20
Kann
mich bitte jemand wecken, wenn das alles vorüber ist,
wenn die Stille den Abend vergoldet.
Legt mich auf ein Bett von Klee,
oh, ich brauche Hilfe bei dieser Last.
»Hush«, Collateral Damage, Song Nummer 13
Als ich mich wieder im Griff habe und einigermaßen ruhig bin, fühlen meine Knochen sich an, als bestünden sie aus totem Holz. Ich lasse den Blick sinken. Ich habe gerade einen riesigen Becher irrsinnig starken Kaffee getrunken, und er könnte genauso gut randvoll mit Schlaftabletten gewesen sein. Ich könnte mich direkt hier auf dieser Bank schlafen legen. Ich drehe mich zu Mia und erkläre ihr, dass ich schlafen müsse.
»Ich wohne ein paar Blocks von hier«, meint sie. »Du kannst bei mir pennen.«
Ich bin total alle und so was von schlapp, weil ich geheult habe. So habe ich mich nicht mehr gefühlt, seit ich ein Kind war, ein überaus sensibles Kind, das so lange anlässlich irgendeiner Ungerechtigkeit schreien konnte, bis alles hinausgeschrien war und meine Mutter mich ins Bett steckte. Ich stelle mir Mia vor, wie sie mich in ein Kinderbett legt und mir die Buzz-Lightyear-Bettdecke bis unters Kinn hochzieht.
Es ist jetzt mitten am Vormittag. Die Leute sind wach und auf den Beinen. Während wir so nebeneinanderher gehen, verlassen wir die ruhige Wohngegend und kommen in eine geschäftige Straße mit Läden, Boutiquen und Cafés voller Szeneleute, die diese Läden und Cafés üblicherweise frequentieren. Aber ich kümmere mich nicht um irgendeine Verkleidung – keine Sonnenbrille, keine Mütze. Ich versuche erst gar nicht, mich zu verstecken. Mia schlängelt sich durch die zunehmenden Menschenmassen und biegt dann in eine Seitenstraße mit viel Grün und einer Reihe von Altbauten und Backsteinhäusern ein. Vor einem kleineren Backsteingebäude bleibt sie stehen. »Home sweet home. Hier wohne ich zur Untermiete, bei einer professionellen Violinistin, die bei den Wiener Philharmonikern spielt. Ich wohne jetzt schon sensationelle neun Monate hier, ein echter Rekord!«
Ich folge ihr in das schmalste Haus hinein, das ich je gesehen habe. Das Erdgeschoss besteht aus nur einem Wohnzimmer und einer Küche, von der aus eine gläserne Schiebetür raus auf einen Garten führt, der ungefähr doppelt so lang ist wie das Haus selbst. Es gibt eine weiße Couchgarnitur, und Mia deutet mir an, ich solle mich doch hinlegen. Ich schleudere die Schuhe von mir und mach es mir gemütlich. Sofort versinke ich tief in den plüschigen Kissen. Mia hebt meinen Kopf, schiebt ein Kissen darunter und deckt mich mit einer weichen Decke zu, die sie mir hochzieht und feststeckt, genau wie ich es mir vorgestellt habe.
Ich versuche, ihre Fußtritte auf der Treppe zu hören, die hoch in ihr Schlafzimmer führen muss, doch stattdessen spüre ich, wie die Polster ein wenig federn, als sich Mia am anderen Ende der Couch niederlässt. Sie strampelt ein paarmal mit den Beinen. Ihre Füße ruhen nur wenige Zentimeter neben meinen. Dann stößt sie ein langgezogenes Seufzen aus, und ihr Atem verlangsamt sich und wird gleichmäßig. Sie schläft. Und innerhalb weniger Minuten bin auch ich eingeschlafen.
Als ich aufwache, ist die Wohnung hell erleuchtet. Ich fühle mich so frisch, dass ich schon einen Moment lang befürchte, mindestens zehn Stunden geschlafen und meinen Flug verpasst zu haben. Doch ein flüchtiger Blick auf die Küchenuhr verrät mir, dass es erst kurz vor zwei ist und immer noch Samstag. Ich habe nur ein paar Stunden gepennt, und um fünf muss ich Aldous am Flughafen treffen.
