23.
Lilith hat täglich Albträume, in denen Payton vorkommt. Er rächt sich an ihr, weil er es vermutlich mit seinem Ego nicht vereinbaren kann, dass eine Frau ihn geschlagen und aus dem Bett getreten hat. Jede Nacht quält er sie. Lilith ist jeden Morgen fix und fertig und schluckt Tabletten, die das Träumen unterdrücken sollen, aber sie nützen ihr wenig, denn Payton ist weiterhin präsent. Er ist ein richtiger Dämon in meinen Augen.
Der Mensch und seine Träume sind so wenig erforscht wie das Universum und das Gehirn, hatte Mara schon gesagt. Es gibt viele Theorien und Meinungen darüber, was mit einem in den REM-Phasen, davor und danach geschieht, aber nichts gibt eine befriedigende Antwort. Da ist die Rede von einer Hypnagogie. Ein Zustand, der beim Einschlafen auftreten kann und einem ermöglicht zu hören, zu sehen und sogar auch zu fühlen. Man ist bei vollem Bewusstsein, träumt, ist aber wach. Obwohl einem bewusst ist, dass man halluziniert, kann man nicht reagieren. Ich habe reagiert, ich bin aktiv und nicht wie man behauptet in meinen Bewegungen blockiert gewesen. Verdammt, es ist alles so kompliziert, vor allem, dass ich keinen Weg finde, zu ihm zu gelangen. Komm zu mir in die Dunkelheit … Immer wieder lese ich den Satz nach dem Duschen an meinem Spiegel oder in meinem Traumbuch, der neben dem bereits vertrockneten Rosenblatt steht. Nur, wie komme ich dorthin?
Meine Härchen an den Armen stellen sich plötzlich auf, denn ein Gedanke nimmt Formen an. Payton. Payton hat sich von seiner bösen dämonischen Seite gezeigt. Was ist, wenn Mo sich nur verstellt hat und mich in den Tod locken will? Und was für eine Rolle spielt Yven in dem Ganzen?
Ich weiß langsam gar nichts mehr und manchmal habe ich das Gefühl den Verstand zu verlieren. Vielleicht habe ich wirklich auch nur Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder bin schizophren. Meine Tante, die Schwester meiner Mom, soll mit zwanzig in eine Nervenanstalt eingeliefert worden und dort gestorben sein. Keiner hat je über ihre Krankheit geredet, nicht meine Mom und auch nicht meine Großmutter. Vielleicht ist diese Krankheit ja vererbbar und ich bin die nächste in der Blutlinie, die davon betroffen ist.
Selten war ich so verzweifelt. Ich weine mich in den Schlaf, träume wirres Zeug und wache mit dicken Augen wieder auf, sodass ich erst einmal eine Stunde zwei kalte Löffel auf meine Augen halte, damit sie abschwellen, bevor ich unter Menschen gehe.
Die Hoffnung liegt in den Nächten und bleibt in jeder Hinsicht unerfüllt. Keine Abenteuer, kein Mo. Manchmal habe ich das Gefühl, dass unsichtbare Arme mich umschließen und mir jemand etwas ins Ohr flüstert. Die Worte sind wie eine fremde Sprache, ich kann sie nicht verstehen.
In manchen schlaflosen Nächten, kletter ich hoch aufs Dach, lege mich dort hin und konzentriere mich nur auf den Himmel, bis er mir ganz nahe erscheint. Ich stelle mir vor, dass er irgendwo da oben ist, eins ist mit der Dunkelheit und auf mich herabsieht. Wenn es regnet, lasse ich das Salz meiner Tränen sich mit dem Regen vermischen, sie davon spülen und mir das Gesicht reinwaschen. Wenn ich dann frierend dort oben sitze, fühle ich mich lebendig.
Der Gedanke, dass er weg ist, ist wie ein inneres Ertrinken und ein haltloser Fall ins Nichts. Nur eines lässt mich nicht ganz aufgeben. Ich habe zwar gefühlt, dass er es nicht so meinte, aber er hatte gesagt, er könne für längere Zeit nicht mehr kommen, das heißt, es wird der Tag oder die Nacht kommen, wo er wieder bei mir sein wird. Mo ist das Problem und die Lösung. Ich werde warten.
