10
Pistolenlauf, Runden eins, zwei und drei,
Du oder ich, sie stellt es mir frei.
Metall berührt Schläfe, tödliche Explosion,
Leck das Blut von meinem Leib,
Einzig Überlebende stößt mich vom Thron.
»Roulette«, Collateral Damage, Song Nummer 11
Nachdem wir das Diner verlassen haben, werde ich plötzlich nervös. Weil wir uns über den Weg gelaufen sind. Der Höflichkeit halber sind wir dann noch zusammengeblieben, um uns gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen, doch was bleibt jetzt noch zu tun, außer uns zu verabschieden? Dazu bin ich allerdings ganz und gar nicht bereit. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es kein nächstes Mal geben wird mit Mia, und ich werde den Rest meines Lebens von diesem einen Abend zehren müssen. Deshalb hätte ich gern ein bisschen mehr gehabt als einen Parkplatz, Gespräche über Arthritis und eine misslungene Entschuldigung.
Jetzt kommt es mir so vor, als würde die Vollstreckung des Urteils mit jedem Block, den wir weitergehen, ohne dass Mia ein Taxi anhält und sich entschuldigt und verabschiedet, aufgeschoben. Aus dem Geräusch, das meine Schritte auf dem Bürgersteig verursachen, kann ich das Wort Galgenfrist, das durch die nächtlichen Straßen hallt, gerade noch so heraushören.
Schweigend gehen wir nebeneinanderher auf einem ruhigen, ziemlich heruntergekommenen Abschnitt der Ninth Avenue.
In einer eher muffigen Unterführung hausen ein paar Obdachlose. Einer bittet uns um ein bisschen Kleingeld. Ich werfe ihm einen Zehner zu. Ein Bus fährt vorüber und stößt eine stinkende Abgaswolke aus.
Mia deutet mit ihrem Finger auf die andere Straßenseite. »Da ist das Port-Authority-Busterminal«, meint sie.
Ich nicke nur, weil ich mir nicht sicher bin, ob wir uns jetzt so ausgiebig über Bushaltestellen unterhalten werden wie vorhin über Parkplätze oder ob sie vorhat, mich ausgerechnet hier wegzuschicken.
»Da drinnen gibt es eine Bowlingbahn«, erklärt sie mir.
»Wie, in dem Busterminal?«
»Schon verrückt, was?«, ruft Mia, plötzlich total lebhaft. »Ich konnte es auch kaum glauben. Ich kam gerade spätabends von einem Besuch bei Kim aus Boston zurück und hab mich auf dem Weg nach draußen verlaufen, und da sah ich es. Es erinnerte mich irgendwie an die Eiersuche an Ostern. Weißt du noch, wie toll Teddy und ich das immer fanden?«
Ich erinnere mich genau, wie toll Mia das immer fand. Sie war scharf auf jeden Feiertag, der irgendwie mit Süßigkeiten zu tun hatte – und vor allem wollte sie immer, dass auch Teddy Spaß daran fand. Einmal hat sie an Ostern mühsam hartgekochte Eier angemalt und für Teddys Eiersuche am nächsten Morgen versteckt. Dann aber hat es die ganze Nacht über ziemlich heftig geregnet, und die ganzen schönen bunten Eier waren hinterher ganz grau gefleckt. Mia war so enttäuscht, dass sie weinte, aber Teddy hat sich vor lauter Aufregung fast nicht mehr eingekriegt – die Eier, so verkündete er, seien keine Ostereier: Es seien eindeutig Dinosauriereier.
»Ja, ich erinnere mich«, sage ich.
»Dafür lieben ja alle New York. Die Kultur. Die unterschiedlichen Leute, die hier leben. Das Tempo. Das Essen. Aber für mich ist es wie eine endlose Eiersuche. Immer wieder findet man an jeder Ecke neue Überraschungen. Wie diesen Garten zum Beispiel. Oder eine Bowlingbahn in einem riesigen Busterminal. Weißt du …« Sie hält inne.
»Was denn?«
Sie schüttelt den Kopf. »Wahrscheinlich hast du heute Abend schon was vor. Einen Clubbesuch … eine Korona von Leuten, die du treffen musst.«
Ich verdrehe die Augen. »Ich habe kein Gefolge, Mia.« Das kommt ruppiger raus, als es meine Absicht ist.