Mia schläft noch immer; sie atmet tief und schnarcht fast ein bisschen. Eine Weile beobachte ich sie. Sie sieht so friedlich aus und so vertraut. Schon bevor ich unter starker Schlaflosigkeit zu leiden begann, hatte ich abends immer Probleme mit dem Einschlafen, wohingegen Mia nur fünf Minuten in einem Buch lesen musste, und schon drehte sie sich zur Seite und war weg. Eine Haarsträhne ist ihr ins Gesicht gefallen, die nun mit jedem Atemzug von ihrem Mund angesaugt wird. Ohne darüber nachzudenken, beuge ich mich vor und schiebe die Strähne weg, wobei meine Finger zufällig ihre Lippen berühren. Es fühlt sich ganz natürlich an, so sehr, dass es scheint, als wären die letzten drei Jahre nie vergangen. Fast schon bin ich versucht, ihre Wangen, ihr Kinn, ihre Stirn zu streicheln.
Fast. Aber doch nicht ganz. Es ist so, als würde ich Mia durch ein Prismenglas betrachten, denn sie ist zwar zum größten Teil das Mädchen, das ich einmal kannte, aber irgendwas ist anders. Deshalb ist die Vorstellung, ich könnte die schlafende Mia berühren, nicht süß oder romantisch. Es käme einfach nur gewöhnlichem Stalking gleich.
Ich richte mich auf und dehne meine Glieder. Schon bin ich drauf und dran, sie zu wecken – doch irgendwie bringe ich es nicht über mich. Stattdessen wandere ich ziellos durch das Haus. Ich war so neben mir, als wir es vor ein paar Stunden betraten, dass ich es gar nicht richtig wahrgenommen habe. Und jetzt, als ich es mir so anschaue, fällt mir auf, dass es komischerweise aussieht wie das Haus, in dem Mia aufgewachsen ist. Da ist die gleiche kunterbunt zusammengewürfelte Sammlung von Bildern an der Wand – ein Elvis auf Samt, ein Poster von 1955, auf dem für das Finale der Baseballliga zwischen den Brooklyn Dodgers und den New York Yankees geworben wird –, und es ist ähnlich dekoriert, wie zum Beispiel mit der Chilischoten-Lichterkette, die den Türrahmen ziert.
Und Fotos, überall Fotos, an den Wänden, auf jeder freien Fläche auf Schränken und Regalen. Hunderte von Fotos von ihrer Familie, darunter auch diejenigen, die früher bei ihnen zu Hause an der Wand hingen. Da ist das Hochzeitsfoto von Kat und Denny, ein Schnappschuss von Denny mit nietenbesetzter Lederjacke, wie er die kleine Mia an einer Hand festhält, ein Foto von der achtjährigen Mia, die sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht an ihrem Cello festklammert, Mia und Kat, die Teddy mit hochrotem Gesicht kurz nach seiner Geburt auf dem Arm halten. Da ist sogar dieses herzzerreißende Bild, auf dem Mia Teddy etwas vorliest, das Foto, das ich mir im Haus ihrer Großeltern nie habe anschauen können, das mir aber komischerweise hier in Mias Wohnung nicht mehr so viel ausmacht.
Ich durchquere die winzige Küche, wo eine ganze Galerie an Aufnahmen hängt, von ihren Großeltern, die vor einer Vielzahl an Orchestergräben sitzen, von Mias Tanten und Onkeln und Cousins und Cousinen, die durch die Berge Oregons wandern oder einander mit Biergläsern in der Hand zuprosten. Da ist ein wildes Durcheinander von Schnappschüssen von Henry und Willow und Trixie und dem kleinen Jungen, der Theo sein muss. Es gibt Fotos von Kim und Mia von der Highschool und welche, auf denen sie auf dem Empire State Building stehen und posieren – und all diese Aufnahmen rufen mir auf erschütternde Weise in Erinnerung, dass ihre Beziehung nicht in die Brüche gegangen ist, dass sie immer noch eine gemeinsame Geschichte haben, von der ich nichts weiß. Da ist noch ein Foto von Kim, auf dem sie eine Splitterschutzweste trägt, und ihr Haar ist völlig zerzaust und offen und weht im Wind.