Draußen dreht sich die Welt weiter, die Zeit vergeht, nur meine eigene scheint stillzustehen. Es ist schon eigenartig, wie Mo von heute auf morgen mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt hat. Dort, wo vorher Sturm herrschte, ist eine Totenstille eingekehrt. Meine Augen haben ihren unwiderstehlichen Glanz verloren, mein Körper fühlt sich taub an und ich schweige. Anrufe von Bekannten wie Mara oder einer Freundin meiner Mom drücke ich weg, weil ich keine Lust habe zu reden, mich zu verstellen und vorzugeben, dass es mir gut geht. Es gibt für die Menschen um mich herum keinen plausiblen Grund für mein Verhalten, weil er in ihrer Welt nicht existiert hat, deshalb erspare ich mir jede Erklärung.
Meine Besichtigungen, die Kunden und ihre zahllosen dummen Fragen, alles geht mir auf die Nerven.
Lilith versucht noch gelegentlich mich auf eine Party mitzuschleppen, aber ich lehne jedes Mal ab, schiebe fadenscheinige Gründe vor, warum es gerade heute unpassend ist und schließlich gibt sie es auf. Ich kann und will keine Menschen um mich herum haben.
Obwohl Lilith bei mir wohnt, sehen wir uns selten. Wenn sie nach Hause kommt schlafe ich schon oder stelle mich schlafend, damit ich mich nicht unterhalten muss und wenn ich aufstehe, ist sie meist schon weg.
Mit der Zeit verblasst das Bild der Erinnerung von ihm, das Lächeln zerfällt, und das Einzige was mir bleibt ist das Ölbild des Seiltänzers an der Wand, auf das ich jeden Abend einen Blick werfe und ein Stich ins Herz bei dem Gedanken, wie es hätte sein können. Seine Küsse, seine Berührungen … ich kann sie nicht mehr auf der Haut spüren, sie sind wie fortgespült, ausradiert und gelöscht.
Der Sommer beglückt uns mit Wechselbädern. Mal ist es sehr heiß, dann wieder kühl. An kühleren Tagen jogge ich ziellos durch die Gegend, gehe auf Friedhöfen spazieren, fotografiere Daten, Steine, Bäume, Äste und schwarze Krähen. Man sagt, dass Krähen ganz besondere Tiere sind, weil man ihnen das Sprechen beibringen kann. Für die alten Götter waren sie Boten, die die Geheimnisse des Universums erzählten.
An wärmeren Tagen, wenn halb New York draußen ist, sitze ich zu Hause auf dem Sofa, hänge meinen Gedanken nach und sehe am Abend den Wolken zu, wie sie gemächlich aber stet den Himmel zuziehen. Sie sind alle da, bis auf die siebte. Sie fehlt. An den Wochenenden fahre ich manchmal an den Strand und mache ausgiebige Spaziergänge.
Mein Arbeitgeber ist wenig angetan von meiner depressiven Phase, aber auch das interessiert mich herzlich wenig.
Seit Tagen bin ich am Überlegen wegzufahren. Raus aus New York, ab in die Natur. Mir schwebt da eine Klettertour im Gran Canyon vor. Ich bin zwar aus der Übung, aber mit ein bisschen Training komme ich wieder in Form. Letztes Jahr habe ich zwei Climbing Touren mitgemacht. Ich durchforste gerade das Internet nach billigen Flügen, als Lilith nach Hause kommt.
»Hey, seit wir unter einem Dach leben, sehen wir uns weniger als vorher. Schon lustig.«
Sie hat recht. »Wie geht´s dir?«
»Payton hat es aufgegeben mich zu tyrannisieren. Zumindest träume ich nicht mehr von ihm. Hat sich wohl ein anderes Opfer ausgesucht«, sagt sie scherzend.
Lilith sieht auch besser aus als noch vor ein paar Wochen, als die Albträume sie heimsuchten.