»Ich hab das doch nicht als Beleidigung gemeint. Ich dachte nur, dass alle Rockstars und Berühmtheiten mit einem Pulk von Leuten auf Reisen gehen.«
»Hör auf, Dinge einfach so anzunehmen. Ich bin immer noch ich.« Na ja, irgendwie.
Sie wirkt überrascht. »Okay. Du musst also nicht noch irgendwo hin?«
Ich schüttle den Kopf.
»Schon spät. Musst du denn nicht ins Bett?«
»Ach, in letzter Zeit schlaf ich nicht besonders viel. Ich kann ja im Flieger schlafen.«
»Aha …« Mia kickt mit dem Fuß Müll zur Seite, und jetzt wird mir klar, dass sie immer noch nervös ist. »Dann lass uns doch auf eine kleine Eiersuche in der Stadt gehen.« Sie schweigt kurz, dann mustert sie mich, scheinbar um abzuschätzen, ob ich auch verstehe, was sie da sagt, und natürlich weiß ich genau, was sie meint. »Ich zeig dir die ganzen geheimen Ecken, die ich in New York so sehr liebe.«
»Und warum?«, will ich von ihr wissen. Und kaum habe ich diese Frage gestellt, würde ich mir am liebsten in den Hintern beißen. Du hattest deine Galgenfrist, jetzt sei bloß still! Doch irgendwas in mir will die Antwort wissen. Ich habe zwar keine Ahnung, warum ich heute Abend überhaupt zu ihrem Konzert gegangen bin, aber noch weniger verstehe ich, weshalb sie mich hat zu sich holen lassen. Denn dadurch kam es schließlich überhaupt dazu, dass ich jetzt mit ihr hier bin.
»Weil ich es dir ganz einfach gern zeigen möchte«, erklärt sie kurzerhand. Ich starre sie an und warte darauf, dass sie dies näher erläutert. Während sie nach Worten sucht, runzelt sie die Stirn. Dann scheint sie plötzlich aufzugeben. Sie zuckt nur mit den Schultern. Nach einer Weile startet sie einen neuen Versuch: »Außerdem geh ich zwar nicht wirklich weg von New York, aber in gewisser Weise halt doch. Ich fliege morgen nach Japan, um zwei Konzerte zu geben, und hinterher noch eins in Korea. Dann komme ich für eine Woche nach New York zurück, und erst danach geht die Tour richtig los. Ich werde wahrscheinlich vierzig Wochen im kommenden Jahr auf Tour sein, deshalb …«
»Dir bleibt also nicht mehr viel Zeit fürs Eiersuchen, was?«
»Ja, das ist es wahrscheinlich.«
»Also eine Art Abschiedstour?« Abschied von New York? Oder von mir? Ein bisschen zu spät, als dass sie mir gelten könnte.
»Ja, so könnte man es wohl sehen«, erwidert Mia.
Ich zögere kurz, so als würde ich tatsächlich darüber nachdenken, als würde ich die verschiedenen Möglichkeiten abwägen, als würde ich überlegen müssen, ob ich ihre Einladung annehme. Dann zucke ich ebenfalls mit den Schultern und gebe mich gut gelaunt. »Klar, warum eigentlich nicht?«
Vor dem Busbahnhof kommen mir allerdings Zweifel, ob ich dort unerkannt bleiben werde. Deshalb setze ich meine Sonnenbrille und meine Mütze auf, bevor wir da reingehen. Mia führt mich durch eine Halle mit orangefarbenen Fliesen, und der Duft von Tannennadel-Desinfektionsspray kann den Geruch von Pisse nicht vollständig überdecken. Wir fahren eine Reihe von Rolltreppen hoch, an geschlossenen Zeitungsständen und Fastfood-Restaurants vorbei, noch mehr Rolltreppen hoch, bis zu einer Neonleuchtreklame, auf der Freizeit-Bowling steht.
»Da wären wir«, meint sie schüchtern, aber zugleich stolz. »Seit ich es zufällig entdeckt habe, ist es mir zur Gewohnheit geworden, dass ich jedes Mal kurz reinschaue, wenn ich hier im Busbahnhof bin. Und dann bin ich irgendwann öfter nur so zum Spaß hergekommen. Manchmal sitze ich einfach bloß an der Bar und bestelle Nachos und guck den Leuten beim Bowlen zu.«
»Und warum bowlst du nicht selbst?«
Mia legt den Kopf schief, dann tippt sie sich an den Ellbogen.
