soeben ein Erdbeben stattfindet, das einen gewaltigen Tsunami in ihre Richtung schicken wird. Und mir wird klar, dass ich in erster Linie an das Hier und Jetzt denken sollte, bevor ich über die Zukunft nachsinne. »Ich muss ein paar Telefonate führen«, sage ich zu Mia. »Ich muss meinen Manager anrufen, er wartet auf mich … und Bryn.«
»Oh, klar, natürlich«, sagt sie. Sie wirkt plötzlich enttäuscht, während sie sich anschickt aufzustehen, und fast hätte sie in der Hektik das Cello umgeschmissen. »Das Telefon ist unten. Ich sollte auch mit Tokio telefonieren. Aber da ist es jetzt wohl mitten in der Nacht. Ich schreib besser eine E-Mail und ruf später an. Und meine Reiseagentur …«
»Mia«, unterbreche ich sie.
»Was denn?«
»Wir werden schon eine Lösung finden.«
»Meinst du?« Sie wirkt nicht ganz so überzeugt.
Ich nicke, auch wenn mein eigenes Herz wie wild rast und die Puzzleteile mir im Kopf herumschwirren. Mia drückt mir das schnurlose Telefon in die Hand. Ich gehe raus in den Garten, wo ich ungestört bin. Das Licht des Nachmittags verbreitet eine unglaublich friedliche Stimmung, verstärkt durch das unaufhörliche Zirpen der Zikaden. Aldous ist schon beim ersten Klingeln dran, und sobald ich seine Stimme vernehme und ihm wortreich versichere, dass ich in Ordnung bin, nimmt auf meinen Lippen der Plan Gestalt an, so als hätte ich ihn mir lange, lange vorher überlegt. Ich erkläre Aldous, dass ich nicht nach London komme, zumindest nicht jetzt, dass ich kein Musikvideo drehe oder irgendwelche Interviews gebe, dass ich aber pünktlich zum Start unserer Europatournee in England sein und kein einziges Konzert ausfallen lassen werde. Den Rest des Plans, der gerade in diesem Moment Formen annimmt – und ein Teil davon muss schon gestern Nacht dort auf der Brücke entstanden sein, wenn auch nur schemenhaft –, behalte ich allerdings für mich, was Aldous nicht entgeht, wie ich befürchte.
Ich kann Aldous nicht sehen, daher weiß ich nicht, ob er zwinkert oder zusammenzuckt oder überrascht guckt, aber er lässt sich nichts anmerken. »Du wirst also allen deinen Tourverpflichtungen nachkommen?«, fasst er noch einmal zusammen.
»Jep.«
»Und was soll ich dem Rest der Band mitteilen?«
»Sie können das Video ohne mich drehen, wenn sie wollen. Ich treff sie dann auf dem Guildford Festival«, sage ich. Das Guildford ist eins der größeren Musikfestivals in England, auf dem wir als Headliner auftreten, gleich zu Beginn der Tour. »Ich erklär ihnen dann alles.«
»Und wo bist du in der Zwischenzeit zu erreichen? Falls jemand was von dir braucht?«
»Sag bitte allen, dass sie nichts von mir zu brauchen haben«, erwidere ich.
Der nächste Anruf fällt mir schon viel schwerer. Ich wünschte, ich hätte mir nicht ausgerechnet den heutigen Tag ausgesucht, um mit dem Rauchen aufzuhören. Ich versuche es mit tiefen Atemzügen, wie die Ärzte es mir gezeigt haben, und dann wähle ich einfach die Nummer. Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit zehn Ziffern, heißt es nicht so?
»Dacht ich mir schon, dass du das bist«, sagt Bryn, als sie meine Stimme hört. »Hast du wieder mal dein Telefon verloren? Wo steckst du?«
»Ich bin immer noch in New York. Genauer gesagt in Brooklyn.« Ich mache eine kurze Pause. »Mit Mia.«
Bleierne Stille liegt in der Leitung, deshalb fülle ich diese Stille mit einem Monolog, der – was bewirken soll? Ich weiß es nicht: Vielleicht ist es der Versuch, die vergangene Nacht als Unfall abzutun, oder das Eingeständnis, dass es zwischen uns nie so richtig gut gelaufen ist, nie so, wie sie es sich immer gewünscht hat, und dass ich deshalb echt ein mieser Freund war für sie. Ich wünsche ihr noch viel Glück mit dem nächsten Kerl.
