23
Erst
inspizierst du mich,
dann sezierst du mich,
dann negierst du mich.
Ich warte auf den Tag,
da du mich auferstehen lässt.
»Animate«, Collateral Damage, Song Nummer 1
Als unser Flieger in London landet, schüttet es aus allen Wolken, weshalb wir uns beide gleich wie zu Hause fühlen. Um siebzehn Uhr sind wir endlich in der Innenstadt angekommen. Wir sollen an diesem Abend in Guildford sein. Am Tag darauf spielen wir. Dann beginnt endlich der Countdown bis zum Tag der endgültigen Freiheit. Mia und ich haben einen Plan gemacht für die nächsten drei Monate, während wir beide auf Tour sind, mit gemeinsamen freien Tagen hier und da, an denen wir uns sehen können. Es wird nicht gerade eine Freude werden, doch im Vergleich zu den vergangenen drei Jahren kommt es mir immer noch vor wie der Himmel auf Erden.
Es ist nach acht, als wir endlich im Hotel ankommen. Ich habe Aldous gebeten, mir ein Zimmer im selben Hotel wie für den Rest der Band zu buchen, nicht nur für dieses Festival, sondern für die gesamte Tour. Was auch immer sie davon halten, dass ich Shooting Star verlassen will, wird sich nicht ändern lassen, indem ich zwei Meilen von ihnen entfernt übernachte. Ich habe weder Aldous noch irgendwem was von Mia erzählt, und wie durch ein Wunder haben wir es bis jetzt geschafft, dass ihr Name nicht in den Klatschblättern aufgetaucht ist. Offensichtlich hat keiner mitgekriegt, dass ich die letzte Woche mit ihr in Asien war. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich um Bryns neueste Liebschaft, einen australischen Schauspieler, zu kümmern.
An der Rezeption erwartet mich eine Nachricht, dass die Band ein privates Abendessen im Atrium gibt und dass ich mich zu ihnen gesellen soll. Plötzlich fühle ich mich, als würde ich zu meiner eigenen Hinrichtung geführt, und nach dem Fünfzehn-Stunden-Trip von Seoul nach London würde ich nichts lieber tun, als erst mal ausgiebig zu duschen. Doch Mia legt mir die Hand auf die Schulter und meint: »Nein, ich finde, du solltest hingehen.«
»Kommst du mit?« Ich fühle mich schlecht, weil ich sie frage. Sie hat gerade erst drei unglaublich anstrengende und begeistert aufgenommene Konzerte gegeben dort in Japan und Korea und ist dann einmal um die halbe Welt geflogen, um direkt in meinem persönlichen Psychodrama zu landen. Aber für mich ist das alles einfach um einiges erträglicher, wenn sie dabei ist.
»Bist du dir sicher?«, fragt sie. »Ich will mich nicht aufdrängen.«
»Glaub mir, wenn sich hier jemand aufdrängt, dann bin ich das.«
Der Portier schnappt sich unser Gepäck, um es auf unser Zimmer zu bringen, und der Concierge begleitet uns durch die Lobby. Das Hotel war vor langer Zeit mal ein Schloss, das inzwischen von Rockern und einem Haufen anderer Musiker belagert wird, die mir zunicken und Begrüßungen zurufen, doch ich bin im Moment zu nervös, um darauf zu reagieren. Der Concierge führt uns in einen schwach beleuchteten Innenhof. Die ganze Band ist da, und man hat ein riesiges Büfett aufgebaut, mit dem traditionellen englischen Rostbraten.
Liz dreht sich als Erste um. Seit der Tour zu Collateral Damage sind die Dinge zwischen uns nicht mehr so, wie sie mal waren, doch der Blick, den sie mir jetzt zuwirft, ist schwer zu beschreiben: Fast so, als wäre ich die größte Enttäuschung in ihrem Leben, doch sie steht darüber, spielt es herunter, benimmt sich bemüht normal, als wäre ich einer ihrer Fans, einer von diesen klettigen Typen, einer von den vielen Leuten, die etwas von ihr wollen, was sie nicht verpflichtet ist zu geben. »Adam«, sagt sie mit einem höflichen Nicken.