Da sind Fotos von Musikern in eleganter Abendkleidung mit Champagnerflöten in der Hand. Ein Mann mit leuchtenden Augen und einem lockigen Haarschopf im Smoking, der einen Taktstock in der Hand hält, ist auf einem Bild zu sehen, und auf einem anderen ist derselbe Typ abgelichtet, wie er eine Gruppe genervt wirkender Kids dirigiert, und dann noch einmal er, neben einer wunderschönen Farbigen, die ein nicht ganz so genervtes Kind küsst. Der Typ muss Ernesto sein.
Ich spaziere raus in den Garten, um die gewohnte Zigarette nach dem Aufwachen zu rauchen. Ich durchsuche meine Taschen, doch finde ich nichts als meine Brieftasche, meine Sonnenbrille, den geborgten iPod und das übliche Sortiment an Plektren, die in allen meinen Taschen zu finden sind. Dann fällt mir ein, dass ich die Zigaretten wahrscheinlich auf der Brücke verloren habe. Nichts zu rauchen. Keine Pillen mehr. Ich schätze, heute ist der richtige Tag, um mit all meinen schlechten Angewohnheiten Schluss zu machen.
Ich gehe wieder nach drinnen und sehe mich noch ein wenig um. Das Haus sieht ganz anders aus, als ich es erwartet hätte. So viel, wie sie von Umzügen gesprochen hat, hätte ich gedacht, ihre Bude müsse voller Umzugskisten sein, etwas Unpersönliches und Aseptisches haben. Und ganz gleich, was sie auch über Geister gesagt hat – ich hätte niemals erwartet, dass sie es sich tatsächlich mit all diesen Gespenstern gemütlich gemacht hat.
Nur nicht mit meinem Geist. Es gab kein einziges Foto von mir, obwohl Kat mich auf so vielen Familienfotos mit draufhaben wollte. Sie hatte sogar ein Bild von Mia, Teddy und mir in Halloween-Kostümen über dem Kamin bei ihnen daheim aufgehängt, ein echter Ehrenplatz im Hause der Familie Hall. Aber hier war nichts zu sehen. Keiner von diesen doofen Schnappschüssen, die Mia und ich immer gemacht haben, die, auf denen wir uns küssen oder Grimassen ziehen, während einer von uns beiden die Kamera hochhält. Ich habe diese Fotos immer geliebt. Auf denen war ständig die Hälfte eines Kopfes abgeschnitten, oder ein Finger verdeckte alles, doch irgendwie schienen sie stets ein kleines Stück Wirklichkeit festzuhalten.
Ich bin nicht verletzt oder so. Wäre es noch früher am Abend, wäre ich wahrscheinlich beleidigt. Aber jetzt habe ich verstanden. Welchen Platz ich auch immer in Mias Leben, in ihrem Herzen eingenommen haben mag, an jenem Tag im Krankenhaus vor dreieinhalb Jahren hat sich das alles unwiderruflich verändert. Abschluss. Ich hasse dieses Wort. Die Seelenklempner stehen drauf. Bryn steht voll drauf. Sie meint immer, dass ich die Sache mit Mia nie zum Abschluss gebracht habe. »Mehr als fünf Millionen Menschen haben sich meinen Abschluss gekauft und angehört«, lautet meine Standardantwort.
Jetzt stehe ich hier in der Stille dieses Hauses, während draußen im Garten die Vögel zwitschern, und habe das Gefühl, dass ich das Konzept des Abschlusses allmählich zu verstehen beginne. Das ist kein dramatischer Vorher-Nachher-Akt. Es handelt sich eher um diese Art von melancholischem Gefühl, das einem am Ende eines wahnsinnig tollen Urlaubes überkommt, wenn etwas ganz Besonderes zu Ende geht und man selbst darüber traurig ist, obwohl man es auch wieder nicht allzu sehr bedauern kann, weil es ja immerhin total super war, solange es andauerte … Und, hey, es wird ja noch weitere Urlaube geben, man wird andere tolle Dinge erleben. Nur dass ich sie nicht mit Mia teilen werde – oder mit Bryn.
Ich werfe einen kurzen Blick auf die Uhr. Ich muss nach Manhattan zurück, meine Sachen packen, die wichtigsten Mails beantworten, die sich mit Sicherheit inzwischen angesammelt haben, und dann nichts wie ab zum Flughafen. Ich muss mir ein Taxi rufen, das mich von hier wegbringt, aber vorher muss ich Mia aufwecken und mich anständig von ihr verabschieden.