»Klar, darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagt sie mit einem gequälten Lachen, das nicht recht überzeugend rüberkommt. Eine lange Pause entsteht. Ich warte auf eine Schimpftirade ihrerseits, auf Anschuldigungen – all die Dinge, die jetzt eigentlich kommen sollten. Doch sie sagt keinen Ton.
»Bist du noch dran?«, frage ich.
»Ja, ich denke nach.«
»Worüber denn?«
»Ich überlege gerade, ob es mir lieber wäre, wenn sie damals gestorben wäre.«
»Himmelherrgott, Bryn!«
»Ach, halt die Klappe! Du brauchst dich gar nicht aufzuregen. Nicht jetzt. Und die Antwort lautet übrigens Nein. Ich bin froh, dass sie überlebt hat.« Sie hält kurz inne. »Bei dir bin ich mir allerdings nicht so sicher.« Dann legt sie auf.
Ich stehe da, den Hörer immer noch ans Ohr gepresst, und lasse mir Bryns letzte Worte durch den Kopf gehen. Ob da wohl ein kleines bisschen Vergebung in diesen feindseligen Worten mitschwang? Keine Ahnung, ob das wichtig ist, denn als ich jetzt die kühle Luft rieche, spüre ich, wie mich ein Gefühl der Befreiung und der Erleichterung überkommt.
Nach einer Weile sehe ich hoch. Mia steht an der Schiebetür und wartet auf eine Entwarnung. Ich winke ihr schwach zu, woraufhin sie langsam auf die gepflasterte Veranda zugeht, auf der ich immer noch mit dem Telefon in der Hand stehe. Sie greift nach dem Hörer, so als wäre er ein Staffelstab, den ich nun abgeben soll. »Alles in Ordnung?«, erkundigt sie sich.
»Ich bin wohl ab jetzt von meinen früheren Verpflichtungen entbunden, könnte man sagen.«
»Die Tour?« Sie klingt überrascht.
Ich schüttle den Kopf. »Nicht die Tour. Aber der ganze Mist, den ich davor hätte erledigen müssen. Und meine anderen … äh … Verpflichtungen.«
»Oh.«
Wir stehen beide eine Zeit lang bloß da und grinsen wie blöd, während wir uns beide am Telefon festklammern. Endlich gebe ich auf und entwinde es sanft ihrem Griff. Ich lege das Telefon auf einen Tisch, doch ihre Hand lasse ich nicht los.
Ich streife mit dem Daumen über die Schwielen an ihrem Daumen, hin und her über ihre Knöchel und ihr Handgelenk. Es kommt mir so vor, als wäre das ganz natürlich und zugleich ein riesiges Privileg. Das ist Mia, die ich hier berühre. Und sie lässt es zu. Nein, sie lässt es nicht einfach nur zu, sie schließt sogar die Augen und genießt meine Berührung.
»Geschieht das hier wirklich? Darf ich echt diese Hand halten?«, frage ich und hebe sie an meine stoppelige Wange.
Mias Lächeln ist wie geschmolzene Schokolade, wie ein verdammt geiles Gitarrensolo … Es ist überhaupt das Beste auf der ganzen Welt. »Mmmm«, brummt sie als Antwort.
Ich ziehe sie an mich. Tausend Sonnen steigend strahlend aus meiner Brust empor. »Und darf ich auch das hier tun?« Und mit dieser Frage schlinge ich meine Arme um sie und tanze mit ihr engumschlungen durch den Garten.
Ihr Gesicht strahlt jetzt über und über. »Ja, du darfst«, flüstert sie.
Ich lasse meine Hände an ihren Armen auf und ab gleiten. Ich drehe sie um die Pflanztöpfe herum, die voller duftender Blumen sind. Ich vergrabe mein Gesicht in ihrem Haar und sauge ihren Duft auf, den Duft des nächtlichen New York, der sich dort festgekrallt hat. Ich folge ihrem Blick nach oben gen Himmel.
