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Das erste Mal, dass ich Mia Hall sah, war vor sechs Jahren. An unserer Highschool gab es diesen künstlerischen Zweig, und wenn man sich für Musik als Wahlfach entschied, dann konnte man Musikunterricht nehmen oder sich wahlweise für selbstständige Übungsstunden im schuleigenen Studio eintragen. Mia und ich haben beide die selbstständigen Übungsstunden gewählt.
Ich hatte sie ein paarmal auf ihrem Cello spielen sehen, aber sie nie wirklich registriert. Ich meine, sie war schon süß und so, aber nicht ganz mein Typ. Sie war eine klassische Musikerin. Und ich war Rocker. Wie Hund und Katze waren wir quasi.
Ich habe sie nicht ernsthaft bemerkt bis zu dem Tag, als ich sie einmal nicht spielen sah. Sie saß einfach nur so in einer der schallgeschützten Kabinen, hatte ihr Cello gegen ihr Knie gelehnt, und ihren Bogen hielt sie ein paar Zentimeter über den Saiten. Ihre Augen waren geschlossen, die Brauen leicht gerunzelt. Sie saß so still, dass es schon den Anschein hatte, als hätte sie sich für eine Weile aus ihrem Körper zurückgezogen, um Urlaub zu machen. Und obwohl sie absolut regungslos dasaß, obwohl ihre Augen geschlossen waren, wurde mir in dem Moment klar, dass sie irgendeiner Musik lauschte, dass sie in der Stille nach Noten griff, wie ein Eichhörnchen, das Eicheln für den Winter sammelt, ehe sie sich daranmachen würde, die Noten zu spielen. Ich stand dort, plötzlich wie gefesselt von ihr, bis sie aufzuwachen schien und mit dieser unglaublich intensiven Konzentration zu spielen begann. Als sie mich schließlich ansah, machte ich mich schnell vom Acker.
Von da an war ich irgendwie fasziniert von ihr und von ihrer offensichtlichen Fähigkeit, Musik in der Stille zu hören. Damals wollte ich das auch gern können. Deshalb habe ich ihr immer öfter beim Spielen zugehört, und obwohl ich mir selbst einzureden versuchte, dass mein Interesse an ihr allein darauf basierte, dass sie eine derart hingebungsvolle Musikerin war, mir nicht unähnlich, war es in Wirklichkeit so, dass ich unbedingt verstehen wollte, was sie aus der Stille heraushörte.
Die ganze Zeit, die wir zusammen waren, habe ich das, glaube ich, nie so recht begriffen. Aber als ich erst mal mit ihr zusammen war, brauchte ich das auch gar nicht mehr. Wir waren beide wie besessen von der Musik, jeder auf seine eigene Weise. Wenn wir jeweils die Besessenheit des anderen nicht ganz verstanden, so war das nicht von Bedeutung, denn immerhin verstanden wir jeder unsere eigene.
Ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, von dem Mia da spricht. Kim und ich waren zusammen in Sarahs pinkfarbenem Dodge Dart ins Krankenhaus gefahren. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich Liz’ Freundin gebeten hatte, mir ihr Auto zu leihen. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, den Wagen je gefahren zu haben. Weder weiß ich, wie ich das Auto hoch auf den Hügel gelenkt habe, auf dem das Krankenhaus steht, noch weiß ich, woher ich den Weg kannte. Kurze Zeit vorher war ich noch in einer Halle im Zentrum von Portland zum Soundcheck für die an diesem Abend geplante Show gewesen, als plötzlich Kim aufgetaucht war, um mir die schrecklichen Neuigkeiten mitzuteilen. Und ehe ich es mich versah, stand ich auch schon dort draußen vor dem Krankenhaus.
Das, woran Mia sich da erinnert, war im Grunde der erste lichte Moment nach einer Phase, in der ich alles nur verschwommen wahrnahm wie in einer Petrischale, in der Zeit zwischen dem Eintreffen der Nachricht und meiner Ankunft an der Unfallstation. Kim und ich hatten gerade den Wagen geparkt, und ich war vor ihr aus der Parkgarage rausmarschiert. Ich brauchte ein paar Sekunden, um meine Kräfte zu sammeln, um mich gegen das zu wappnen, was ich gleich sehen würde. Und ich erinnere mich, wie ich vor dem riesigen Krankenhausgebäude stand und mir vorstellte, dass Mia irgendwo da drinnen war. Und in dem Moment klopfte mir vor Panik das Herz bis zum Hals, als ich mir vorstellte, sie könnte in der Zeit, die Kim gebraucht hatte, mich zu holen, gestorben sein. Doch dann hatte mich plötzlich eine Welle erfasst, zwar keine Welle der Hoffnung, auch nicht der Erleichterung, aber irgendwie wusste ich, dass Mia noch da war. Und das hatte dafür ausgereicht, dass ich durch die Tür nach drinnen ging.