Ich beschließe, erst mal einen Kaffee zu kochen. Der Geruch allein hat sie früher aufgeweckt. An den Tagen, an denen ich bei ihr übernachtete, wachte ich manchmal früh auf und hing dann mit Teddy ab. Wenn ich sie dann lange genug hatte schlafen lassen, nahm ich die Espressokanne immer direkt mit in ihr Zimmer und ließ den Kaffeeduft sich ausbreiten, bis Mia mit ganz kleinen, sanften Augen den Kopf vom Kissen hob.
Ich gehe in die Küche, wo ich mich instinktiv zurechtfinde, als wäre es meine eigene, und als hätte ich hier schon unzählige Male Kaffee gekocht. Die Edelstahl-Espressokanne steht in dem Küchenschrank oberhalb des Spülbeckens. Der Kaffee selbst findet sich in einem Glas oben auf dem Kühlschrank. Ich löffle das aromatische dunkle Pulver in die entsprechende Kammer der Espressokanne, dann fülle ich Wasser ein und stelle das Ganze auf den Herd. Nach einigem Zischen liegt wundervoller Kaffeeduft in der Luft. Ich stelle mir vor, wie die Duftwolke wie in einem Zeichentrickfilm zu Mia rüberzieht und sie anstupst, um sie aufzuwecken.
Und siehe da, noch ehe der Kaffee in der Kanne durchgelaufen ist, reckt sie sich auch schon auf der Couch und schnappt nach Luft, wie sie das beim Aufwachen immer tut. Als sie mich in ihrer Küche sieht, wirkt sie für einen kurzen Augenblick verwirrt. Ich könnte nicht sagen, ob es daran liegt, dass ich dort eifrig hantiere wie eine Hausfrau, oder ob es allein meiner Anwesenheit zuzuschreiben ist. Dann fällt mir wieder ein, was sie über ihr tägliches Erwachen und die Erinnerung an ihren Verlust erzählt hat. »Denkst du jetzt wieder daran?«, frage ich sie tatsächlich laut. Ja, ich spreche es laut aus. Weil ich es wirklich wissen will und weil sie mich gebeten hat, mich danach zu erkundigen.
»Nein«, meint sie. »Nicht heute Morgen.« Sie gähnt und streckt sich ein weiteres Mal. »Ich dachte schon, ich hätte das mit gestern Nacht nur geträumt, bis ich den Kaffee gerochen hab.«
»Tut mir leid«, murmele ich.
Während sie die Decke von sich strampelt, lächelt sie. »Denkst du wirklich, ich könnte meine Familie leichter vergessen, wenn du sie nicht erwähnst?«
»Nein«, muss ich zugeben. »Wohl nicht.«
»Und wie du sehen kannst, versuche ich auch gar nicht, sie zu vergessen.« Mia zeigt auf die vielen Fotos.
»Die hab ich mir schon angeschaut. Ganz schön eindrucksvoll, diese Galerie, die du da hast. Von jedem gibt es Fotos.«
»Danke. Sie leisten mir Gesellschaft.«
Ich sehe mir die Bilder nochmal an und stelle mir vor, dass eines Tages Fotos von Mias Kindern noch mehr von diesen Rahmen füllen werden. Sie wird eine ganz neue, eigene Familie haben, eine Generation, die weiterexistieren wird, ohne dass ich Teil von ihrem Leben sein darf.
»Ich weiß, dass das nur Fotos sind«, fährt sie fort, »doch an manchen Tagen helfen sie mir morgens wirklich, aus dem Bett zu kommen. Na ja, sie und der Kaffee.«
Ach ja, der Kaffee. Ich gehe in die Küche, wo ich die Schränke öffne, in denen ich die Tassen vermute. Ich bin ein wenig erstaunt, dass sie immer noch die Keramiktassen aus den Fünfzigern und Sechzigern hat, die ich schon so oft benutzt habe. Ich bin verblüfft, dass sie sie von Wohnheim zu Wohnheim mitgeschleift hat, sie von Wohnung zu Wohnung mit hat umziehen lassen. Ich suche nach meiner Lieblingstasse von damals, die mit den tanzenden Kaffeekannen, und als ich sie finde, bin ich überglücklich. Irgendwie ist es fast so, als hinge mein Foto doch auch hier an der Wand. Ein kleiner Teil von mir ist immer noch da, auch wenn der größere Part nicht mehr hier sein kann.