»Glaubst du, dass sie uns zusehen?«, frage ich, während ich ganz sanft die Narbe an ihrer Schulter küsse. Brennende Pfeile rauschen herab und dringen in jeden Winkel meines Körpers.
»Wen meinst du?«, erkundigt sich Mia. Sie beugt sich zu mir, fröstelt leicht.
»Deine Familie. Du denkst doch, dass sie dich beobachten. Glaubst du, dass sie das hier jetzt sehen können?« Ich schlinge ihr den Arm um die Hüfte und küsse sie direkt hinterm Ohr. Früher hat sie das fast verrückt gemacht, und so heftig wie sie jetzt einatmet und mir die Nägel in die Seiten krallt, gefällt es ihr immer noch. Mir fällt auf, dass meine Fragen ein kleines bisschen unheimlich sind, aber es fühlt sich nicht so an. Gestern Nacht hat mich der Gedanke, ihre Familie könnte Bescheid wissen über alles, was ich tue, irgendwie beschämt, aber jetzt, na ja, es ist zwar nicht so, dass ich unbedingt möchte, dass sie es sehen, aber ich will zumindest, dass sie darüber, über uns, Bescheid wissen.
»Ich stell mir lieber vor, dass sie mir meine Privatsphäre lassen«, meint sie und öffnet sich den Küssen, die ich auf ihrer Wange platziere, wie eine Sonnenblume. »Aber meine Nachbarn können das mit Sicherheit beobachten.« Sie fährt mir mit den Fingern durchs Haar, sodass es sich anfühlt, als hätte sie einen Stromstoß über meine Kopfhaut gejagt. Nie hätte ich gedacht, dass ein Stromstoß sich so gut anfühlen könnte.
»Hallo, Nachbarn«, sage ich, während ich mit den Fingern ganz langsam und zärtlich um ihr Schlüsselbein kreise.
Ihre Hände gleiten unter mein T-Shirt, mein dreckiges, stinkendes schwarzes, zum Glück glückbringendes Glücks-T-Shirt. Ihre Berührungen sind nicht mehr ganz so sanft. Sie wird fordernder, sendet mir mit den Fingerkuppen eine drängende Botschaft im Morsecode. »Wenn wir so weitermachen, dann kriegen meine Nachbarn aber ganz schön was zu sehen«, flüstert sie mir zu.
»Wir sind doch beide von Berufs wegen darstellende Künstler«, erwidere ich und lasse meine Hände unter ihr Hemd und dann den langen Oberkörper rauf und wieder runter gleiten. Unser beider Haut drängt sich aneinander, als handle es sich dabei um zwei Magneten, die schon lange nach ihrem Gegenstück suchen.
Ich wandere mit dem Finger über ihren Nacken, ihre Wange entlang und nehme dann ihr Kinn in die Hand. Ich rühre mich nicht mehr. Wir stehen einen Augenblick so da, starren uns gegenseitig an, genießen den Moment. Und dann prallen wir plötzlich aufeinander. Mias Beine heben vom Boden ab, schlingen sich um meine Hüften, ihre Hände vergraben sich in meinem Haar, meine Hände in ihre verkrallt. Und unsere Lippen. Sie scheinen nicht genug Haut, nicht genug Speichel, nicht genug Zeit zur Verfügung zu haben, um all die verlorenen Jahre nachzuholen, als sie nun aufeinandertreffen. Wir küssen uns. Wir stehen unter Hochspannung. Wahrscheinlich flackern gerade in diesem Moment die Lichter in ganz Manhattan, weil wir einen Kurzschluss erzeugen.
»Nach drinnen!«, drängt Mia, halb im Befehlston, halb flehentlich. Ihre Beine sind immer noch um meine Hüften geschlungen. Ich trage sie rein in ihr winziges Zuhause und lege sie auf die Couch, auf der wir vor ein paar Stunden noch getrennt voneinander und doch zusammen geschlafen haben.
Dieses Mal allerdings sind wir hellwach. Und so richtig zusammen.
