29.

Dieses furchtbare, eindringliche Geräusch will nicht aus meinem Kopf gehen. Es piept in meinen Ohren, dass ich gleich wahnsinnig werde. Ich schlage die Augen auf, um das Geräusch zu orten und liege nicht mehr in meinem Zimmer. Es riecht nach Desinfektionsmitteln, Alkohol und anderen übelriechenden Lösungsmitteln. Lilith sitzt neben mir auf einem Stuhl und blättert in einer Vogue.

»Wo bin ich?«

»Im Krankenhaus, Schatz. Alles in Ordnung. Sie haben dich gecheckt, ist nur eine heftige Gehirnerschütterung, keine Blutungen im Kopf. Frage mich nur, wie du das wieder geschafft hast.«

»Gute Frage. Ich kann es dir nicht sagen.«

»Ich habe dem Arzt erzählt, dass du wohl schlafwandelst und höchstwahrscheinlich die Treppe runtergesegelt bist. Somnambulismus heißt das in der Fachsprache und betrifft nur ein bis zwei Prozent der Erwachsenen. Du bist also eine richtige Rarität. Er hat mir eine Adresse von einem Schlafinstitut gegeben.«

»Ich will nach Hause.«

»Sie wollen dich zur Überwachung noch ein paar Stunden hier behalten.«

»Wie lange?«

»Bis morgen früh, dann hole ich dich ab.«

Ich bin überredet, aber nur weil ich schrecklich müde bin.

 

Am nächsten Tag steige ich in mein frisch bezogenes Bett und bewundere die roten Rosen von gestern, die auf meinem Nachttisch stehen.

»Die Blumen standen vor der Tür, mit deinem Namen drauf«, sagt Lilith und zeigt auf den Strauß. »Und ich dachte, es fühlt sich besser an, wenn du in ein frisch gemachtes Bett steigst, wenn du nach Hause kommst.« Sie holt ein Kärtchen zwischen den Blumen hervor und wedelt damit in der Luft herum. »Soll ich vorlesen?«

Die Frage ist rein rhetorisch, denn bevor ich antworten kann, hat Lilith den kleinen Umschlag bereits aufgerissen und liest vor. Einen Augenblick denke oder hoffe ich, dass die Rosen von Mo sind, aber dann höre ich, wie Lilith sagt: »… dein Yven. Das ist aber sweet«, fügt sie noch überflüssigerweise hinzu.

Ich versuche so zu tun als würde ich mich freuen, aber anscheinend bin ich keine überzeugende Schauspielerin.

»Das ist doch eine nette Geste, Leia. Vor allem nachdem ihr ... du weißt schon was.«

»Ja, das ist es.«

»Ich finde dich undankbar …«

Das ist der Moment, wo ich trotz des Hämmerns in meinem Kopf vor Wut platze. »Warum willst du mich unbedingt mit Yven verkuppeln, Lilith?«, schreie ich sie an. »Warum willst du es erzwingen, dass ich mich in einen Mann verliebe, der mich nicht anspricht?« Mein Ton wird immer schriller. »Bist du so ein opportunistischer Mensch, dass für dich nur Geld eine Rolle spielt? Hängst du dich deswegen an den Hals von Payton? Weil er reich ist? Kapiert ihr nicht, dass ich Yven nicht will? Und falls du jetzt sagst, dass du nur das Beste für mich willst: Erspar es dir, weil man nicht das Beste für eine Freundin will, wenn man sieht, dass sie damit nicht glücklich ist. Wie oft soll ich das noch sagen?«

Lilith zieht die Augenbrauen hoch und geht auf Abstand.

»Sieh mich nicht so überrascht an. Ich habe doch Recht.«

»Glaubst du wirklich, dass ich Payton nur wegen seines Geldes gut finde?«

»Ich weiß es nicht, Lilith, aber du bist ein Mensch, den Geld mehr als alles andere interessiert.«

»Ich bin total verliebt in ihn und sein Geld interessiert mich nicht.«

»Das freut mich für dich, aber dann gönne mir dieses Gefühl doch auch.«

Lilith verdreht die Augen. »Du spielst wieder auf Mo an, nicht wahr? Langsam mache ich mir wirklich ernsthaft Sorgen um dich, Leia.«