Ich schenke mir eine Tasse Kaffee ein, dann eine für Mia. Für sie gebe ich einen Schuss Kaffeesahne hinein, so wie sie ihn gern trinkt.
»Ich mag die Fotos«, sage ich. »Viel zu gucken.«
Mia nickt und pustet in ihre Tasse.
»Und ich vermisse sie genau wie du«, füge ich noch hinzu. »Jeden Tag.«
Nun sieht sie doch überrascht aus. Nicht weil ich sie vermisse, aber ich schätze, weil ich es endlich offen zugebe. Sie nickt feierlich. »Ich weiß«, sagt sie schließlich.
Sie geht durch das Zimmer, wobei sie ihre Finger leicht an den Bilderrahmen entlangwandern lässt. »Ich hab bald keinen Platz mehr«, meint sie. »Einige von Kims neueren Fotos musste ich schon im Bad aufhängen. Hast du in letzter Zeit mal mit ihr geredet?«
Sie muss doch Bescheid wissen, was ich Kim angetan habe. »Nein.«
»Echt nicht? Dann weißt du also nichts über le scandale?«
Ich schüttle den Kopf.
»Sie ist letztes Jahr vom College abgegangen. Als der Krieg in Afghanistan begann, hat Kim beschlossen, alles hinzuwerfen und Fotografin zu werden, und da man am besten in der Praxis lernt, hat sie ihre Kameras genommen und ist abgedüst. Dann hat sie angefangen, ihre Aufnahmen an Associated Press und an die New York Times zu verkaufen. Sie ist in einer von diesen Burkas rumgerannt und hat ihre Fotoausrüstung darunter versteckt, und wenn sie ein Foto schießen wollte, hat sie den Schleier einfach schnell hochgehoben.«
»Ich wette, das hat Mrs Schein gut gefallen.« Kims Mom war bekanntermaßen eine richtige Glucke. Das Letzte, was ich von ihr gehört habe, war, dass sie total ausgerastet ist, weil Kim eine Schule am anderen Ende des Landes besuchen wollte, aber Kim meinte dazu nur, gerade die große Entfernung sei ja der Grund für ihren Entschluss gewesen.
Mia lacht. »Erst hat Kim ihrer Familie erzählt, sie wolle nur ein Semester Auszeit nehmen, aber auf einmal hat sie totalen Erfolg, weshalb sie ganz offiziell abgegangen ist, woraufhin Mrs Schein ebenso offiziell einen Nervenzusammenbruch erlitt. Und dann kommt noch erschwerend hinzu, dass Kim, ein nettes jüdisches Mädchen, sich ausgerechnet in einem ziemlich muslimischen Land rumtreiben muss.« Mia pustet noch einmal in ihren Kaffee und nimmt einen Schluck. »Auf der anderen Seite kriegt Kim ihre Arbeiten in der New York Times unter, und sie hat gerade erst eine Dokumentation für National Geographic an Land gezogen, sodass Mrs Schein auch wieder einiges hat, womit sie angeben kann.«
»Schwer für eine Mutter, da zu widerstehen«, sage ich.
»Sie ist ein großer Fan von Shooting Star, wusstest du das?«
»Wer, Mrs Schein? Ich dachte immer, die würde eher auf Hip-Hop stehen.«
Mia grinst. »Nein. Sie fährt voll auf Death Metal ab. Hardcore. Ich meine natürlich Kim. Sie hat euch spielen sehen, in Bangkok. Sie meinte, ihr habt einfach weitergespielt, als es anfing zu regnen.«
»Sie war bei der Show damals? Ich wünschte, sie wäre zu uns in den Backstage-Bereich gekommen und hätte kurz Hallo gesagt«, erkläre ich, obwohl mir klar ist, weshalb sie das nicht getan hat. Und trotzdem, immerhin ist sie zu unserem Gig gekommen. Also muss sie mir wenigstens ein kleines bisschen verziehen haben.
»Das hab ich auch gesagt. Aber sie musste gleich danach wieder weg. Sie sollte sich eigentlich ein wenig erholen in Bangkok, doch dann stellte sich raus, dass dieser Regen, der während eures Auftritts fiel, anderswo zu einem regelrechten Zyklon anwuchs, und darüber sollte sie eine Fotostory machen. Sie ist mittlerweile eine echt abgebrühte Kriegsberichterstatterin.«
Ich stelle mir vor, wie Kim aufständische Talibanrebellen verfolgt und fliegenden Bäumen ausweicht. Komischerweise ist das ganz leicht. »Schon witzig«, fange ich an.