Wir schlafen ein, wachen aber mitten in der Nacht auf, vom Heißhunger geweckt. Wir bestellen uns was zu essen und nehmen es mit hoch ins Bett, wo wir es verschlingen. All das kommt mir vor wie ein Traum, wobei das Unglaublichste ist, dass ich im Morgengrauen erwache. Neben Mia. Ich sehe ihren schlafenden Körper da liegen und bin plötzlich so glücklich wie noch nie. Ich ziehe sie an mich und schlafe wieder ein.
Als ich jedoch ein paar Stunden später erneut aufwache, sitzt Mia mit angewinkelten Beinen in einem Sessel am Fenster, eingehüllt in eine alte Decke, die ihre Gran gehäkelt hat. Sie sieht bezaubernd aus. Die Furcht, die mich in dem Moment wie eine Granate mitten in die Eingeweide trifft, ist fast so schlimm wie alles, was ich mit ihr bisher durchgemacht habe. Und das will wirklich etwas heißen. Alles, was ich denken kann, ist: Ich kann dich kein zweites Mal verlieren. Denn dieses Mal würde es mich umbringen, garantiert.
»Was ist los, stimmt was nicht?«, frage ich, bevor ich nicht mehr den Mut habe, es zu tun, und stattdessen etwas völlig Bescheuertes mache, wie zum Beispiel abhauen, bevor mein Herz völlig in Flammen steht.
»Ich hab bloß gerade an die Highschool denken müssen«, meint Mia traurig.
»Na, da würde ja echt jeder schlechte Laune kriegen.«
Mia geht nicht darauf ein. Sie verzieht keine Miene. Kraftlos sackt sie in ihrem Sessel zusammen. »Ich hab mir überlegt, dass wir wieder einmal in derselben Situation sind. Wie damals, als ich auf die Juilliard ging und du dich aufmachtest, um dahin zu kommen, wo du jetzt bist.« Sie sieht zu Boden, wickelt sich einen Faden der Decke um den Finger, bis die Kuppe ganz weiß wird. »Nur dass wir damals mehr Zeit hatten, uns darüber Gedanken zu machen. Und jetzt haben wir gerade mal einen Tag, vielmehr hatten wir einen Tag. Die vergangene Nacht war einfach unglaublich, aber es war nun mal nur eine Nacht. Ich muss in etwa sieben Stunden nach Japan aufbrechen. Und du hast deine Band. Und die Tour.« Sie presst sich die Handballen auf die Augen.
»Mia, hör sofort auf damit!« Meine Stimme hallt von den Schlafzimmerwänden wider. »Wir sind doch nicht mehr in der Highschool!«
Sie sieht mich an, und eine unausgesprochene Frage schwebt zwischen uns im Raum.
»Sieh mal, meine Tour fängt doch erst in einer Woche an.«
Ein Funken Hoffnung scheint aufzuflackern.
»Und weißt du was? Ich dachte vorhin schon, dass ich total Lust auf Sushi hätte.«
Ihr Lächeln wirkt traurig und voller Reue, nicht gerade das, was ich mir erhofft hatte. »Du würdest mit mir nach Japan kommen?«, fragt sie ungläubig.