»Was soll das jetzt wieder heißen?«

»Du bist in einen Mann verliebt, den du nicht einmal kennst. Du hast ihn jetzt einmal gesehen und angeblich vorher von ihm geträumt. Ein bisschen Auaaua ist das schon.«

»Du hast doch selbst gesehen, dass es ihn gibt.«

»Das hast du gesagt. Ich weiß doch nicht, wie der Mann aus deinen Träumen aussieht, Leia.«

»Und was ist mit dem Bild?« Ich zeige auf den Seiltänzer. »Sieht er nicht aus wie Mo?«

»Kann sein, kann auch nicht sein. Das kann auch jeder andere x-Beliebige mit blauen Augen und dunklen Haaren sein.«

Ich kann dem nichts mehr entgegensetzen. Mir fehlen die Argumente.

«Gerade, weil ich mir für dich alles Glück der Erde wünsche, solltest du dich an etwas Reales halten und dich nicht auf einen Typen stürzen, den du gerade mal einmal gesehen hast und der dazu noch verheiratet ist. Das kann nur in Tränen enden.«

Ihr bestimmender Ton ist wieder etwas sanfter geworden, aber ich bin trotzdem beleidigt und fühle mich auf den Schlips getreten. Sie hat ihre Albträume mit Payton und wie realistisch ihr alles erschien anscheinend schon vergessen. Ich ärgere mich, dass ich sie überhaupt in mein Geheimnis eingeweiht habe und werde in Zukunft kein Wort mehr über Mo verlieren.

Ich nehme die Karte von Yven in die Hand und lese die Zeilen. Er würde sich freuen, wenn er mich zu einem Dinner in das Apartment über den Wolken einladen dürfte. Wie oft wollte er mich schon zum Essen einladen und jedes Mal hatte er sich nicht mehr gemeldet? Ich sehe zu dem Bild, von dem aus Mo mich ansieht und bitte ihn im Stillen, heute Nacht zu mir zu kommen.

 

Neben meinem Bett steht wieder jemand. Genau an der gleichen Stelle wie das letzte Mal. Erschrocken setze ich mich auf und rücke an die Wand. Zu sehr sitzt mir der Schreck des letzten Angriffs noch in den Gliedern. Hastig sehe ich mich um und schätze sofort jede Möglichkeit eines Entkommens ab, doch derjenige steht direkt vor dem einzigen Fluchtweg: Der Treppe.

»Bitte nicht noch einmal …«, sage ich und verberge das Gesicht in meinen Händen. Wenn ich nicht hinsehe verschwindet er vielleicht wieder oder ich wache auf.

»Leia.« Seine ruhige Stimme erfüllt den ganzen Raum.

Nur langsam lasse ich die Hände sinken, weil ich nicht einmal mehr meinem Gehör traue. »Mo?«

»Ja.« Er steht jetzt direkt neben mir und lässt sich auf der Bettkante nieder. Er ist gekommen. Stürmisch falle ich ihm um den Hals und lasse meinen Tränen freien Lauf. In ihnen liegen all die Sorgen, Ängste und der Kummer der letzten Zeit, aber auch das Glück ihn wieder zu haben. Er hält mich fest, ohne ein Wort zu sagen. Erst als ich mich beruhigt habe, hebt er mein Kinn und sieht mich besorgt an. »Was ist passiert?«

Ich wundere mich, dass er nichts davon weiß. Er weiß doch sonst alles, oder ist das unsichtbare Band, das zwischen uns war, zerrissen? »Ich dachte, du weißt immer alles.«

»Nicht immer Leia. Ich habe auch meine Macken.«

Ich erzähle ihm von diesem schrecklichen Albtraum, den Klauen und dem Schlag auf den Kopf. Während ich von dem Traum berichte, fallen mir immer mehr Details dazu ein. Da war ein Verlies. Es roch nach Tod, Exkrementen und Verwesung. »Ich sah diese Frau … oh mein Gott, sie sah aus wie ein Geist. Dünn, nackt und bleich hing sie da und sah mich aus halb toten Augen an. Ihr Mund öffnete sich, als wollte sie etwas sagen, aber es kam nur ein Schwall Schwärze aus ihr heraus.« Allein die Erinnerung an diese arme Frau treibt mir die Tränen in die Augen. Aber da war noch etwas. Jemand flüsterte mir etwas zu. »Dann hörte ich seine Worte in meinem Kopf. Er sagte zu mir … das und noch Schlimmeres würde mich erwarten, wenn ich dich mir nicht aus dem Kopf schlage. Mo?!« Ich sehe in Mos unbewegtes Gesicht und spüre seine Anspannung. »Was hat das zu bedeuten?«

»Das war nur ein Traum, Leia.« Er streicht mir beruhigend über den Kopf, aber sein sorgenvoller Blick sagt mir etwas anderes.