»Yven hat mich angerufen.«
»Ah ja?« Als ich das letzte Mal an Yven gedacht habe, war ich ziemlich wütend auf ihn, weil er mich versetzt hatte. Nicht nur deshalb, gebe ich zu, sondern auch weil so viele Fragen offen waren und er der Einzige war, der sie hätte beantworten können. Nun war alles in den Hintergrund gerückt und vergessen und doch spüre ich ein kleines Kribbeln in der Magengegend, das plötzlich wieder auflebt. »Was wollte er denn?«
»Uns auf eine Party einladen.«
»Diese Great Gatsby Party? Ich dachte, die wäre längst vorbei.«
»Sie wurde immer wieder verschoben.« Lilith sieht mich an und ich weiß genau, was sie denkt. Soll sie mich fragen, ob ich mitkomme, wo ich doch so viele Einladungen abgelehnt habe? »Und wann ist sie jetzt?«
»In zwei Tagen.«
»Schon?«
Sie nickt und ein Schatten legt sich auf ihr Gesicht.
»Du überlegst, ob du hingehst, wegen Payton, stimmt´s?«
Wieder nickt sie nur und spielt mit ihren Fingern.
Hatte Yven nicht gesagt, dass es ein Traditionsfest ist? Das würde bedeuten, dass die ganze Familie dort ist. Ein totgeglaubter Schmetterling gibt ein winziges Lebenszeichen von sich und mir einen kleinen Auftrieb. »Wir schlagen beide dort auf. Und du wirst ihn ganz normal begrüßen. Wenn du Angst zeigst, weiß er nur, dass er gewonnen hat.«
»Das weiß er auch so.«
»Ist doch Blödsinn.«
Sie setzt sich neben mich, rückt nah an mich heran und sagt in leisem Ton, als hätte sie Angst, es könnte jemand mithören: »Es waren nicht nur Träume, Leia.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe sie mit großen Augen an.
»Ich bin mir sicher, dass er in meinem Zimmer war. Wirklich, meine ich, also in persona.« Sie schüttelt vehement mit dem Kopf, als könnte sie es selbst nicht glauben, was sie da gerade redet. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber er hat sich dort vor meinen Augen verwandelt.«
Ich lege ihr beruhigend meine Hand aufs Knie. »Lilith, ich habe das Gleiche wie du erlebt, nur anders. Schöner. Erinnerst du dich, als ich dir von Ihm erzählt habe? Jetzt weißt du, was ich meinte.«
Liliths Augäpfel stehen plötzlich zur Hälfte unter Wasser, wie Schiffsbullaugen. Ich habe sie schon aus Wut weinen gesehen oder als meine Mom starb konnte sie ihre Tränen auch nicht unterdrücken, aber noch nie rollten die Tränen aus Verzweiflung, Scham oder Angst.
»Ich bin manchmal einfach saublöd. Tut mir leid. Ich sehe einfach viele Dinge nicht oder will sie auch gar nicht sehen, weil mir das zu abstrakt ist. Ich verstehe nur was von abstrakter Malerei, das wars auch schon.« Sie lacht durch ihre Tränen. »Es tut mir leid, wenn ich dich als Freundin enttäuscht habe.«
»Lass uns dem Feind ins Antlitz sehen«, sage ich entschlossen.
Die Party findet nicht, wie ich angenommen hatte, in den Hamptons statt, sondern auf Rhode Island in Newport. Nicht gerade um die Ecke. Es wird dieses Mal ein längerer Ausflug und dafür steht uns sogar ein Zimmer für zwei Nächte zur Verfügung. Auf der Einladungskarte, die Lilith bekommen hat, steht, dass wir bitte die genaue Ankunftszeit in Newport Flughafen angeben sollen, damit man uns abholen kann. Außerdem Angaben zur Kleidungsetikette: 20er und 30er Jahre. Diese Reichen haben wohl nichts anderes zu tun, als den ganzen Sommer lang Themenpartys in ihren Residenzen zu feiern. »Man wird sogar abgeholt? Aber so schnell bekommen wir doch gar keine Flüge.«
Lilith holt ein Blatt Papier aus ihrer Tasche, entfaltet es und legt es mir hin. Es ist ein Voucher für zwei Tickets von New York nach Newport. »Du hast sie schon gekauft? Aber was wäre gewesen, wenn ich nun Nein gesagt hätte?«
Lilith lacht. »Dann hätte ich mir etwas einfallen lassen. Entführung, Erpressung, Hungerstreik … irgendwie hätte ich dich schon rumgekriegt.«
Ich lache und schüttle den Kopf über meine verrückte Freundin.