»Was ist witzig?«, unterbricht Mia mich.
»Dass Kim jetzt Kriegsreporterin ist. Voll das Danger Girl.«
»Ja, echt zum Schreien komisch.«
»So mein ich das doch nicht. Überleg doch mal: Kim. Du. Ich. Wir alle stammen aus diesem Kaff in Oregon, und jetzt schau uns an. Wir alle drei sind irgendwie, na ja, voll die Extreme. Du musst doch zugeben, das ist schon erstaunlich.«
»Das ist überhaupt nicht komisch«, protestiert Mia und kippt Cornflakes in eine Schale. »Wir wurden alle im selben Schmelztiegel geformt. Jetzt komm, iss ein paar Cornflakes.«
Ich habe keinen Hunger. Ich glaube nicht, dass ich auch nur ein einziges Cornflake essen könnte, doch ich setze mich trotzdem, denn soeben habe ich mir offenbar meinen Platz am Tisch der Familie Hall zurückerobert.
Zeit hat Gewicht, und gerade in diesem Augenblick spüre ich das mehr denn je. Es ist schon fast drei. Ein weiterer Tag ist zur Hälfte geschafft, und am Abend werde ich aufbrechen und auf Tour gehen. Ich höre das Ticken der antiken Uhr an der Wand. Bevor ich mich aufraffen kann, wieder etwas zu sagen, lasse ich noch ein paar Minuten verstreichen.
»Wir müssen beide unsere Flüge erwischen. Ich sollte jetzt langsam los«, sage ich. Meine Stimme klingt weit weg, doch komischerweise bin ich völlig ruhig. »Kriegt man hier in der Gegend ein Taxi?«
»Nein, wir pendeln von hier mit dem Floß nach Manhattan«, witzelt sie. »Du kannst dir eins bestellen«, meint sie dann kurz darauf.
Ich erhebe mich, gehe in die Küche und nehme das Telefon von der Küchenablage. »Wie lautet die Nummer?«, erkundige ich mich.
»Sieben-eins-acht«, fängt Mia an. Dann unterbricht sie sich. »Moment.«
Erst denke ich, sie muss über die Nummer nachdenken, doch dann bemerke ich, wie sie mich unsicher und gleichzeitig flehentlich ansieht.
»Da ist noch etwas«, meint sie mit einem Zögern in der Stimme. »Ich hab da was, das eigentlich dir gehört.«
»Mein Wipers-T-Shirt?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das existiert längst nicht mehr, tut mir leid. Komm. Es ist oben.«
Ich folge ihr die knarrenden Stufen hoch. Oben kann ich vom schmalen Flur aus zu meiner Rechten ihr Schlafzimmer mit den Dachschrägen sehen. Links befindet sich eine geschlossene Tür. In der Ecke erkenne ich einen Wandschrank mit einem Keypad. Mia gibt einen Code ein, woraufhin die Tür sich öffnet.
Als ich erkenne, was sie da aus dem Schränkchen holt, rutscht mir beinahe ein beiläufiges Oh, klar, meine Gitarre heraus. Doch dann stockt mir der Atem, als mir bewusst wird, was das eigentlich bedeutet: Hier in Mias Haus in Brooklyn sehe ich tatsächlich meine alte E-Gitarre, meine geliebte Les Paul Junior. Die Gitarre, die ich mir von meinem Verdienst beim Pizzaservice in einem Pfandleihhaus gekauft habe, als ich noch ein Teenie war. Mit dieser Gitarre habe ich all unsere Songs aufgenommen, einschließlich der Nummern auf Collateral Damage. Die Gitarre, die ich für einen wohltätigen Zweck versteigern ließ, was ich anschließend sehr bereut habe.
Sie steckt immer noch in ihrem alten Koffer, mit meinen Fugazi- und K-Records-Aufklebern drauf, und sogar die Aufkleber der Band von Mias Dad sind noch da. Alles ist, wie es war, der Gurt, die Delle, die daher stammt, dass ich sie mal von der Bühne habe runterfallen lassen. Selbst der Staub riecht irgendwie vertraut.