»Ein Traum? So wie die anderen? Ist das jetzt auch ein Traum?« Mein Ton ist gereizt. Ich habe diesen Schwebezustand satt.

»Nein.«

»Mo, ich habe das Gefühl verrückt zu werden. Manchmal bist du so real, dann wieder nicht. Was ist das?«

»Es ist der Dämon in mir, der dich glauben machen lässt, dass du schläfst und es doch nicht tust.«

Das klingt nach höherer Mathematik und ich war immer schlecht in Mathe. »Was?«

»Wo warst du gestern Nacht?«

»Lilith hat mich ins Krankenhaus gebracht, nachdem ich den ganzen Tag gespuckt habe. Sie haben dort eine schwere Gehirnerschütterung festgestellt und meinten, dass ich in ein Schlaflabor gehen sollte, weil ich wohl schlafwandle. Eine andere Erklärung hatten sie nicht dafür, wie ich im Schlaf zu so einem Schlag auf den Kopf gekommen bin.«

Mo sagt nichts, sieht nur stumm auf den Boden.

»Wer oder was war hier, Mo? Du weißt es doch, oder?«

»Liebst du mich, Leia?«

»Ja.« Darüber muss ich nicht zwei Mal nachdenken. »Mo?! Warum kann es nicht immer so sein wie auf der Party, auf dem Schiff … gut, das war nun nicht das beste Beispiel. So soll es natürlich nicht immer sein.« Gott behüte mich vor dem Wasser.

Ich nehme sein Gesicht in meine Hände und sehe ihm in die Augen. »Ich will bei dir sein. So wie Lilith bei Payton ist, so wie andere Paare auch zusammen sind.«

»Du vertraust mir doch, oder?«

»Ja.« Warum zweifelt er nur ständig daran?

»Verdammt.« Mo ist aufgebracht. Mit irgendetwas scheint er nicht herausrücken zu wollen. »Wenn du mich wirklich liebst, dann muss ich dich um etwas bitten.« Er macht eine Pause und reibt sich über sein Kinn. »Nimm die nächste Einladung von Yven an.«

Habe ich richtig gehört? Schon wieder fällt der Name Yven. »Was? Warum? Ich will Yven nicht. Ich will dich.« Ich bin wütend. »Versteht mich denn keiner?« Ich rücke von ihm weg und sehe ihn fragend an.

»Leia ich muss gehen. Das mit uns war alles ein großer Fehler.« Er sieht mich traurig an und Panik steigt in mir auf. Wo kommt dieser plötzliche Sinneswandel jetzt wieder her? »Nein, Mo. Das kannst du nicht noch einmal tun. Ich dachte du liebst mich. Hast du das nicht gesagt? Hast du mich die ganze Zeit verarscht? Du hast gesagt, dass ich dir vertrauen soll.« Die Worte sprudeln über meine Lippen. Ich weiß nicht, ob ich traurig oder wütend sein soll. Ich bin doch kein Spielball.

»Gerade weil ich dich liebe, muss ich gehen, Leia.«

»Mo!« Ich schnelle nach vorne und halte ihm am Arm fest. »Bitte tu mir das nicht an. Ich kann nicht ohne dich in meinem Herzen, in meinen Gedanken und in meinem Leben sein. Hole mich zu dir, wo immer das auch ist. Bitte …«

»Willst du wie diese Frau in dem Verlies enden?« schleudert er mir wütend entgegen.

Wie diese Frau würde ich nicht enden. Das weiß ich. Keine Liebe endet so. »Ich liebe dich und würde alles für dich tun«, sage ich deshalb mit ruhigem Gewissen.

Er küsst mich auf die Stirn.

 

Lockruf Der Nacht
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