»Ist also alles erledigt. Du musst nur dein Köfferchen packen, dir Gedanken um dein Outfit machen und mit mir zum Flughafen fahren.«
»Was bekommst du dafür?«
»Du bist eingeladen.«
»Danke. Ich bin beeindruckt.«
»Bitte, gern geschehen.«
Das Einzige, das ich über Newport weiß, ist, dass die Stadt im 19. Jahrhundert als Sommerresidenz des amerikanischen Geldadels populär wurde und die Häuser dort Schlösser und Burgen gleichen sollen. Ich bin also sehr neugierig, was uns da erwarten wird.
Wir essen nach langer Zeit wieder gemeinsam zu Abend und ich bin froh, dass Lilith da ist.
In der Nacht habe ich einen sehr unruhigen Schlaf. Immer wieder werde ich wach und jedes Mal habe ich das eigenartige Gefühl, dass jemand anwesend ist. Doch es ist nur eine Sinnestäuschung. Ich bin allein.
Am nächsten Tag stehen wir in einem Kostümfundus und suchen uns Kleider und Accessoires für dieses spezielle Wochenende aus. Lilith albert herum, tanzt etwas unbeholfen ein paar Charleston-Schritte mit fliegenden Armen und singt dazu. Als sie die Schuhe dazu sieht, höre ich einen Aufschrei, der durch den ganzen Laden geht. Die Schönsten waren es wirklich nicht gerade zu dieser Zeit.
Es ist das erste Mal seit Wochen, dass ich wieder lache und Spaß habe. Ich kann es kaum abwarten nach Newport zu kommen. Der Gedanke, dass Mo vielleicht dieses Mal auf dem Fest ist und sich outen muss, lässt die Schmetterlinge ziemlich viel Staub aufwirbeln.
Der restliche Tag geht im Zeitlupentempo vorbei. Ich kann nichts mit mir anfangen, probiere nur ein paar Kombinationen meiner geliehenen Kleider aus und laufe wie ein Tiger ruhelos im Käfig hin und her.
Ich bin froh, als es endlich Abend ist und mein Bett ruft.
Auf verschlungenen Wegen bin ich in einem paradiesischen Garten unterwegs. Am Wegrand stehen hohe Bäume, aus denen farbenfrohe, glockenartige Gebilde hängen, Blumen mit seltsamen Tierköpfen, die mir nachsehen und auf den Wegen stolzieren Vögel in bunten leuchtenden Gefiedern. Ich habe einen riesigen Schirm aus großen Palmwedeln in der Hand und lasse mich wie die haarigen Flugschirme einer Pusteblume vom Wind immer wieder ein zwei Meter in die Höhe heben. Laufen, fliegen, laufen, fliegen. Das mache ich eine ganze Weile, bis ich zu einem Teich komme, an dem eine Frau steht, die ein paar weiße Vögel füttert. Es ist meine Mom. Sie sieht so jung und hübsch aus. Ich nehme eine Hand voll Körner aus ihrem Korb und helfe ihr beim Füttern. Von überall kommen jetzt Vögel angeflogen und landen vor uns im Wasser. Einer davon ist pechschwarz.
»Dort, wo du hin willst, ist kein Licht, sondern nur Dunkelheit, Leia.«
»Wie meinst du das?«
Doch sie antwortet mir nicht. Sie singt nur vor sich hin und füttert weiter die Vögel.
»Mom?!«
Draußen ist es noch stockdunkel und totenstill. Plötzlich verdunkelt sich mein Dachfenster für eine Sekunde, nur einen Augenaufschlag. Mein Herz fängt an zu klopfen und kurz darauf höre ich Geräusche unten im Loft. Kann es sein, dass er gekommen ist? Ich schlage die Decke zur Seite und schleiche zur Treppe.
»Hab ich dich geweckt?« Lilith steht in einem weißen Negligé in der Küche und hält den Wasserkocher in der Hand. »Sorry, Schatz, ich konnte nicht schlafen. Ich bin nervös wegen morgen«, entschuldigt sie sich.
Mir geht es nicht anders. Ich gehe runter zu ihr und leiste ihr Gesellschaft bei einer Tasse Tee.