Ich kann es kaum glauben; deshalb dauert es ein paar Sekunden, ehe ich es vollkommen begriffen habe. Das hier ist meine Gitarre. Mia hat sie. Mia war es, die meine Gitarre gekauft hat, zu einem horrenden Preis vermutlich, und das bedeutet, dass sie wusste, dass meine Gitarre zur Auktion stand. Ich sehe mich um. Neben den ganzen Notenblättern und dem Cellozubehör liegt da ein Stapel Magazine, von deren Covern mein Gesicht grinst. Und auf einmal erinnere ich mich an etwas auf der Brücke: Als Mia sich dafür rechtfertigen wollte, dass sie mich verlassen hat, da hat sie aus dem Song »Roulette« zitiert.
Plötzlich kommt es mir so vor, als hätte ich die ganze Nacht Ohrstöpsel getragen, die endlich rausgefallen sind, und alles, was vorher noch gedämpft klang, ist nun klar und deutlich zu hören. Leider ist es aber auch viel zu laut und nicht ganz harmonisch.
Mia hat meine Gitarre. Die Sache ist ganz einfach, und trotzdem hätte ich nicht überraschter sein können, wenn Teddy plötzlich aus dem Schrank gesprungen wäre. Mir ist schwindelig. Ich muss mich setzen. Mia steht direkt vor mir und hält die Gitarre am Steg fest. Sie hält sie mir hin.
»Du?«, ist alles, was ich keuchend hervorbringe.
»Klar ich«, erwidert sie schüchtern, aber sanft. »Wer denn sonst?«
Mein Gehirn hat sich von meinem Körper verabschiedet. Meine sprachlichen Fähigkeiten sind momentan auf das Wesentliche reduziert. »Aber … warum?«
»Irgendjemand musste sie ja wohl vor dem Hard Rock Café retten, oder?«, meint Mia lachend. Doch das Zittern in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.
»Aber …«, wie ein Ertrinkender klammere ich mich an die rettenden Worte. »… du hast doch gesagt, dass du mich gehasst hättest.«
Mia stößt ein tiefes, langgezogenes Seufzen aus. »Ich weiß. Ich musste doch irgendjemanden hassen, und du warst derjenige, den ich am meisten liebte; deswegen fiel die Wahl auf dich.«
Sie hält mir wieder die Gitarre hin und bedeutet mir, sie endlich zu nehmen. Sie will, dass ich sie nehme, aber ich könnte im Moment nicht mal einen Wattebausch halten.
Sie starrt mich weiter an, hält sie mir weiter hin.
»Und was ist mit Ernesto?«
Ein Ausdruck der Verwunderung tritt auf ihr Gesicht, gefolgt von einem amüsierten Grinsen. »Er ist mein Mentor, Adam. Er ist verheiratet.« Sie blickt eine Sekunde lang zu Boden. Als sie wieder aufschaut, hat sich ihr Ausdruck erneut verändert. »Und außerdem, was geht dich das eigentlich an?«
Geh doch zurück zu deinem Geist, höre ich Bryn mich anbrüllen. Doch sie liegt völlig daneben. Bryn ist diejenige, die mit einem Geist gelebt hat – dem Geist des Mannes, der nie aufgehört hat, eine andere zu lieben.
»Es hätte nie eine Bryn gegeben, wenn du nicht beschlossen hättest, mich hassen zu müssen«, erwidere ich jetzt.
Mia lässt sich nicht beirren. »Ich hasse dich nicht. Ich glaube nicht, dass ich das jemals getan habe. Es war nur Wut. Und als ich mich dieser Wut einmal gestellt hatte, als ich sie verstanden hatte, da verschwand sie wieder.« Sie blickt zu Boden, atmet tief durch, und als sie ausatmet, kommt es einem Tornado gleich. »Mir ist klar, dass du so was wie eine Entschuldigung erwarten kannst; ich versuche schon die ganze Nacht, es hinter mich zu bringen, aber diese Worte – Verzeihung, Entschuldigung –, sie scheinen mir irgendwie nicht angemessen für das, was du eigentlich verdient hättest.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich weiß, dass das, was ich dir angetan habe, alles andere als in Ordnung war, doch damals hatte ich das Gefühl, dass ich nicht anders würde weiterleben können. Keine Ahnung, ob das einen Sinn ergibt, aber es war nun mal so. Wenn es dich irgendwie tröstet: Nachdem es mir nicht mehr notwendig schien, dich zu hassen, nachdem es sich plötzlich als kapitaler Fehler entpuppte, da blieb mir nichts als schmerzliche Reue, und ich vermisste dich so sehr. Doch ich konnte dich nur noch aus der Ferne beobachten, konnte dir zusehen, wie du deine Träume verwirklichtest und wie du dieses scheinbar so perfekte Leben führtest.«
»Es ist kein bisschen perfekt«, sage ich.