»Liz«, fange ich vorsichtig an.
»Hey, Arschloch! Schön, dass du dich endlich zu uns gesellst!« Fitzys Stimme klingt gleichzeitig sarkastisch und erfreut, mich zu sehen, so als könne er sich einfach nicht entscheiden, was er von mir halten soll.
Mike sagt keinen Ton. Er ignoriert mich einfach.
Und dann fühle ich, wie Mias Schulter mich streift, als sie hinter mir hervortritt. »Hi, Leute«, sagt sie.
Liz’ Gesicht wirkt für einen Moment völlig ausdruckslos. So als würde sie nicht wissen, wer Mia ist. Dann sieht sie verängstigt aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Und schließlich fängt die Unterlippe meiner starken, toughen Kampflesben-Drummerin an zu zittern, und ihre ausdruckslose Fassade beginnt zu bröckeln. »Mia?«, fragt sie, wobei ihr schon die ersten Tränen über die Wangen rinnen, ehe sie meine Freundin fest umarmt.
Als sie sie wieder losgelassen hat, hält Liz Mia auf Armeslänge von sich und sieht sie an. Dann sieht sie mich an und wieder zurück zu Mia. »Mia?«, ruft sie, gleichsam fragend, obwohl sie die Antwort bereits mitliefert. Dann wendet sie sich mir zu. Und wenn sie mir auch nicht unbedingt gleich verzeiht, so versteht sie mich doch immerhin.
Der Regen begleitet uns noch den ganzen nächsten Tag. »Ein wunderschöner englischer Sommer, den wir da erleben dürfen«, witzeln alle. Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, dass ich mich bei dieser Sorte Megafestivals verbarrikadiere, aber als mir einfällt, dass das vielleicht das letzte Festival für lange Zeit sein könnte, zumindest als aktiv Beteiligter, da schleiche ich mich auf das Festivalgelände, höre mir ein paar Bands auf den Nebenbühnen an, unterhalte mich ein bisschen mit alten Freunden und Bekannten und rede sogar mit ein paar Musikjournalisten. Ich gebe mir alle Mühe, die bevorstehende Auflösung der Band nicht zu erwähnen. Das kommt schon noch früh genug raus, und ich will es den anderen überlassen, wann sie die Neuigkeiten publik machen wollen. Wenn man mich zu meiner neuen mysteriösen Geliebten befragt, dann sage ich nichts als »kein Kommentar«. Ich weiß, dass das alles noch früh genug ans Licht der Öffentlichkeit dringen wird, und auch wenn ich Mia den ganzen Zirkus ersparen will, ist es mir eigentlich gleich, wenn die ganze Welt davon erfährt, dass wir ein Paar sind.
Als sich unser Gig um neun Uhr nähert, hat sich der Regen zu einem leichten Nieseln abgeschwächt, das im Dämmerlicht des Spätsommerabends zu tanzen scheint. Die Festivalbesucher haben sich mit dem Matsch längst abgefunden. Der Schlamm ist überall, und die Leute wälzen sich darin, als wären wir hier auf dem Woodstock-Festival oder so.
Vor dem Auftritt war die Band noch etwas nervös. So ist das nun mal auf Festivals. Da steht mehr auf dem Spiel als bei normalen Konzerten, sogar mehr als bei Stadionshows – bei Festivals sind wesentlich mehr Leute, aber vor allem sind unter den Zuschauern auch Musikerkollegen. Heute Abend aber bin ich vollkommen ruhig. Ich habe alles aufs Spiel gesetzt. Nun habe ich nichts mehr zu verlieren. Vielleicht habe ich es aber auch längst verloren und wiedergefunden, und was auch immer ich sonst noch zu verlieren habe, hat nichts mit dem zu tun, was auf dieser Bühne geschieht. Und das erklärt vielleicht auch, dass ich hier oben riesigen Spaß habe, die neuen Songs auf meiner alten Les Paul Junior locker runterspiele, der Gitarre, die ein weiteres Stück verlorener Geschichte darstellt. Liz musste zweimal hinsehen, als ich sie aus dem Koffer hervorholte. »Ich dachte, du wärst das Ding längst los«, meinte sie.