»Ich bin schon so gut wie da.«
»Das wäre schön. Aber was dann? – Ich meine, mir ist klar, dass wir eine Lösung finden könnten, aber ich werde so viel unterwegs sein und …«
Wie ist es nur möglich, dass es so schwer für sie ist, es zu begreifen, wo es doch für mich ganz klar auf der Hand liegt? »Ich komme einfach immer als deine Begleitung mit zu den Konzerten«, erkläre ich ihr. »Als dein Groupie. Dein Roadie. Dein Was-auch-immer. Wo auch immer du hingehst, ich komme mit dir. Sofern du es willst. Wenn nicht, verstehe ich das auch.«
»Nein, ich will es ja genauso. Glaub mir, ich will es. Aber wie soll das funktionieren? Bei deinem Terminplan? Mit der Band?«
Ich zögere kurz. Wenn ich es jetzt laut ausspreche, dann wird es ein für alle Mal zur Realität. »Es gibt keine Band mehr. Zumindest nicht für mich. Ich hör damit auf. Nach dieser Tour steige ich aus.«
»Nein!« Mia schüttelt so heftig den Kopf, dass die langen Haarsträhnen gegen die Wand klatschen. Diesen entschlossenen Gesichtsausdruck von ihr kenne ich nur allzu gut, und mein Magen verkrampft sich. »Das kannst du doch nicht für mich auf dich nehmen«, sagt sie, ihre Stimme jetzt weicher. »Ich will nicht schon wieder einen Freifahrtschein.«
»Einen Freifahrtschein?«
»Die letzten drei Jahre hat jeder, außer vielleicht die Leute an der Juilliard, mir immer und überall grünes Licht gegeben. Noch schlimmer, ich hab mir ja sogar selbst freie Fahrt gewährt, und das hat mich ganz und gar nicht weitergebracht. Ich will nicht mehr so sein, diese Person, der alles zufliegt, die sich nur nehmen muss, was sie braucht. Ich habe schon viel zu viel von dir angenommen. Ich werde nicht zulassen, dass du das, was du am meisten liebst, wegwirfst, nur damit du dich um mich kümmern kannst und mir mein Gepäck hinterherträgst.«
»Genau das ist der Punkt«, murmele ich. »Ich habe meine Liebe zur Musik verloren.«
»Ja, meinetwegen«, stöhnt Mia gequält.
»Nein, das Leben selbst ist schuld«, erwidere ich. »Ich werde immer Musik machen. Vielleicht geh ich sogar irgendwann wieder ins Studio und nehm was auf, aber im Augenblick brauch ich nichts dringender als eine Auszeit, um mich zu erinnern, warum ich ursprünglich mal mit der Musik angefangen habe. Ich verlasse die Band, ganz gleich was kommt. Damit hast du nichts zu tun. Und was das Kümmern anbelangt, so bin allenfalls ich derjenige, der jemanden braucht, der sich um mich kümmert. Ich bin derjenige, dem man bei seiner schweren Last tragen helfen muss.«
Ich versuche, es wie einen Witz klingen zu lassen, aber Mia hat mich schon immer durchschaut, wenn ich solchen Mist von mir gegeben habe; und in den letzten vierundzwanzig Stunden hat sie das wieder mal bewiesen.
Sie sieht mich mit ihren Laseraugen durchdringend an. »Weißt du, genau darüber habe ich in den vergangenen Jahren oft nachgedacht«, sagt sie mit erstickter Stimme. »Darüber, wer denn damals eigentlich für dich da war. Wer deine Hand gehalten hat, während du um all das getrauert hast, was du verloren hast.«
Mias Worte treten eine Lawine in mir los, und plötzlich ist mein Gesicht wieder tränenüberströmt. Himmel, ich hab drei ganze Jahre nicht geheult, und jetzt heule ich schon das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen.
»Jetzt ist es an mir, endlich einmal für dich da zu sein«, flüstert sie und kommt zurück zu mir, um mich mit ihrer Decke einzuhüllen, während ich ein weiteres Mal völlig die Fassung verliere. Sie hält mich fest, bis ich mich wieder meines Y-Chromosoms besinne. Dann sieht sie mich direkt an, ein leicht distanzierter Ausdruck im Gesicht. »Dein Festival fängt nächsten Samstag an, stimmt’s?«, erkundigt sie sich.
Ich nicke zustimmend.
»Ich habe zwei Auftritte in Japan und dann noch einen in Korea am Donnerstag. Also könnte ich am Freitag schon wieder weg, und wenn man in Richtung Westen fliegt, gewinnt man ja sowieso einen Tag. Ich hab erst wieder eine Woche später einen Termin in Chicago. Wir könnten also direkt von Seoul nach London fliegen.«
»Was sagst du da?«
Sie wirkt so schüchtern, als sie die nächste, die entscheidende Frage stellt, als bestünde tatsächlich der Hauch einer Chance, dass ich Nein sagen könnte, als wäre es nicht genau das, was ich mir immer gewünscht habe.
»Kann ich mit dir zu dem Festival kommen?«