Ah, ihr Ellbogen. Ihre persönliche Achillesferse. Eins der wenigen Körperteile, die bei dem Unfall nicht verletzt wurden, die nicht eingegipst waren oder mit Nägeln wieder zusammengenietet werden mussten oder an denen ihr Haut transplantiert wurde. Doch als sie schließlich wieder mit dem Cellospielen begann, in dem verzweifelten Versuch, wieder sie selbst zu sein, da fing er an wehzutun. Er wurde geröntgt. Eine Magnetresonanztomografie wurde durchgeführt. Die Ärzte konnten kein Problem feststellen und erklärten ihr, es könne sich um eine Prellung handeln oder um einen gequetschten Nerv, und sie schlugen vor, sie solle etwas weniger üben, was Mia natürlich gar nicht gefiel. Sie meinte, wenn sie nicht spielen könne, dann bliebe ihr nichts mehr. Und was ist mit mir?, dachte ich, aber ich sprach es nie laut aus. Egal, sie hörte nicht auf die Ärzte und erduldete die Schmerzen, und entweder wurde es irgendwann besser, oder sie gewöhnte sich schlichtweg daran.
»Ich habe hin und wieder versucht, ein paar Leute von der Juilliard dazu zu bringen, mit mir hierherzukommen, aber keiner hatte Lust. Macht aber nichts«, meint sie. »Ich mag diesen Ort. So vollkommen abgeschieden hier oben. Ich muss gar nicht unbedingt bowlen, um mich hier wohl zu fühlen.«
Dein Garten-Eden-Freund ist sich also zu gut für schmierige Diner und Bowlingbahnen, wie?
Mia und ich gingen früher auch gern bowlen, manchmal nur zu zweit und manchmal mit ihrer ganzen Familie. Kat und Denny sind immer gern bowlen gegangen; hatte wohl damit zu tun, dass Denny so ein Retrofan war. Sogar Teddy war ziemlich gut darin. Ob es dir gefällt oder nicht, Mia Hall, aber in deinen Adern fließt der Grunge, deiner Familie sei Dank. Und vielleicht verdankst du das ein klein wenig auch mir.
»Wir könnten doch jetzt gleich bowlen gehen«, schlage ich vor.
Mia lächelt angesichts meines Vorschlags. Dann tippt sie sich wieder an den Ellbogen. Sie schüttelt den Kopf.
»Du musst ja nicht selbst bowlen«, erkläre ich. »Ich mach das. Und du kannst zusehen. Ich tu es nur für dich. Ich könnte aber auch für uns beide bowlen. Ich finde, du solltest schon eine Runde spielen hier, wenn das schon deine Abschiedstour ist.«
»Das würdest du für mich tun?« Und es ist der überraschte Ton in ihrer Stimme, der mich trifft.
»Klar, warum nicht? Ich war seit einer Ewigkeit nicht mehr bowlen.« Das stimmt leider nicht so ganz. Bryn und ich waren vor einigen Monaten für irgendeine Charitysache bowlen. Wir haben für eine Stunde auf der Bahn zwanzigtausend Dollar bezahlt, für irgendeinen guten Zweck, und dann haben wir nicht mal richtig gespielt; wir tranken nur Champagner, während Bryn sich unterhielt. Mal ehrlich, wer trinkt denn auf einer Bowlingbahn Champagner?
Im Freizeit-Bowling riecht es nach Bier – und nach Wachs und Hotdogs sowie Schuhdesinfektionsspray. Genau so sollte eine Bowlingbahn riechen. Die Bahnen sind voll von außergewöhnlich unattraktiven Menschen, die tatsächlich nur wegen des Bowlens hier zu sein scheinen. Sie würdigen uns keines zweiten Blickes; in Wahrheit sehen sie uns überhaupt nicht an. Ich buche eine Bahn für uns und leihe für jeden von uns ein Paar Schuhe aus. Das volle Programm eben.
Mia ist total aufgeregt, als sie ihre Schuhe anprobiert. Sie wählt einen pinkfarbenen Achtpfünder für Damen aus, den ich für sie werfen soll.
»Wie steht’s mit den Namen?«, erkundigt sich Mia.
Früher haben wir uns immer Namen von Musikern gegeben; sie wählte meist den Namen irgendeiner weiblichen Oldschool-Punkikone, und ich entschied mich für einen männlichen klassischen Musiker. Joan und Frédéric. Oder Debbie und Ludwig …
»Such du sie aus«, sage ich, weil ich mir nicht ganz sicher bin, wie viel von der Vergangenheit wir hier wiederaufleben lassen wollen. Bis ich die Namen sehe, die sie notiert. Und dann haut es mich fast um. Kat und Denny.
Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt, ist es ihr peinlich. »Sie haben auch immer gern gebowlt«, erklärt sie hastig und ändert dann die Namen in Pat und Lenny ab. »Wie findest du die?«, erkundigt sie sich jetzt, ein bisschen zu betont fröhlich für meinen Geschmack.
Nur zwei Buchstaben fehlen zum Morbiden, denke ich. Meine Hand zittert wieder, als ich nun mit Pats pinkfarbenem Ball die Bahn betrete, was vielleicht erklärt, weshalb ich nur acht Pins umwerfe. Doch Mia ist das egal. Sie quietscht vor Freude. »Der Spareball gehört mir, ja?«, ruft sie. Dann reißt sie sich wieder zusammen und betrachtet ihre Füße. »Danke, dass du mir diese Schuhe ausgeliehen hast. Fühlen sich gut an.«
»Gern geschehen.«
»Wie kommt es, dass dich hier keiner erkennt?«, erkundigt sie sich.
»Falsche Umgebung wahrscheinlich.«
»Vielleicht kannst du deine Sonnenbrille dann ja abnehmen. Ist irgendwie komisch, mit dir zu reden, wenn du sie trägst.«
Ich hab völlig vergessen, dass ich sie noch aufhabe, und komme mir jetzt ganz schön blöd vor deswegen. Ich nehme sie ab.
»Schon viel besser«, meint Mia. »Ich verstehe echt nicht, wieso klassische Musiker Bowling immer als White Trash abtun. Macht doch riesig Spaß.«
Keine Ahnung, warum dieser Seitenhieb auf die typischen Juilliard-Snobs mich so freut, aber es ist nun mal so. Ich fege Mias restliche zwei noch stehenden Pins um. Sie jubelt lauthals.
»Hat es dir da gefallen? An der Juilliard, meine ich?«, frage ich sie. »War es so, wie du es dir vorgestellt hast?«
»Nein«, meint sie, und erneut empfinde ich dieses Gefühl, gesiegt zu haben. Bis sie ihre Antwort weiter ausführt. »Nein, es war sogar noch besser.«
»Oh.«
»Allerdings war es nicht von Anfang an so. Zu Beginn hatte ich so meine Schwierigkeiten.«
»Das überrascht mich nicht, du weißt schon, nach allem, was passiert war.«
»Das war ja das Problem. ›Nach allem, was passiert war.‹ Darauf wurde einfach zu viel Rücksicht genommen. Als ich anfing, wurde ich behandelt wie ein rohes Ei; die Leute gingen einfach viel zu behutsam mit mir um. Meine Mitbewohnerin war sogar so besorgt, dass sie mich nicht ansehen konnte, ohne zu heulen.«
Die übertrieben Mitleidige – ich erinnere mich gut an sie.
»Alle meine Mitbewohnerinnen waren richtig hysterische Tussis. Im ersten Jahr bin ich so oft umgezogen, dass ich irgendwann ganz ausgezogen bin aus dem Wohnheim. Kannst du dir vorstellen, dass ich hier schon elfmal umgezogen bin? Schätze, das ist rekordverdächtig.«
»Ist doch eine gute Übung für die Zeiten, wenn du auf Tour bist.«
»Bist du gern auf Tour?«
»Nein.«
»Echt nicht? Obwohl man so viele verschiedene Länder zu sehen kriegt? Ich hätte gedacht, das würde dir gefallen.«
»Ich seh doch nur die Hotels und die Hallen, und vielleicht erhasche ich noch den einen oder anderen verschwommenen Blick zum Fenster des Tourbusses raus auf die Landschaft.«
»Siehst du dir denn nie irgendwelche Sehenswürdigkeiten an?«
Die anderen in der Band tun das. Sie lassen sich diese privaten VIP-Touren organisieren, schauen sich das Kolosseum in Rom an, noch vor der offiziellen Öffnungszeit, und all solche Sachen. Ich könnte mich ihnen jederzeit anschließen, aber dann müsste ich mit der Band zusammen sein. Da sperre ich mich doch lieber in meinem Hotelzimmer ein. »Normalerweise hab ich für so was keine Zeit«, schwindle ich. »Du willst also sagen, dass du Probleme mit deinen Mitbewohnerinnen hattest.«
»Und wie«, fährt Mia fort. »Zu viel Mitleid. So waren sie alle, auch die Leute an der Fakultät. Jeder wurde nervös in meiner Gegenwart, dabei hätte es doch genau andersrum sein sollen. Es ist so eine Art Aufnahmeritual, dass bei der ersten Orchesterprobe das eigene Spiel auseinandergenommen wird – und zwar so richtig fies auseinandergenommen –, und das vor allen Leuten. Passiert jedem, ohne Ausnahme. Abgesehen von mir. Es war fast so, als wäre ich unsichtbar. Niemand wagte es, mich zu kritisieren. Und glaub mir, es lag nicht daran, dass ich so perfekt gespielt hätte.«
»Vielleicht ja doch«, sage ich. Ich rücke näher an sie heran und halte die Hände unter den elektrischen Händetrockner.