»Ja, dachte ich auch«, hatte ich erwidert. Ich warf Mia ein verschwörerisches Lächeln zu.
Wir jagen durch das neue Album und streuen dann ein paar Leckerbissen von Collateral Damage dazwischen, und ehe ich es mich versehe, sind wir schon fast am Ende unseres Sets angekommen. Ich werfe einen Blick auf die Setlist, die vor mir auf dem Boden der Bühne mit Tesa festgeklebt ist. Dort hat Liz in Blockschrift den Titel des letzten Songs vor der unumgänglichen Zugabe hingekritzelt. »Animate«. Unsere Hymne, so hat unser früherer Produzent Gus Allen den Song immer genannt. Der existenziellste, angstvollste Song auf dem ganzen Collateral-Damage-Album, wie die Kritiker einhellig verkündeten. Vielleicht der größte Hit, den wir je geschrieben haben. Absoluter Publikumsliebling bei allen Touren, wegen des Refrains, bei dem die Leute gern mitsingen.
Er ist eigentlich auch einer der wenigen Songs, bei dem wir so was wie eine Produktion gemacht haben, mit einem Streicherpart, der direkt über die anderen Spuren gelegt wurde, obwohl wir bei der Liveversion keine Violinen dabeihaben. Als wir also loslegen, höre ich nicht das aufgeregte Jaulen und Grölen der Menge, sondern Mias Cellospiel in meinem Kopf. Eine Sekunde lang stelle ich mir vor, wie es wäre, wir beide anonym in irgendeinem Hotelzimmer, wie wir ein bisschen rumprobieren, sie auf dem Cello, ich auf der Gitarre, und wie wir dann diesen Song spielen, den ich für sie geschrieben habe. Und verdammt, ja, dieser Gedanke macht mich wirklich unheimlich glücklich.
Ich gebe alles, als ich den Song jetzt singe. Dann sind wir beim Refrain angekommen: Hass mich. Zerstör mich. Vernichte mich. Erweck mich. Erweck mich. Willst du, willst du, willst du mich nicht wiedererwecken?
Auf dem Album wird der Refrain unzählige Male wiederholt, ein wütendes Brüllen, voller Schmerz ob eines Verlustes, und es ist schon zur Tradition geworden, dass ich bei Liveshows irgendwann aufhöre zu singen, das Mikro in Richtung Publikum halte und die Fans weitermachen lasse. Also richte ich das Mikro jetzt nach dort unten in die Menge, die in der Sekunde total durchdreht, meinen Song singt und meine flehenden Worte im Chor mitgrölt.
Ich lasse sie machen und gehe selbst ein bisschen auf der Bühne spazieren. Der Rest der Band kriegt mit, was sich da tut, also spielen sie einfach stur den Refrain weiter. Als ich mich dem seitlichen Bühnenrand nähere, sehe ich sie plötzlich da stehen, dort, wo sie sich immer schon am wohlsten gefühlt hat. In absehbarer Zukunft wird sie wohl zu denjenigen gehören, die hier draußen im Rampenlicht stehen, und ich werde derjenige sein, der von der Seite aus zusieht, und ich habe das Gefühl, dass es gut ist so.
Das Publikum singt weiter, gibt alles, und ich schrammle kurz und gehe weiter, bis ich nah genug bin, um ihre Augen erkennen zu können. Und dann fange ich wieder an, den Refrain zu singen. Und dabei sehe ich sie an. Und sie lächelt zurück, sodass es mir fast so vorkommt, als wären wir die einzigen Menschen hier, zumindest die einzigen, die wissen, was los ist. Nämlich dass der Song, den wir alle zusammen singen, in diesem Augenblick neu geschrieben wird. Kein wütendes Flehen mehr, das man hinausschreit ins Nichts. Genau hier, auf dieser Bühne, vor achtzigtausend Menschen, wird dieser Song zu etwas anderem.
Zu einem neuen Versprechen zwischen uns.