»Inzwischen hab ich das auch kapiert, doch woher hätte ich das denn wissen sollen? Du warst so unglaublich weit weg von mir. Das hatte ich akzeptiert. Ich hatte akzeptiert, dass das die Strafe war für das, was ich getan hatte. Und dann …«, sie lässt den Satz unvollendet.
»Was dann?«
Sie schnappt nach Luft und zieht eine Grimasse. »Und dann taucht Adam Wilde plötzlich am wichtigsten Abend meiner Karriere in der Carnegie Hall auf, was mir ganz und gar nicht wie ein Zufall vorkam. Es fühlte sich eher an wie ein Geschenk. Ein Geschenk von ihnen. Anlässlich meines allerersten Auftritts haben sie mir ein Cello geschenkt. Und anlässlich dieses Konzerts haben sie mir dich wiedergegeben.«
Sämtliche Haare an meinem Körper haben sich aufgerichtet, ein Frösteln läuft mir über den Rücken.
Schnell wischt sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und atmet tief durch. »Hier, nimmst du jetzt endlich dieses Ding oder nicht? Ich hab sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gestimmt.«
Früher habe ich mir ganz ähnliche Szenen erträumt. Mia, auferstanden von den Untoten, steht direkt vor mir, und sie lebt, tritt wieder in mein Leben. Aber in meinen Träumen lief alles immer so glatt, dass mir klar war, dass sie unmöglich echt sein konnten, und ich konnte es jedes Mal gar nicht mehr erwarten, dass endlich der Wecker klingelte. Deshalb lausche ich auch jetzt, in der Erwartung, dass jeden Moment der Wecker schrillt. Doch nichts dergleichen passiert. Als ich meine Finger um den Hals der Gitarre schließe, merke ich, wie echt sich das Holz und die Saiten anfühlen, und schon bin ich zurück auf dem Boden der Realität. Ich bin plötzlich hellwach. Und sie ist immer noch da.
Sie sieht mich an, sieht die Gitarre an, dann das Cello und die Uhr auf dem Fensterbrett. Da wird mir klar, was sie möchte, nämlich dasselbe, das ich mir schon seit Jahren wünsche. Doch ich kann nicht glauben, dass sie mich nach all dieser Zeit, ausgerechnet jetzt, da uns auch noch die Zeit davonrennt, darum bittet. Trotzdem deute ich ein leichtes Nicken an. Sie stöpselt die Gitarre ein, wirft mir das Kabel zu und dreht den Verstärker auf.
»Kannst du mir mal ein A geben?«, bitte ich sie. Mia zupft an der A-Saite ihres Cellos. Ich stimme die Saite und schlage einen A-Moll-Akkord an. Und als der Ton von der Wand widerhallt, da fühle ich, wie mir die elektrische Spannung über den Rücken flattert wie schon ganz lange nicht mehr.
Ich sehe Mia an. Sie sitzt mir gegenüber, das Cello zwischen die Knie geklemmt. Ihre Augen sind geschlossen, weshalb ich weiß, dass sie es wieder tut; sie lauscht nach etwas in der Stille. Und auf einmal scheint Mia gehört zu haben, was sie hören musste. Die Augen sind offen und auf mich gerichtet, so als hätten sie mich die ganze Zeit angeschaut. Sie nimmt den Bogen zur Hand und deutet mit leicht geneigtem Kopf auf meine Gitarre. »Bist du bereit?«, fragt sie.
Da sind so viele Dinge, die ich ihr gern sagen möchte, und in erster Linie ist es das, dass ich schon die ganze Zeit bereit bin. Doch stattdessen drehe ich den Verstärker auf, angle ein Plektron aus der Tasche und sage einfach nur Ja.