Man sagt ja immer, dass es für alles einen Grund gibt, aber ich weiß nicht, ob ich davon überzeugt bin. Ich glaube kaum, dass ich jemals einen Sinn darin sehen könnte, was Kat, Denny und Teddy an jenem Tag zugestoßen ist. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich Mia endlich sehen konnte. Die Krankenschwestern wollten mich nicht zu ihr auf die Intensivstation lassen, weshalb Kim und ich uns einen Plan ausdachten, wie wir uns doch würden reinschleichen können. Ich glaube nicht, dass mir das damals klar war, aber seltsamerweise schien ich das irgendwie hinauszögern zu wollen. Ich musste erst Kräfte sammeln. Ich wollte doch nicht vor ihren Augen zusammenbrechen. Ich schätze, ein Teil von mir wusste, dass Mia das selbst tief im Koma bemerken würde.
Natürlich bin ich dann trotz allem in ihrer Gegenwart zusammengebrochen. Als ich sie nämlich das erste Mal so sah, da hätte ich fast gekotzt. Ihre Haut wirkte bleich wie ein Taschentuch. Ihre Augen waren verbunden. Überall an ihrem Körper waren Schläuche befestigt, die diverse Flüssigkeiten und Blut in sie hineinpumpten und irgendein grässlich aussehendes Zeug aus ihr herauslaufen ließen. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber als ich das Zimmer betrat, da wollte ich auf der Stelle wieder kehrtmachen und wegrennen.
Doch ich konnte es nicht. Ich hätte es auch nie getan. Deshalb konzentrierte ich mich auf den Teil von Mia, der ihr immer noch entfernt ähnelte – ihre Hände. An ihre Fingerkuppen waren Monitore angeschlossen, doch ihre Hände sahen immer noch so aus wie früher. Ich berührte die Fingerspitzen ihrer linken Hand, die sich abgenutzt, aber weich anfühlten wie altes Leder. Ich strich mit den Fingern über die knubbeligen Schwielen an ihrem Daumen. Ihre Hände waren eiskalt, so wie immer. Deshalb wärmte ich sie ihr, ebenfalls wie immer.
Und während ich ihre Hände so wärmte, dachte ich darüber nach, was für ein Glück es doch war, dass sie so aussahen, als wären sie in Ordnung. Denn ohne Hände gäbe es für sie keine Musik, und ohne die Musik wäre ihr wirklich nichts mehr geblieben. Ich erinnere mich noch, wie ich dachte, dass Mia sich darüber ebenfalls würde klar werden müssen. Dass man sie daran erinnern musste, dass da immer noch die Musik war, zu der sie zurückkehren konnte. Dann rannte ich aus der Intensivstation, obwohl ein Teil von mir befürchtete, ich könnte sie nie wiedersehen, solange sie noch lebte, doch irgendetwas sagte mir, dass ich diese eine Sache erledigen musste. Als ich zurückkam, spielte ich ihr ein Stück von Yo-Yo Ma vor.
Und das war auch der Moment, als ich ihr mein Versprechen gab. Das Versprechen, das sie mich hat einlösen lassen. Ich habe das Richtige getan. Das weiß ich jetzt. Ich muss es schon immer gewusst haben, doch es war schwer, das in meinem Zorn zu akzeptieren. Und es ist in Ordnung, wenn sie jetzt sauer ist. Es ist sogar in Ordnung, wenn sie mich hasst. Klar, es war egoistisch von mir, sie darum zu bitten, auch wenn es sich letzten Endes als das Beste herausstellte, was ich je in meinem Egoismus getan hatte. Etwas, das ich auch weiterhin würde tun müssen.
Doch ich würde es jederzeit wieder tun. Das immerhin ist mir jetzt klar. Ich würde ihr dieses Versprechen wieder und wieder geben und sie wieder und wieder freiwillig verlieren, nur damit sie spielen kann wie am vergangenen Abend oder damit ich sie im morgendlichen Sonnenschein sehen darf. Und auch sonst würde ich es wieder genauso machen. Allein um die Gewissheit zu haben, dass sie irgendwo dort draußen ist. Und zwar am Leben.
Mia sieht mir dabei zu, wie ich hier auf dieser Promenade die Fassung verliere. Sie wird Zeugin, wie die Risse sich immer weiter öffnen, wie die Lava daraus hervortritt, wie diese megamäßige Explosion vor sich geht, die, wie mir scheint, in ihren Augen Schmerz zutage treten lässt.
Doch ich weine nicht, weil es wehtut. Ich weine aus reiner Dankbarkeit.