»Nein, daran lag es nicht. Eines der Fächer, die man zu Beginn belegen muss, ist Musiktheorie. Das wird von einem Professor namens Lemsky unterrichtet. Er ist ’ne ganz große Nummer im Fachbereich. Ein Russe. Stell dir jedes verdammte Klischee vor, das dir einfällt, dann hast du ein exaktes Bild von ihm. Ein fieser, vertrockneter alter Kerl. Wie aus einem Roman von Dostojewski. Mein Dad hätte ihn geliebt. Nach ein paar Wochen lässt er mich zu sich in sein Büro rufen. Normalerweise ist das kein gutes Zeichen. Da sitzt er also hinter seinem unaufgeräumten Schreibtisch, überall Stapel von Papier und Notenblättern. Und er fängt an, mir von seiner Familie zu erzählen. Ukrainische Juden. Sie haben diverse Pogrome überlebt. Und auch noch den Zweiten Weltkrieg. Dann sagt er zu mir: ›Jeder hat es mal schwer im Leben. Jeder muss Schmerzen erleiden. Du wirst hier an der Fakultät verhätschelt wegen dem, was du durchgemacht hast. Ich hingegen bin der Meinung, dass das ein Fehler ist und du genauso gut bei dem Unfall hättest sterben können, weil wir nämlich dein Talent im Keim ersticken. Und du willst doch nicht, dass wir das tun, oder?‹ Da ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte, stand ich einfach nur da. Und dann brüllte er mich plötzlich an: ›Willst du das? Willst du, dass wir dein Talent kaputtmachen?‹ Und ich brachte mühsam ein piepsiges ›Nein‹ hervor. Und dann meinte er: ›Gut.‹ Dann nahm er seinen Stab zur Hand und prügelte mich damit regelrecht zur Tür raus.«
Ich hätte da schon eine Idee, wohin ich dem Kerl seinen Stab stecken würde. Ich schnappe mir meine Bowlingkugel und jage sie die Bahn runter. Mit einem befriedigenden Krachen donnert er in die Pins; die fliegen in alle Richtungen davon, wie kleine Menschen, die vor Godzilla fliehen. Als ich zu Mia zurückkehre, bin ich wieder ruhiger.
»Sehr gut«, sagt sie, während ich gleichzeitig sage: »Klingt so, als wäre dein Professor ein richtiger Arsch!«
»Stimmt schon, er ist nicht gerade der Beliebteste. Und ich hatte damals ganz schön Angst vor ihm, aber im Nachhinein bin ich der Meinung, dass das eine der wichtigsten Erfahrungen in meinem Leben war. Weil er der Erste war, der mich nicht einfach so hat durchkommen und bestehen lassen.«
Ich drehe mich um, erleichtert, dass ich einen Grund habe, mich wieder von ihr zu entfernen, damit sie meinen Gesichtsausdruck nicht sieht. Ich werfe ihre pinkfarbene Kugel die Bahn runter, aber sie bekommt einen Drall und rollt nach rechts. Ich haue sieben um, die restlichen drei bilden einen Split. Bei meinem nächsten Versuch schaffe ich nur noch einen von ihnen. Der Gerechtigkeit halber vermassle ich meinen nächsten Wurf ebenfalls und haue nur sechs Pins um.
»Tja, ein paar Tage später, bei der Orchesterprobe«, fährt Mia fort, »nimmt er also mein Glissando auseinander, und zwar schonungslos.« Sie grinst, erfüllt von der glücklichen Erinnerung an ihre Demütigung.
»Es geht doch nichts über eine ordentliche Tracht Prügel in der Öffentlichkeit.«
»Aber klar doch! Es war großartig. Wohl die weltweit beste Therapie.«
Ich starre sie an. »Therapie« war als Wort früher völlig tabu. Im Krankenhaus und in der Reha hatte man Mia einen Trauerbegleiter zugewiesen, doch sie hatte sich geweigert, den Kontakt zu ihm aufrechtzuerhalten, als sie schließlich wieder daheim war. Kim und ich waren damit gar nicht einverstanden gewesen und wollten es ihr ausreden. Mia aber hatte behauptet, jede Woche eine Stunde lang über ihre tote Familie reden zu müssen habe keinerlei therapeutischen Nutzen für sie.
»Nach diesem Ereignis schienen sich an der Fakultät plötzlich alle um mich herum zu entspannen«, erzählt sie. »Lemsky machte es mir schon ziemlich schwer. Er ließ mir keine Freizeit. Ließ mir kein Leben außerhalb des Cellospielens. In den Sommermonaten trat ich auf Festivals auf. Aspen, dann Marlborough. Und dann drängten Lemsky und Ernesto mich gleichermaßen, mich für das Young-Concert-Artists-Programm zu bewerben, was im Grunde verrückt war. An der Juilliard aufgenommen zu werden ist ein Kinderspiel dagegen. Aber ich tat es trotzdem. Und ich hab es geschafft. Deshalb hab ich heut Abend in der Carnegie Hall gespielt. Normalerweise treten Zwanzigjährige nicht in der Zankel Hall auf. Und plötzlich stehen mir sämtliche Türen offen. Ich hab sogar mein eigenes Management. Verschiedene Agenten sind an mir interessiert. Deshalb hat Lemsky auch darauf gedrängt, dass ich meinen Abschluss früher mache. Er meinte, ich wäre längst bereit, auf Tour zu gehen, obwohl ich mir da nicht so sicher bin.«
»Nun, nach dem zu urteilen, was ich heute Abend gehört habe, hat er recht.«
Ihr Gesicht wirkt auf einmal ganz aufgeweckt, und sie sieht so jung aus, dass es schon fast schmerzt. »Findest du wirklich? Ich hab ja schon auf der Bühne gestanden und auf Festivals gespielt, aber das wird was völlig anderes. Ich werde nämlich ganz allein sein, nur ich, und vielleicht begleitet mich an manchen Abenden noch ein Orchester oder ein Quartett oder ein Kammermusikensemble.« Sie schüttelt den Kopf. »Manchmal denke ich, ich sollte mir einfach eine Anstellung in einem Orchester suchen, was von Dauer. So wie du mit deiner Band. Die Bühnen ändern sich, aber die Musiker sind stets die gleichen. Es muss doch echt tröstlich sein, immer mit Liz, Mike und Fitzy zusammen zu sein.«
Ich stelle mir vor, wie der Rest der Band gerade in einem Flugzeug sitzt und über den Atlantik rast, während wir uns hier unterhalten – ein Ozean dazwischen, der aber noch das geringste Problem ist. Andere Dinge bilden eine viel größere Kluft zwischen uns. Und dann denke ich daran, wie Mia den Dvoˇrák spielte und was die Leute im Saal hinterher über sie gesagt haben, nachdem sie von der Bühne gegangen war. »Nein, das solltest du nicht tun. Das wäre die reinste Verschwendung deines Talents.«
»Jetzt klingst du aber genau wie Lemsky.«
»Gut so.«
Mia lacht. »Ja, ich weiß schon, dass er wie ein richtiger Kotzbrocken rüberkommt, aber ich hab den Verdacht, dass er all das insgeheim nur deshalb tut, weil er hofft, dass es mir hilft, dieses Loch in mir zu füllen, indem er meine Karriere fördert.«
Mia hält inne und wendet sich mir zu. Ihre Augen ruhen starr auf mir, sehen mich suchend an, fast flehend. »Aber er muss mir gar nicht unbedingt bei meiner Karriere helfen. Denn das hilft mir keineswegs, das Loch zu stopfen. Du verstehst das doch, nicht wahr? Du hast mich in dieser Hinsicht immer verstanden.«
Plötzlich kommt der ganze Mist, der an diesem Tag passiert ist, mit aller Wucht zurück – Vanessa und Bryn und die Gerüchte über ihre Schwangerschaft und Shuffle und die bevorstehenden siebenundsechzig Tage in Hotelzimmern, betretenes Schweigen und Auftritte mit einer Band, zu der ich schon lange nicht mehr stehe.
Ach, Mia, kapierst du es denn nicht? Die Musik ist dieses Loch. Und du bist der Grund dafür, dass das so ist.